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Viertes Buch.
Der gelbe und der grüne Faden

 

1

Ich blieb unvermittelt stehen und packte meinen Begleiter am Arm. »Lesen Sie doch, Professor!«

Nachdem er einen Blick auf das Plakat geworfen hatte, stürzte der Professor in den Laden. Ich folgte ihm. Der Sohn des Volkes blieb auf dem Gehsteig stehen und sah uns mit aufgerissenen Augen nach.

Braschs Artikel – denn er stammte von Brasch – war kurz.

Er enthielt ausschließlich Tatsachen. Eine Dame in einer Villa in Fredriksberg war gestern spät nachts (in der Redoutennacht) wegen verdächtiger Geräusche erwacht. Da sie überaus nervös war, hatte sie sich das Telefon ins Schlafzimmer legen lassen. Sie beeilte sich, die Polizeistation in der Fredriksbergallee anzurufen. Die Polizei traf ungewöhnlich rasch ein. Kaum fünf Minuten nach der Alarmierung war der Einbruchsdieb gefangen. Er weigerte sich, seine Personalien anzugeben. Er wurde in den Arrest genommen, wo er anfangs dasselbe Schweigen beobachtete. Nach ein paar Stunden verlangte er, dem Kommissar vorgeführt zu werden. Diesem gegenüber suchte er glaubhaft zu machen, daß das Ganze auf einem Irrtum beruhte. Er hatte die Redoute besucht und war »fehlgegangen«. Der Kommissar bedauerte seinen Irrtum, aber er konnte ihn nicht als Erklärung gelten lassen. Bezüglich seiner Person und seines Wohnsitzes blieb der Arrestant auch weiter geheimnisvoll. Am Nachmittag wurde er jedoch von einem Polizisten erkannt. Dessen Annahme, die anfangs mit dem größten Mißtrauen aufgenommen wurde, bestätigte sich schnell. Der Arrestant war kein anderer als der Lektor der chinesischen Sprache und chinesischen Literatur an der Universität. Die Sache war bereits zu weit gediehen, um niedergeschlagen werden zu können. Augenblicklich saß Herr Pitz als Polizeigefangener in Gammeltorv.

Der Professor und ich warfen uns über den Rand unserer Zeitungen Blicke zu. Der meine drückte reines, unverhohlenes Staunen aus. Ich war in vergangener Nacht irgendwo in derselben Gegend eingebrochen, und nun war Herr Pitz meinen Spuren gefolgt. Lastete ein geheimnisvoller Fluch über diesem Stadtteil, der die Leute zwang, Einbrecher zu werden? Eine Mikrobe vielleicht? Oder etwas im Genre von dem berühmten Gas des Dr. Ox? Andrerseits erinnerte ich mich an den kleinen Trick, durch den sich Herr Pitz in den Besitz meines Kostüms gesetzt hatte. Es war nicht ausgemacht, daß er in ebenso hohem Grade wie ich ein Anfänger auf der Laufbahn des Verbrechens war. Was dachte der Professor? Er hatte ja am Abend vorher ein gewisses Interesse für Herrn Pitz bekundet.

Der Professor hatte die Zeitung in die Tasche gesteckt; er stand da und sah mich mit einem rätselhaften Lächeln an. Ich las in seinen Augen, daß manche seiner Gedanken mit den meinen identisch waren. Aber wenn ich mich nicht täuschte, hatte er auch noch einige private Ideen, deren Natur mir unbekannt war.

Plötzlich nickte er dem Zeitungsverkäufer zu und zog mich auf die Straße hinaus.

»Ihr Bekanntenkreis beginnt mehr und mehr homogen zu werden«, bemerkte er.

»Was meinen Sie?«

Er deutete mit einem Nicken auf den Sohn der Hütte, der geduldig auf dem Gehsteig auf uns wartete.

»Zuerst Sie, dann er, dann Herr Pitz«, erklärte er. »Liest Herr Pitz Kollegien an der Universität hier in Kopenhagen? In diesem Falle gibt es ein lateinisches Sprichwort, wie viele Personen zu einem Kollegium gehören.«

»Was wird jetzt aus Ihrem Besuche bei Herrn Pitz?« fragte ich, um das Gesprächsthema zu wechseln.

Er antwortete nicht auf meine Frage. Dafür schlug er unserem Befreier auf die Schulter.

»Sagen Sie«, sprach er, »haben Sie Lust zu einem Geschäft? Sie werden dabei nicht zu kurz kommen.«

»Ein Geschäft? Was meint der gnä' Herr?«

»Als Sie vorhin zu uns heraufkamen«, erläuterte der Professor, »hatten Sie ein sehr praktisches Schlüsselbund bei sich.«

Der Haustürenöffner unterbrach ihn ernstlich gekränkt:

»Ich bitt schön, gnä' Herr, ich bin nur kommen, weil der andere Herr gewünscht hat: Komm heute herauf, Jensen, und wann ich nicht daheim bin, so geh nur hinein, und wie ich läut und niemand macht mir auf –«

Ich merkte, daß er schon Mythen um sein Erlebnis zu spinnen anfing. Der Professor unterbrach ihn mit dem faszinierendsten Lächeln.

»Aber, lieber Freund, glauben Sie, ich beklage mich, daß Sie gekommen sind? Im Gegenteil. Ich werde nie vergessen, welchen Dienst Sie mir und meinem Freund erwiesen haben. Übrigens gehen wir doch ein bißchen hier hinein.«

Er lotste uns in ein kleines Gasthaus, an dem wir gerade vorübergingen. Es kam Whisky, ein Getränk, das unseren Befreier mit Respekt erfüllte. Der Professor trank ihm zu und fuhr fort:

»Nein, ich werde nie vergessen, was Sie für uns getan haben. Ich habe mich irrtümlich ausgedrückt, als ich fragte, ob Sie Lust zu einem Geschäft haben. Ich hätte sagen sollen: haben Sie Lust, mir eine große Freude zu bereiten?«

»Eine große Freude?« Unser Befreier sah ihn verständnislos an.

»Jawohl. Aber trinken wir erst einmal! Ja, ich möchte so gerne eine Erinnerung an diesen Tag haben. Hätten Sie nicht Lust, mir dieses Schlüsselbund, das Sie heute bei sich hatten, zu verkaufen?«

»Verkaufen – meine – meine – –« Unser Befreier stellte das Glas nieder und sah den Professor an.

»Ja. Wollen Sie nicht?«

»Was meint der gnä' Herr? Nicht um die Welt! Man verkauft doch seine Schlüssel nicht so schlankweg.«

»Hm, aber wissen Sie nicht, wo ich die gleichen bekommen kann? Ich will ein Andenken an diesen Tag haben.«

»Hahaha! Was will denn der gnä' Herr damit anfangen?«

»Das habe ich Ihnen ja klargemacht.«

»Aber nein!« Der Sohn der Hütte legte das Gesicht in listige Falten. »Dazu braucht sie der gnä' Herr nicht!«

»Wozu brauche ich sie denn sonst?« Der Professor legte das Gesicht in womöglich noch listigere Falten.

»Das weiß unsereins schon, haha!«

»Hm. Ja so – na ja, die Sache ist die, daß ich die Schlüssel zu meiner Wohnung verloren habe. Und es dauert so lange, bis ein Schlosser kommt, darum –«

»Hahaha! Was gibt mir der Herr für die Schlüsseln?«

»Was wollen Sie haben?«

»Na, der Herr sieht nobel aus – na, 75 Kronen werden doch nicht zu üppig sein – sind sehr schöne Schlüsseln.«

»Sagen wir zweihundert, dann verlieren Sie nichts.«

Der andere starrte ihn an.

»Meint der Herr wirklich?«

»Das meine ich. Bar auf den Tisch – bitte, sehen Sie.«

»Das muß aber eine feine Wohnung sein, dem gnä' Herrn seine.«

»Ist es auch.«

»Der Herr hat's gut. So'n armer Teufel wie unsereins –«

»Wollen wir sagen, daß Sie hundert Kronen extra zum Dank für Ihre Gefälligkeit bekommen? Ist die Sache jetzt in Ordnung?«

»Bitte sehr!«

Das Schlüsselbund flog aus den Kleidern unseres Befreiers. Dann hatte er seinen letzten Anfall von Bedenken.

»Beim gnä' Herrn ist doch alles in Ordnung? Was?«

»Wie meinen Sie?«

»Der gnä' Herr hat nichts mit denen da zu schaffen?«

Die Betonung auf »denen« ließ keinen Zweifel, welche Gesellschaftsklasse gemeint war.

»Den Spitzeln? Sind Sie verrückt? Nein – aber warten Sie jedenfalls noch ein Weilchen, bevor Sie sich neue Schlüssel anschaffen. Glauben Sie nicht, daß das klüger ist? Prost!«

»Prost! Ja, besser wär's schon, und jetzt hat man ja 'n bißchen Kies –«

Das Schlüsselbund verschwand in der Brusttasche des Professors. Ein paar Minuten später verließen er und ich das Lokal.

Unser Befreier schien fest entschlossen, die drei Hundertkronennoten privatim anzufeuchten. Ich hatte eine gewisse, nicht unnatürliche Zuneigung zu ihm gefaßt, und es freute mich, daß der Professor ihn durch den Ankauf seiner Instrumentensammlung für die nächste Zeit von allen Versuchungen befreit hatte. Ich wollte eben dem Professor für seine Fürsorge danken, als er mir zuvorkam, indem er sagte:

»Wie steht es mit Ihrem Appetit? Ich vermute, genau so wie bei mir. Essen wir einen Bissen zusammen! Zu solide darf es nicht sein, denn später will ich in die Wohnung hinauf, von der wir vorhin sprachen.«

»In die Wohnung hinauf?« stotterte ich. »Welche Wohnung? Meine?«

»In die Wohnung von Herrn Pitz«, sagte der Professor. »Ich habe mir eben die Schlüssel dazu gekauft. Was meinen Sie zu diesem Kaffeehaus?«


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