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6

Nachdem Laplace uns verlassen hatte, war die Aussicht zu dem Professor frei. Es fing an zu tagen. Soweit ich beurteilen konnte, mochte es ungefähr sechs Uhr sein. Ein Blick auf den Professor genügte, mich zu überzeugen, daß er ebenso hilflos dalag wie ich.

Aber schon, daß der furchtbare Franzose fort war, verschaffte mir eine Erleichterung, die an Ausgelassenheit grenzte. Eigentlich war es wenig berechtigt. Ich mußte mir selbst gestehen, daß Laplace seine Arbeit gut gemacht hatte … Freilich war ich nicht so gebunden, daß ich weder Hand noch Fuß rühren konnte wie die Opfer in meinen Romanen; ich konnte sowohl Hand wie Fuß bewegen, ein ganz klein wenig zwar nur. Aber bei jeder solchen Bewegung schnitt das Segelgarn – ich hatte eine Menge liegen, das ich für Pakete verwendete – in unsagbar häßlicher Weise ins Fleisch. Das Schlimmste war aber doch der Knebel.

Wer nie einen Knebel im Munde gehabt hat, kann sich keine Vorstellung von dem niederträchtigen Gefühl machen, das sich in den Kinnbacken bemerkbar macht, oder dem unsagbar faden Geschmack, den so ein Knebel hat. Der meine bestand ganz einfach aus zwei alten Taschentüchern. Ich konnte den Zipfel des einen unter meiner Nase sehen. Dieser Zipfel verriet mir, daß es meine eigenen waren, die zur Verwendung gelangt waren. Ich fluchte dem Augenblick, in dem ich sie gekauft hatte. Ich war bereits so durstig, daß ich unter anderen, glücklicheren Verhältnissen hätte schreien mögen. Aber sogar dieser Linderung beraubte mich der Knebel. Ich konnte ein dumpfes Stöhnen durch die Nase hervorbringen, das war alles, was in meiner Macht stand, um meine Gefühle auszudrücken. Es ist möglich, daß es ein solcher nasaler Protest war, der zum ersten Male den Blick des Professors auf mich lenkte.

Bis jetzt hatte er nur dagelegen und zur Decke hinaufgestarrt. Daran gab es keinen Zweifel, denn seit Laplace gegangen war, hatte ich keinen Blick von ihm verwandt. Er hatte sich auf die linke Seite gerollt, vermutlich um seine rechte Hand zu schonen. Die Schnüre liefen nach allen Richtungen, kreuz und quer, über ihn hin. Nun drehte er den Kopf in meine Richtung. Merkwürdigerweise trat ein Ausdruck der Erleichterung in sein Gesicht, als er mich erblickte. War er froh, daß wir beide gleich hilflos waren? Das konnte ich nicht verstehen. Oder war er nur froh, überhaupt Gesellschaft zu haben? Nein, plötzlich begriff ich den Grund für seinen Gesichtsausdruck.

Er hatte mich der Mitwisserschaft verdächtigt. Nun sah er, daß ich mich in derselben Situation befand wie er selbst. Und das hatte ihn erfreut. Ich fühlte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. Ich mußte zugeben, daß er Grund gehabt hatte, mich zu beargwöhnen. Aber es schmerzte mich, daß er es getan hatte. Es schmerzte mich tief. Er hatte einen Mut bewiesen, den ich nicht bei mir angenommen hatte. Und ich – nein, mutig war ich nicht gewesen. Freilich war ich hilflos, seit ich Laplace in die Klauen gefallen war, aber immerhin! Ich hätte meine Geistesgegenwart bewahren sollen, ich hätte den Franzosen hinters Licht führen, ihn anlügen, ihm Trotz bieten müssen. Allerdings, er war ungebärdig gewesen wie ein Tollhäusler, und er hatte auch das Mißtrauen eines Verrückten, aber ich hätte es doch versuchen sollen. Ich hätte diesen Brief nicht schreiben dürfen. Es hätte sicherlich eine Katastrophe für mich bedeutet, wenn ich es nicht getan hätte, aber ich hätte auf jeden Fall mit einem Nein antworten müssen. Allerdings hatte ich den Brief so geschrieben, daß der Professor gewarnt sein mußte, und er war ja auch tatsächlich bewaffnet gekommen, aber immerhin – ich hatte mich nicht als Held benommen.

Was versuchte mir der Professor jetzt zu signalisieren?

Er bog den Kopf zurück, wie er da lag, schloß die Augen und machte gewisse Bewegungen mit dem Hals. Was hatte das zu bedeuten? Wollte er – nun schlug er die Augen wieder auf und sah mich fragend an, irgendwie mit einem Lächeln in den Augenwinkeln. Plötzlich verstand ich.

Er hatte die Bewegungen nachgeahmt, die man macht, wenn man trinkt. Er fragte mich, ob ich durstig sei. Und ob!

Ich brach in ein mutwilliges Gelächter aus. Ich hatte unseren gemeinsamen Henkersknecht so halb und halb vergessen. Wer nicht das Lachen einer Person gehört hat, die mit einem Knebel versehen ist, kann sich keine Vorstellung davon machen, wie wunderlich das klingt. Ich signalisierte als Antwort auf die stumme Frage ein Ja. Der Professor antwortete mit einem bedeutungsvollen Nicken. Dann stellte er eine neue stumme Frage.

Nachdem er meinen Blick aufgefangen hatte, schaute er zur Decke empor, von dort wanderte sein Blick die Wände entlang, dann fiel er auf das Fenster und auf den Fußboden. Was meinte er? Diesmal konnte ich es nicht enträtseln. Suchte er etwas? Jetzt betrachtete er mich und harrte erwartungsvoll auf eine Antwort. Ich sah ihn verständnislos an. Er wiederholte seine Geste. Abermals blickte er vom Boden zu den Fenstern und von den Fenstern zur Decke. Was in aller Welt mochte er meinen? Vermutlich etwas sehr Einfaches, da er glaubte, es in dieser Weise verständlich machen zu können. Ich dachte nach. Man ist doch Detektivschriftsteller. Was konnte es sein? Boden, Fenster, Zimmerdecke … Blitzartig kam mir die Erleuchtung: er dachte an das Aufräumen! Er fragte mich, ob nicht jemand käme, um bei mir aufzuräumen!

Die Erleichterung, die ich nach Laplaces Verschwinden empfunden hatte, wuchs so stark, daß ich nicht stillzuliegen vermochte. Die Aufwartefrau! Natürlich! Es kam ja jeden Morgen um zehn Uhr eine Putzfrau. Das war eine solide Alte, die im Leben allerhand gesehen hatte, und einiges davon oben bei mir. Diese Erfahrungen hatten sie stoisch gemacht. Nichts konnte den Gleichmut übertreffen, den sie bezeigte, wenn sie die Wohnung über Nacht ohne Möbel vorfand und die Bilder verkehrt aufgehängt. Ein neuer Hausgenosse auf dem Diwan würde ihr keinerlei seelische Erschütterungen verursachen; und wenn sie den Hausherrn und den bei ihm Einquartierten gebunden und mit Knebeln versehen entdeckte, würde sie dies nur als einen originellen Einfall von uns auffassen; wir hätten uns eben zum Spaß gegenseitig gebunden.

Die Aufwartefrau war das erlösende Wort. Ich nickte dem Professor zu und suchte ihm durch zehnmal aufeinanderfolgendes Kopfnicken klarzumachen, daß ich sie um zehn erwartete. Der Professor antwortete mit einem Nicken und begann wieder zur Decke hinaufzusehen, offenbar in Gedanken vertieft.

Wie lange dauerte es noch bis zehn Uhr?

Diese Frage begann mich in einem Maße zu beschäftigen, das ich mir nie hätte vorstellen können. Weder die Rathausuhr noch andere Uhren der Stadt waren in meiner Wohnung zu hören. Ich sah mich gezwungen, die Frage auf eigene Hand zu lösen. Nicht nur mein Gehirn wünschte Gewißheit, meine ganze Person und vor allem mein Hals. Nichts erzeugt größere Ungeduld als die Gewißheit, daß etwas geschehen wird. Solange man nichts erwartet, kann man aushalten; im gleichen Augenblick, in dem wir wissen, daß unsere Qualen ein Ende nehmen, beginnen sie unerträglich zu werden. Darum glaube ich nicht an die ewigen Strafen. Mein Hals, für den der Glockenschlag zehn jetzt die Bedeutung von Sodawasser hatte, war im selben Augenblick überempfindlich geworden. Schon früher hatte ich das Gefühl gehabt, als wäre er mit Sand gefüllt; jetzt war es, als hätte er sich in ein Stundenglas verwandelt, durch das dieser Sand in kleinen Körnchen herabrann, eines nach dem anderen, unerträglich langsam. Jedes Sandkorn war eine Sekunde; aber jedesmal, wenn ich den Blick zum Fenster hob, um zu sehen, wievielmal sechzig solcher Sandkörnchen hinabgeronnen sein mochten, fand ich die Scheiben ebenso mattgrau wie das letztemal.

Wieviel Uhr mochte es gewesen sein, als Laplace ging? Als der Professor kam, war es kaum fünf Uhr. Der Auftritt zwischen ihm und Laplace hatte etwa drei Viertelstunden in Anspruch genommen. Also dürfte es nicht ganz sechs Uhr gewesen sein, als der Franzose verschwand. Von sechs bis zehn Uhr sind vier Stunden; es ließ sich auch denken, daß die Alte früher kam. Im günstigsten Falle hatten wir drei oder dreieinhalb Stunden zu warten. Wieviel von dieser Zeit mochte vergangen sein? Ich grübelte darüber hin und her mit jener Hartnäckigkeit, die nur Fieberkranke oder Leute, die nicht schlafen können, besitzen. Dann geschah ein Wunder, das nicht so wunderlich war: ich schlummerte ein.

Wie lange ich schlief, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß, wer nie mit einem Knebel im Munde geschlafen hat, nicht ahnt, was für ein Gefühl das ist. Bald war der Knebel eine Riesenangel, die mich durch die Lüfte riß, bald wieder war ich ein kleiner Junge, und er war ein Kloß, den ich auf einmal essen sollte, aber an dem ich mich verschluckt hatte. Schließlich wurde er zu einer großen Ladung Sprengstoff, die mir irgendein boshafter Mensch in den Mund gestopft hatte, um mich in die Luft zu sprengen; der Täter lief davon. Ich konnte sein Hohngelächter hören: Ha-ha-ha; der Zünder brannte ab, so daß es zischte: z-z-z-; das Feuer kam näher und näher; brr-brr-brr hörte ich das erste warnende Geknatter der Explosion; in eben diesem Augenblick werde ich durch ein Riesenschnarchen geweckt. Nur wer mit einem Knebel im Munde geschlafen hat, kann sich eine Vorstellung von diesem Schnarchen machen. Ich vibrierte davon noch vom Kopf bis zu den Füßen, als ich aus dem Schlummer auffuhr und dank der Bande, die mir ins Fleisch schnitten, wieder zurückfiel.

Was war geschehen? Daß etwas geschehen war, dessen war ich sicher. Aber was? Ich starrte um mich mit rollenden Augen, die schließlich an dem Professor hängenblieben.

Er hatte sich auf die Seite gewälzt und lag nun da und betrachtete mich. Sein Gesicht trug einen eigentümlichen Ausdruck. Seine Augenbrauen waren hochgezogen, so daß ich fast an Herrn Pitz denken mußte. Unwillkürlich fiel mir ein, daß irgend etwas an seinem üblichen Benehmen fehlte. Was nur?

Es fehlte ein Achselzucken. Er zuckte nur geistig mit den Achseln. Er sah nach der Tür. Kam jemand? Ich horchte, plötzlich starr vor Schrecken bei dem Gedanken, daß es Laplace sein könnte. Doch nein, es kam niemand, vielmehr glaubte ich leise Schritte zu hören, die sich entfernten …

Schritte, die sich entfernten …

Mit einem Male war mir das Verhalten des Professors klar, unheimlich klar. Ein Blick auf das Fenster genügte, um mich zu überzeugen, daß es zehn oder mehr sein mußte. Es war zehn Uhr, und jemand war von meiner Tür fortgegangen … Mit intuitiver Klarheit kombinierte ich diese beiden Tatsachen zu einer Schlußfolgerung: Es war die Aufwartefrau, die fortgegangen war. Die Frau, der unsere ganze Hoffnung gegolten, war gegangen, und nun blieb uns nichts anderes übrig, als dazuliegen und auf den geistesgestörten Franzosen zu warten.

Man fügt sich ungern in das, was man im tiefsten Innern als wahr erkannt hat. In einem Nu hatte ich tausend Proteste gegen den Gedanken erhoben, daß die Aufwartefrau wirklich gegangen sein sollte. Warum sollte sie fortgegangen sein? Sie war es gar nicht gewesen. Vielleicht, daß einer meiner Freunde – ich hielt plötzlich inne. Es war schwer, meine Freunde und den Glockenschlag zehn vormittags im selben Gedankengang zu vereinen. Es konnte nur die Aufwartefrau gewesen sein …

Aber wie konnte sie ohne weiteres gehen? Sie war die Ordnung selber; sie ging nicht, ohne hereinzukommen und alles gut aufzuräumen. Sie war nicht so. Ich plädierte ihre Sache vor mir selbst als Gerichtshof. Nein, sie war zu ordentlich. Es war ihr irgend etwas eingefallen, das sie hier brauchte, Seife oder einen Scheuerlappen oder sonst etwas dergleichen. Wer weiß, vielleicht war sie sogar hinuntergelaufen, um Sodawasser zu holen! Mein Hals gurgelte wollüstig bei dem Gedanken an eine solche Fürsorglichkeit. Sie kam bestimmt gleich wieder.

Sie kam nicht wieder.

Minute um Minute dehnte sich ins Unendliche, als wären sie aus Gummielastikum; sie kam nicht. Ich lauschte und lauschte. Ich hielt den Rücken krumm gebogen und streckte den Kopf vor, um besser zu hören; sie kam nicht. Schließlich war eine Zeit vergangen, die eine halbe Stunde gewährt haben mußte – mir kam sie wie ein halber Tag vor –, und ich sank schlaff auf das Bett zurück. Die Schlacht war verloren. Sie war tatsächlich gegangen. Warum? Das wußten die Götter allein. Aber wenn ich je von diesem Bett aufstand, würde ich schon herausbekommen, warum, und die Alte würde ihren Laufpaß kriegen, daß sie die Treppen nur so hinunterflog. Gehen, gehen, ohne weiteres, sich nicht einmal die Mühe nehmen, hereinzukommen! Hatte man je dergleichen erlebt! Mir traten vor Zorn die Tränen in die Augen. Hier lag man hilflos und dem Tode nahe, obendrein vor Durst sterbend, nur weil eine alte Scheuermadame nicht geruhte, die Nase zur Tür hineinzustecken, wie es ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit war – rasend konnte man darüber werden. Und wie lange mochte es jetzt dauern, bis Laplace kam? Kam, um – was zu tun? Das Schicksal des Professors war besiegelt, wenn er kam, und meines? Ich fühlte einen Stich im Kreuz vor ohnmächtiger Angst. Es konnte kein Zweifel herrschen, daß das Urteil über mich im gleichen Stil ausfiel wie das über den Professor.

Wenn ich irgendwelche Ansprüche habe, vor einem höheren Richterstuhl milder beurteilt zu werden, so gründen sie sich teils auf einige Stunden, die später beschrieben werden sollen, teils auf den Tag, der nun folgte. Stunde um Stunde verging, gleich wahnwitzig langsam. Hie und da zerrte ich an meinen Banden, bis die Schnüre Löcher in die Haut schnitten und der Schmerz mich innehalten ließ. Manchmal schlummerte ich ein, um in der nächsten Sekunde wieder aufzufahren, schlaftrunken und überzeugt, daß ich Laplace die Tür öffnen gehört hätte. Das Fenster wurde heller und heller, bis es sich wieder zu verdunkeln begann. Nebenan im anderen Zimmer hatte der Professor, seit die Aufwartefrau fortgegangen war, daran gearbeitet, sich von seinen Fesseln zu befreien. Es mußte ihm mit seiner verletzten Hand noch mehr weh tun als mir, aber er setzte unverdrossen seine Bemühungen fort. Hie und da warf er mir einen aufmunternden Blick zu, den ich zu schätzen wußte, wenn ich daraus auch keinen Trost schöpfen konnte. Aber seine Anstrengungen waren ebenso fruchtlos wie die meinen, und schließlich sah ich ihn damit aufhören.

Nun war es eine Ewigkeit her, seit die Aufwartefrau gegangen war. Jetzt verdunkelte sich das Fenster deutlich. (Meine Wohnung lag nach Osten.) Abgekämpft und erschöpft, wie ich war, bildete ich mir bei dem Gedanken, daß Laplace kommen würde, ein, Erleichterung zu fühlen. Er hatte versprochen zu kommen; dies würde wenigstens ein Ende nehmen.

Aber es war nur eine Einbildung von mir, daß ich Erleichterung fühlte. Nagle mich ans Kreuz, aber lasse mich am Kreuze leben, sagte Mäcenas. In diesem Augenblick hörte ich ein dreimaliges Klingeln an der Wohnungstür. Es wiederholte sich, einmal, ein zweites Mal. Jemand begann an der Tür zu hantieren. Das Blut schoß mir gewaltsam zum Herzen.

Laplace kam zurück. Warum hatte er geklingelt?


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