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11

Nach dem Tode des Kaisers verstrichen viele Jahre, bis ich entdeckte, daß nicht alle, die mit ihm in Berührung gestanden, denselben Weg gegangen waren wie er. Ich wohnte noch in der Stadt, in die ich um seinetwillen gekommen war; denn wohin sollte ich mich wenden? Mein Vaterland war mir verschlossen, solange die Furchtbare dort herrschte, und das übrige Europa schreckte mich fast noch mehr ab. In der Stadt, in der ich wohnte, hatte ich Ruhe, und was ist wertvoller! Ich hatte auch Arbeit. Ich hatte einen Laden eröffnet, in dem ich Dinge aus meiner Heimat verkaufte, in welche die Weißen über alle Maßen vergafft waren.

Diese Weißen waren von ganz anderem Schlage als die, welche ich bisher getroffen hatte. Sie erinnerten mehr an uns Chinesen, weil sie besser mit Kong-Fu-Tses Lehre von der Menschlichkeit übereinstimmten. Sie waren nicht übermütig, sondern freundlich und guter Laune. Doch sie hatten zwei Fehler. Der eine war ihre Schwatzsucht. Ich habe Personen gesehen, die sich am Wein berauschten, aber dieses Volk berauscht sich an Worten. Der zweite Fehler ist die Unersättlichkeit. Nie hätte ich mir vorstellen können, daß Menschen solche Mengen von Eßwaren verzehren können wie sie. Was von einer einzelnen Person in diesem Lande verbraucht wird, wäre in China für ein Dorf genug gewesen. Es ist nicht zu verwundern, daß sie bei dieser Lebensweise dick werden, die Männer sowohl wie die Frauen. Die Frauen haben nichts von der Anmut der Chinesinnen; sie sind zu rund in den Formen, und ihre Augen sind zu blaugrau, wie die unerträglichen Sommernächte dieses Landes. Sie sind ebensowenig heftiger Gemütsbewegungen fähig, als ihr Land zu Erdbeben oder ihre Flüsse zu verheerenden Überschwemmungen imstande sind. Aber sie sind freundlich, fügsam und fröhlich, und ich habe mich oft von ihnen angezogen gefühlt. Sie ihrerseits haben mich in den Tanzpalästen, in die ich zuweilen ging, geradezu bestürmt.

Jahr folgte auf Jahr. Die drei Trauerjahre für den Kaiser gingen zu Ende. Im vierten oder fünften Jahre geschah es, daß ich von einer unmännlichen Neugierde überwältigt wurde. Ich öffnete den versiegelten Schrein, den ich vom Kaiser erhalten hatte. Was ich sah, ließ mich bei dem Gedanken erschauern, daß dies Laplace und Nevill oder anderen Schurken hätte in die Hände fallen können. Zitternd vor Angst, den Inhalt des Schreins durch meine unwürdigen Blicke entweiht zu haben, versiegelte ich ihn wieder. Noch am gleichen Tage traf ich Vorsichtsmaßregeln, um das Haus gegen Diebe zu schützen.

Daß sie nicht überflüssig waren, dafür erhielt ich einige Wochen später den Beweis. Wen sah ich in meinen Kuriositätenladen treten, wenn nicht den Amerikaner Nevill?

Es war spät nachmittags, im Wintermonat. Ich war niedergedrückt durch das Nebelwetter, das in diesem Lande mit dem Winter eintritt, und mein Herz wurde bleischwer, als ich den Amerikaner sah. Daß seine Anwesenheit nichts Gutes verhieß, begriff ich sofort. Sein Gesicht und seine Redeweise war genau so wie vor fünf Jahren.

»Hallo!« begann er und brach in seiner barbarischen Weise in ein lautes Gelächter aus. »Nett, einen seiner alten Freunde am Leben zu finden!«

»Wo ist der Franzose?« stotterte ich, denn sein Anblick erschreckte mich so, daß ich kaum wußte, was ich sagte.

»Laplace, der arme Kerl weilt noch in China, aber er sitzt in einer engeren Bude als der hier.«

»In China?« wiederholte ich, »er ist noch in China?«

»Freilich«, bekräftigte Nevill mit einem Grinsen. »Der chinesische Staat konnte den Gedanken nicht ertragen, daß er das Land verließ. Sie wissen, wie gastfreundlich er gegen uns Europäer ist, wenn man ihn nur richtig zu nehmen weiß und ein bißchen Begabung hat. Laplaces Begabung bewegte sich nun in einer gefährlichen Richtung. Er lebte nur für Aufruhr und Revolutionen. Gefährliche Sachen, gefährliche Sachen! Er wollte mich mit hineinziehen, aber ich sagte nein. Mein Charakter ist für derlei zu peinlich genau. Übrigens bin ich Laplace nicht böse. Ich schrieb ihm erst heute, daß ich Sie hier gefunden habe. Freilich, weiß Gott, ob der Brief in seine Hände kommt. Nun, macht nichts! Es hat mich eine gottverdammte Mühe gekostet, Sie aufzufinden, das sei zu Ihrem Lobe gesagt. Sämtliche Städte Europas habe ich Ihretwegen durchschnüffelt. Ich begann schon zu glauben, daß Sie Selbstmord begangen hätten, um Seiner Majestät drüben Gesellschaft zu leisten. Schade um ihn. Wäre er am Leben geblieben, er wäre einer der hervorragendsten Trunkenbolde geworden, die ich in der Welt getroffen habe.«

»Schäme dich, das Andenken des Dahingeschiedenen zu schmähen!« rief ich, den Franzosen und alles andere vergessend. »Wage es nie mehr, seinen Namen in den Mund zu nehmen, verfluchter Barbar!«

Nevill grinste wie ein Götzenbild in einem Dorftempel.

»Ja, was denn?« meinte er. »Ich sage nicht ein Wort zuviel. Aber wir können über interessantere Dinge plaudern. In welcher Bank haben Sie das Geld Seiner Majestät angelegt?«

Diese Frage hatte ich erwartet. Trotz meiner Gemütsbewegung hatte ich mir schon zurechtgelegt, wie ich handeln mußte. Ich sah scheu beiseite und sagte:

»Es ist richtig, ich habe eine Summe Geldes für den Erhabenen in Verwahrung.«

»Es gibt keine bessere Person, Geld für einen Toten zu verwalten. Nun, wo haben Sie es angelegt?«

»Das geht Sie nichts an«, erklärte ich.

Mein Widerstand verhinderte, daß sich sein Mißtrauen regte.

»Das Geld gehört dem Himmelsgeborenen.«

»Spielen Sie keine Komödie«, raunzte er. »Das ist eine Sache, auf die ihr euch in China nicht versteht. Da dauern die Komödien drei Tage, und diese hier muß heute zu Ende gespielt sein. Ich gedenke morgen abzureisen, verstehen Sie?«

Er beugte sich drohend vor. Als er dies tat, empfand ich wieder große Furcht vor ihm. Dies machte es mir leicht, mit der Stimme zu zittern, als ich antwortete:

»Ein kleiner Teil des Geldes des Himmelsgeborenen könnte Ihnen vielleicht überlassen werden.«

»Ein kleiner Teil! Der ganze Schmaus, du gelbes Schwein. Ein toter Chinese braucht nichts, und ein lebender kommt mit fünf Dollar im Jahr aus.«

Ich lachte innerlich über den frechen Barbaren. Wie blind macht doch die Gewinnsucht den Menschen! Blinder als die blinden Gaukler auf dem Markte, mit denen die Bauern ihren Spott treiben! Ich sagte mit gespielter Furcht:

»Es ist wahr. Sie waren eine Zeitlang der Freund des Himmelsgeborenen.«

»Das war ich, verlasse dich darauf!«

»Vielleicht würde ich also in Übereinstimmung mit den Wünschen Seiner Majestät handeln, wenn ich Ihnen eine Summe ausbezahlte.«

»Je früher du zu dieser Einsicht kommst, desto besser ist es für dich selbst.«

»Ich habe aber nicht gewagt, das Geld des Kaisers einer Bank anzuvertrauen. Es Hegt in einem Haus verwahrt, das ich für seine Rechnung gekauft habe.«

»Willst du mich prellen, du Bandit!« brüllte Nevill und durchbohrte mich mit seinen Augen.

»Warum sollte ich einen Freund meines Herrn und Freundes betrügen? Das Geld befindet sich da, wo ich gesagt habe. Wir können sogleich hingehen.«

»In deinem eigenen Interesse magst du dir zuerst das hier anschauen«, sagte Nevill, indem er eine große Pistole hervorzog und sie mir unter die Augen hielt. »Vorwärts marsch! Geh voran und mache keine Dummheiten!«

Ohne zu antworten, erfüllt von Angst und gerechtem Zorn, schloß ich die Tür meines Ladens und wies den Weg durch die dämmrigen Straßen. Nevill hielt sich dicht hinter mir. Ich pries innerlich die Götter und meine Vorsorglichkeit, die mich veranlaßt hatten, meine Sicherheitsmaßregeln in des Kaisers Haus zu treffen. Der Elende hinter mir trieb mich vorwärts, wie man einen Ochsen vorwärtstreibt. Haha! Es war fraglich, ob er sich zu dieser Ungeduld beglückwünschen würde. Wie viele Tage mochte es dauern, bis er zur Unterwerfung gebracht war? Neun oder vielleicht zehn, denn er war stark. Ja, er war stark und ich schwach, und doch lachte ich innerlich.

»Mir scheint, du suchst mich zu begaunern, du gelber Teufel«, brüllte Nevill hinter mir. »Sind wir nicht in fünf Minuten da, dann schlage ich dir den Schädel ein.«

»Der geehrte weiße Herr irrt«, erwiderte ich höflich. »Wir sind angelangt. Hier ist das Haus, das ich als Wohnstätte für den Erhabenen gekauft habe. Gefällt Ihnen sein Aussehen?«

»Auf das Äußere pfeife ich. Die Einrichtung will ich begutachten.«

Ich öffnete die Tür und schritt über die Schwelle.

»Kommen Sie und sehen Sie sie sich an, geehrter Herr«, erklärte ich mit demütiger Stimme. »Hier in meines Herrn Haus befinden sich alle seine Besitztümer. Es ist nicht schwer, sie sich anzueignen. Vielleicht« – nun trat Nevill hinter mir ein – »vielleicht ist es schwerer, sie fortzubringen.«

Die letzten Worte hatte ich mit erhobener Stimme ausgesprochen, aber meine Stimme war nicht stark genug, um den Schrei zu übertönen, den in diesem Augenblick Nevill ausstieß. Obgleich er sofort erstickt wurde, beeilte ich mich doch, die Tür nach der Straße zu schließen, damit nicht einer der neugierigen Einwohner dieses Landes etwas hörte.

Aber ich hatte Nevill nicht getötet.


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