Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Tufu, der anmutreichste unserer Dichter, hat irgendwo gesagt:

Die Menschen all ihr Leben lang
Ewig einsam wandern.
Den hohen Sternen gleicht ihr Gang.
Nicht trifft der eine den andern.

Diese Worte sind von einer verehrungswürdigen Wahrheit.

Nach Nevills Besuch verstrich Jahr für Jahr, ohne daß ich jemanden traf.

Der Amerikaner hatte mich durch einen Zufall entdeckt. Das wußte ich von ihm selbst. Erst nach vielen, vielen Jahren kam ich auf die Idee, daß es nicht durchaus ein Zufall sein brauchte, der ihn geleitet hatte.

Ich hatte drei Botschaften an den Erhabenen abgesandt. Diese Botschaften hatte er nie bekommen, denn bevor die eintrafen, hatte er bereits den Drachen bestiegen. Freilich waren sie schwer zu deuten, aber sie konnten doch gedeutet werden. Daß das Kostbarste unter allem Kostbaren im Palast verschwunden war, mußte auch ruchbar geworden sein. Wenn nun jemand das Geheimnis der Botschaft enträtselt hatte? Es gab Nächte, in denen dieser Gedanke mir keine Ruhe ließ. Mitten in der Nacht konnte ich mich aus dem Zimmer hinter dem Laden, in dem ich schlief, in das Haus des Kaisers begeben, um zu untersuchen, ob dort alles in Ordnung sei.

Die Jahre gingen immer rascher dahin, und die Stadt veränderte sich. Die Häuser, die man baute, wurden größer und immer größer, die Menschen auf den Straßen immer zahlreicher, und an Stelle der Pferde kamen schreiende, heulende Teufelswagen, die Gestank um sich verbreiteten. Auch rings um des Kaisers Haus entstanden neue Häuserviertel, aber niemand störte mich. Ich merkte, daß ich alt zu werden begann. Und noch immer eilten die Jahre weiter.

Es war an einem Tage im neunten Monate dieses Jahres, als ich entdeckte, daß die Botschaften, die ich vor neununddreißig Jahren abgesandt hatte, der Vernichtung entgangen waren und daß das Gut des Kaisers sich in Gefahr befand. An diesem Tage begannen sich die seltsamen Ereignisse abzuspielen, die zur Vernichtung der Bestrebungen so vieler Jahre führten.

Ich hatte an diesem Morgen den Besuch eines meiner besten Kunden, eines Mannes, den ich tief verachtete. Er schnaufte, wenn er sich bewegte, wie einer der neuen Teufelswagen, von denen er nicht weniger als drei besaß. Um sie zu unterscheiden und um noch mehr Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er jeden mit verschiedenen Hupen ausgestattet. Einer von ihnen ahmte den Husten nach, der die Lungenkranken verzehrt, ein anderer das Heulen eines überfahrenen Hundes, der dritte das Lachen der Teufel in einem Schauspiel. Wie er sagte, bekannte er sich zum Buddhismus. Diese Religion hat in letzter Zeit viele Anhänger in Europa gefunden.

Gerade, als dieser Mann im Fortgehen war, kam jemand heran und betrachtete die Auslage meines Geschäftes. Der Buddhist sagte zu mir:

»Dies ist ein Mann, der Sie interessieren muß, Herr Sung. Er hat Ihre Sprache studiert und spricht sie fließend.«

»Wer ist er?« fragte ich.

»Ein sehr gelehrter Mann. Man behauptet, er habe so viel studiert, daß er übergeschnappt sei. Er unterrichtet an unserer Universität. Hat er Sie noch nie besucht?«

»Nie.«

»Sie können sich geschmeichelt fühlen, wenn er Ihnen etwas abkauft. Er kennt sich aus in dem, was echt ist und was unecht ist. Adieu, Herr Sung. Ich muß an meine Brauerei denken.«

Der Buddhist sauste in seinem Teufelswagen fort, der hohnlachte wie ein Betrunkener. Der Mann von der Straße öffnete die Tür und trat ein. Wir musterten einander einige Augenblicke.

Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, dick und mit listigen blauen Augen. Seine Augenbrauen tanzten auf und nieder wie die Flügel eines Vogels, und sein Mund bewegte sich unablässig. War das ein Gelehrter? Wo war seine Gemütsruhe? Er kam mir vor wie ein Besessener. Plötzlich sprach er mich in meiner eigenen Sprache an, die ich seit Jahr und Tag nicht gehört hatte. Und was mehr war, er sprach sie, als wäre es seine eigene Muttersprache.

»Möchten Sie glücklich werden wie König Wen«, sagte er. »Verzeihen Sie, wenn ich Ihre Ruhe störe. Da ich so schöne Dinge in Ihrem Fenster ausgestellt sehe, vermute ich, daß es nicht allzu vermessen ist, zu fragen, ob sie käuflich sind?«

Ich beantwortete seine Frage, indem ich mich zweimal verneigte. Dabei war es mir jedoch nicht möglich, den Blick von seinem Gesicht abzuwenden, das in ständiger Bewegung war.

»Der Beruf des Kaufmanns«, fuhr er fort, »wird in den klassischen Büchern mit Unrecht verachtet. Wer mit Dingen von solcher Schönheit handelt, wie diesen, ist wahrlich beneidenswert.«

Warum erfüllte mich die Höflichkeit seiner Rede mit Unruhe? Der Fremde begann die Dinge zu untersuchen, die in meinem Laden aufgestellt waren. Von denen waren nicht alle wertvoll, denn was verstehen weiße Personen von solchen Sachen? Und warum sollten sie Besitzer von etwas werden, was besser ist, als sie es verdienen? Solche Dinge legte der Fremde mit einem listigen Lächeln seiner Augen rasch wieder beiseite. Die wertvollen dagegen untersuchte er lange und genau.

Plötzlich wandte er sich mit einem Gegenstand an mich. Es war eine Uhr, so wie sie vor mehreren hundert Jahren aus Europa als Geschenk an die Vornehmen in China gesandt wurden. Ich hatte sie einem Matrosen abgekauft, der mir dreist erzählte, daß er sie in Peking gestohlen hätte. Die Augen des Fremden funkelten, und er fragte:

»Hat diese Uhr eine Geschichte?«

»Ja«, sagte ich, und meine Unruhe machte mich plötzlich redselig, »sie wurde von einem Weißen aus dem kaiserlichen Palast in Peking gestohlen. Das war, als die Weißen den Palast des Kaisers zum zweitenmal plünderten.«

»Zum zweitenmal?« forschte der Fremde.

»In derselben Weise«, erklärte ich, »wie sie es vor fünfzig Jahren in meiner Kindheit machten.«

»Ah, Sie waren damals dabei?«

»Alle flüchteten vor den Barbaren. Aber ich erinnere mich daran.«

»Wer regierte denn damals?« erkundigte sich der Fremde.

»Damals wie zur Zeit der Plünderung regierte dort eine Frau.«

»Ah!« rief der Fremde und verdrehte das Gesicht nach allen Seiten. »War sie es, Tsu-Hsi! War sie es, die große, die weise, die mächtige Mütterliche Tugend? Die ganze Welt erzählt von ihr. Darf ein Fremdling die Frage wagen, ob Sie sie je gesehen haben?«

Der Mann hatte ein Gesicht wie das eines Kindes gemacht, wenn es den Lehrer ansieht. Zum erstenmal seit Jahr und Tag sprach ich meine Sprache. Meine Besinnung verschwand. In einem Strom von Worten, eines Bettlers würdig, begann ich von der Mutter des Kaisers zu erzählen. Er lauschte, die Augenlider niedergeschlagen. Plötzlich warf er mit leiser Stimme ein:

»Haben Sie abermals Nachsicht mit der Unwissenheit eines Fremdlings! Hatte die Kaiserin nicht einen Sohn geboren?«

Von meinem eigenen Wortschwall trunken, antwortete ich:

»Ein edler und unglücklicher Fürst, Seine Majestät Tung-Chih, war ihr Sohn.«

Erst jetzt kehrte meine Besinnung zurück. Warum erzählte ich dies einem Fremden? Da er meine Sprache so fließend sprach, mußte er es wissen. Wußte er es nicht, dann war es nicht meine Sache, ihn darüber aufzuklären. Der Fremdling sah mich mit demselben unschuldigen Gesicht an und wiederholte:

»Es war ein edler und unglücklicher Fürst, sagen Sie?«

»Man behauptet es«, erwiderte ich gleichgültig. »Ich verließ China kurz nach seiner Thronbesteigung. Ich habe es dem geehrten weißen Herrn schon gesagt.«

»Man hat auch andere Dinge behauptet«, meinte der Fremdling und betrachtete mich mit flackerndem Blick. »Man hat behauptet, sogar hier in Europa, daß er ein ausschweifender Mensch gewesen wäre, ein liederlicher Geselle, der die übelsten Viertel der Chinesenstadt aufsuchte. Man hat behauptet, daß er betrunken zu den Morgenaudienzen erschien und kaum rechtzeitig den Palast dazu erreichte.«

»Ein Kaiser hat viele Feinde. Ich weiß nichts von diesen frechen Gerüchten«, betonte ich und beherrschte mich.

»Es wird ferner behauptet, daß er es ganz und gar an der Ehrfurcht eines Sohnes fehlen ließ.«

»Das sind bestimmte, von seinen Feinden ausgestreute Lügen.«

»Sein Tod soll gleichfalls eine Folge seiner Lebensweise sein. Die Ausschweifungen brachten ihn ins Grab. Niemand betrauerte ihn, kaum seine Mutter.«

Zum zweiten Male ließ ich mich verlocken, von der Verschwiegenheit abzuweichen, die ich zu beobachten geschworen hatte.

»Vielleicht werden noch andere Dinge behauptet?« rief ich mit erregter Stimme,

»Ganz richtig«, antwortete der Fremdling. »Es wird gesagt, daß es seine Absicht war, seine Mutter aus dem Wege zu räumen, weil sie vergeblich bemüht war, seinen Lastern Einhalt zu tun.«

Mein Zorn umnebelte nun gänzlich meine Vernunft.

»All dies sind Lügen!« zeterte ich wie ein wütendes Weib. »Nichts als Lügen! Seine Majestät stand in dem Palast unter einem Druck, von dem sich niemand eine Vorstellung machen kann. Er suchte außerhalb des Palastes Trost und vielleicht in schlecht gewählter Gesellschaft. Aber sein Tod wurde nicht durch seine Laster hervorgerufen, und er trug sich auch nicht mit Plänen, seine Mutter ums Leben zu bringen. Sie war es vielmehr, die solche Pläne hegte. Sie hat ihn auch ums Leben gebracht.«

Ich hielt inne, denn ich bereute, was ich gesagt hatte. Der Fremdling beobachtete mich, wie ein Richter den Angeklagten beobachtet.

»Sie wissen viel«, meinte er, »für jemand, der China gleich nach der Thronbesteigung des Kaisers verlassen hat. Wissen Sie, was ich noch erzählen hörte? Es wurde mir gesagt, Seine Majestät habe für den Fall, daß es ihm nicht gelingen sollte, seine Mutter zu beseitigen, seine Flucht ins Ausland vorbereitet. Es heißt, daß er die Schatzkammer plünderte und ihr die kostbarsten Kleinodien entnahm, um sie mit einem Vertrauten vorauszuschicken. Dieser sandte dem Kaiser eine Botschaft, aber als die Botschaft eintraf, war es zu spät. Der Kaiser war gestorben. Wer weiß, wie? Haben Sie nie etwas von diesen Gerüchten gehört?«

»Nie«, erwiderte ich, aber meine Zunge war trocken wie ein Stück Leder. Was war das? Woher wußte er dies? Waren solche Gerüchte wirklich im Umlauf? Lebten sie noch nach all diesen Jahren?

»Ohne Zweifel«, fuhr der Fremde fort, »war die Botschaft des Vertrauensmannes sehr listig abgefaßt. Doch nicht so listig, daß man sie nicht deuten konnte. Was glauben Sie?«

»Nichts«, sagte ich, und es war mir, als spräche ein Fremder durch meinen Mund. »Was könnte ich in einer Sache glauben, die mir vollkommen unbekannt ist?«

Die Augen des Fremden glitzerten wie die eines Wiesels. Ich hatte das Gefühl, als wären meine eigenen Augen offene Fenster, durch die er nach Belieben hereinsehen konnte. Plötzlich tat er etwas, was ich zu allerletzt erwartet hätte. Er verbeugte sich höflich vor mir. Er öffnete die Tür. Mit derselben verbindlichen Stimme wie zu Anfang des Gespräches äußerte er:

»Ich danke Ihnen, Herr Sung, für Ihre Freundlichkeit, sich mit einem unwissenden Fremdling zu unterhalten. Wenn Sie gestatten, komme ich ein andermal wieder, um mein Wissen in Ihrer angenehmen Gesellschaft noch weiter zu bereichern. Leben Sie wohl.«

Er neigte sich und verschwand.


 << zurück weiter >>