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Zweites Buch.
Sung-Chings Memorial

 

1

Im neununddreißigsten Jahre nach dem Jahre, in dem Seine Majestät Tung-Chih den Drachen bestieg, im zehnten Monate und am achtzehnten Tage, beginne ich, Sung-Ching, dieses Memorial. Ich tue es auf Verlangen des weißen Mandarins, der mir das Leben vor den anderen Weißen gerettet hat, und ich habe ihm versprochen, nichts von den seltsamen Ereignissen meines Lebens zu verschweigen. Dieses Versprechen werde ich gewissenhaft zu halten versuchen, denn wem ist man mehr Dankbarkeit schuldig als jenem, der uns die Aussicht auf ein verlängertes Leben schenkt? Ohne das Eingreifen des weißen Mandarins in der Stadt Kopenhagen wäre ich jetzt tot, und für den, der von seiner Familie Abschied genommen hat und keine Söhne oder Enkel sein eigen nennt, die ihm opfern können, ist der Tod nicht angenehm. Und wenn ich nicht nach den Gesetzen der weißen Barbaren getötet worden wäre, so hätte man mich doch sicherlich zu einem Gefängnis von derselben Art verurteilt wie das des Amerikaners Nevill in des Kaisers Haus, und das ist schlimmer als der Tod. Ich bedauere, daß die Notwendigkeit mich zwang, Nevill in diesem Gefängnis gefangenzuhalten, aber was konnte ich tun? Hätte ich ihn freigelassen, so hätte er mich getötet, und der Tod ist unangenehm für den, der seiner Familie Lebewohl gesagt hat und dessen Schatten an den neun Quellen weder Söhne noch Enkel opfern können.

Allein ich merke, daß ich die erste Regel eines guten Schriftstellers überschreite, nur über die Sache zu schreiben, um die es sich handelt. Der weiße Mandarin wird ungeduldig. Ich will meine Geschichte beginnen.

Puh, wie die dicken Barbaren sagen, heute ist ein heißer Tag! Wenn ich die Augen schließe und den barbarischen Straßenlärm aus meinen Ohren verbanne, kann ich mich in meine Vaterstadt an einem Tag des achten Monats versetzt glauben. Ja, ich höre das Getrappel nackter Füße durch den Straßenstaub; ich sehe die Kamele mit Waren bepackt aus den westlichen Wüstengegenden wiegenden Schrittes näherkommen. Zwischen zwei Mauleseln festgebunden, schaukeln sich Sänften, von bewaffneten Männern eskortiert; ich sehe Wasserträger, Bettler, Priester aller Glaubensbekenntnisse, fahrendes Volk, ein Gewühl von Menschen. Ich sehe die Verbotene Stadt vor mir mit ihren grünen und roten Steinmauern. An den Pagoden der Verbotenen Stadt ragt Dach über Dach empor; die uralten Mauern, die sie umhegen, sind von mächtigen Bäumen umschattet; eine warme, staubige Luft schwebt über den Tempeln, von denen die Gongs ertönen. Und wenn ich so die Verbotene Stadt wiedersehe, weine ich bei dem Gedanken an Seine Majestät Tung-Chih, meinen Herrn und Freund, und ich zittere, als wäre ich wieder im Bereiche der Furchtbaren, die mit Unrecht Mütterliche Tugend genannt wurde.

Sie, die Kaiserin-Witwe Tzu-Hsi, war es, die durch mehr denn fünfzig Jahre das Reich nach ihrem Willen lenkte, mit einer Hand, so stark wie die eines Mannes, aber mit einer Schlauheit, welche die aller Männer übertraf.

Wenn ein starker Wille und eine ungezügelte Befriedigung seiner Gebote bewunderungswürdig ist, dann war sie bewunderungswürdig. Die weißen Barbaren bewunderten sie. Mehrere Male führten sie Krieg mit ihr; sie besiegten sie mit den Waffen, aber nur, um sich jedesmal von ihrem Verstand besiegt zu sehen. Über die ganze Welt erstreckte sich ihr Ruf – der Ruf der schönen, der listigen, der grausamen, der unersättlichen Tzu-Hsi. Alles zitterte vor ihr von dem Augenblick an, wo sie nach dem Tod ihres Gatten die Macht an sich riß, bis zu dem Moment, vor nicht allzulanger Zeit, wo sie die Augen schloß. Nur einmal stieß sie auf wirklichen Widerstand, und dieser Widerstand kam von ihrem Sohne Tung-Chih.

Aber ihr Sohn war nur ein Mann, und sie war ein Weib. Von Seiner Majestät Tung-Chih und seinem Versuch der Auflehnung handelt mein Memorial.


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