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2

Ich starrte den Professor an, denn ich glaubte, daß ich mich verhört hätte. Meinte er das im Ernst? Gedachte er, Herrn Pitz' Wohnung auf dieselbe Weise einen Besuch abzustatten wie unser Befreier der meinigen? Hatte er deshalb diesem seine Werkzeugsammlung abgekauft?

Ich blieb auf der Schwelle des Cafés stehen. Er lächelte leise.

»Sie scheinen vor Entsetzen gelähmt«, lächelte er. »Das ist unlogisch, aber begreiflich. Oder lassen Sie mich sagen, begreiflich, aber unlogisch. Was hat Herr Pitz heute nacht Ihnen gegenüber getan?«

»Er hat mich bestohlen – auf Umwegen.«

»Und was hat er später getan?«

»Er ist eingebrochen. Aber warum müssen Sie deshalb –«

»Vielleicht werden Sie das später erfahren. Ich wage es vorderhand noch kaum anzudeuten.«

»Sie gedenken wirklich einen Besuch in der Wohnung von Herrn Pitz zu machen?«

»Genau wie Herr Pitz in der Wohnung der alten Dame, aber, wie ich hoffe, mit einem besseren Ergebnis. Und Sie haben keine Lust? –«

»Mitzukommen? Sind Sie –«

»Warum unterbrechen Sie mich? Glauben Sie, ich würde wagen, Ihnen etwas Derartiges zu unterstellen? Ich wollte nur fragen, ob Sie keine Lust haben, hier mit mir zu essen?«

Ich folgte ihm stumm in das Café. Es war ein kleines Café gegenüber der Glyptothek, in dem ich noch nie gewesen war, in Nischen abgeteilt, wie viele ältere Kaffeehäuser in Kopenhagen. Wir wurden von einem ehrwürdigen Kellner mit Dorschaugen empfangen, und der Professor verlangte von ihm die Speisekarte und einen Adreßkalender.

»Oder kennen Sie Herrn Pitz' Adresse?«

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich hatte eine Menge Fragen über Laplace stellen wollen, die mir schon lange auf der Zunge gelegen hatten, aber ich war im Augenblick zu verblüfft. Der Kellner kam mit der Speisekarte und dem Adreßkalender. Der Professor bestellte eine Omelette, Huhn und eine Flasche Bordeaux für sich selbst und sah mich fragend an. Ich nickte. Wenn ich nur überhaupt zu essen bekam, blieb es mir gleich, was es war. Dann schlug er den Adreßkalender auf.

»Vodroffsvej 11 B«, sagte er. »Wissen Sie, wo das liegt? Ich war schon so lange nicht in Kopenhagen, daß ich das Stadtbild ganz vergessen habe.«

Ich wies mit dem Finger westwärts.

»Das liegt drüben bei den Seen«, sagte ich. »Aber ist es denn wirklich –«

»Es ist mein Ernst. Weinen Sie nicht über mich und meine Kinder, wenigstens nicht vorzeitig. Dieser Mangel an Verständnis von Ihrer Seite schmerzt mich.«

»Ich verstehe, wo Sie hinauswollen. Ich habe gestern nacht eine Dummheit begangen. Aber Sie, ein Detektiv –!«

»Bah!« Er zuckte die Achseln. »Sprechen wir nicht mehr davon. Da sind ein paar andere Dinge, über die ich gern Bescheid wüßte. Sie verließen gestern nacht meinen Tisch, um sich nach Herr Pitz umzusehen. Sie kamen nicht wieder. Sind Sie Laplace sofort in die Klauen gefallen? Und auf welche Weise?«

Ich zögerte einen Augenblick, warf dann aber alle Bedenken über Bord. Ich erzählte das Ganze von Anfang bis zu Ende, und ich sprach auch von ihr und verschwieg nicht, auf welche Art ich dem Franzosen wehrlos in die Hände gefallen war. Der Professor lächelte leicht.

»Das kann man einen Kuß nennen!« sagte er. »Ich beneide Sie, Laplace ist in seinen Methoden nicht sehr draufgängerisch. Nun, ein alter Seeräuber wie er kriegt allmählich ein dickes Fell. Aber ich will Ihre grünäugige Verführerin sehen, ehe sie von hier wegfährt. Und Laplace hatte also gehört, wie Sie Herrn Pitz gegenüber seinen Namen beim Souper erwähnten?«

»Ja, wir hatten das Kabinett neben dem seinigen.«

»Ich kann es mir nicht verzeihen, daß ich ihn nicht erkannt habe.«

»Warum wollten Sie ihn treffen?«

»Komischerweise, um ein Unrecht gutzumachen, das ich ihm zugefügt habe.«

»Sie waren dabei, es heute nacht auf ein Haar mit Ihrem Leben zu büßen.«

»Ja. Und Sie glauben mir vielleicht nicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich ihm trotz alledem nicht böse bin.«

»Hm.«

»Nein, auf Ehrenwort nicht. Ich weiß genug von ihm, um – ah, hier kommt das Essen.«

Wir griffen mit wunderbarem Appetit zu. Ich hätte gern noch mehr von Laplace gehört. Ich wußte noch nicht genug über ihn. Gleichzeitig grübelte ich, wie ich so saß, über meinen Tischgenossen nach. Wer war er? Er sprach Schwedisch wie ein geborener Schwede; konnte er wirklich die Sprache bei einem kurzen Aufenthalt in Schweden so gut erlernt haben? Andererseits war er seinem ganzen Typus nach zu kontinental, um schwedisch zu wirken. Wer war er? Aus der Tiefe meines Bewußtseins tauchten ein paar Worte auf, die Laplace gerufen hatte, als es ihm gelungen war, den Professor zu überwältigen: »Sie hier! Und Sie sind Detektiv geworden!« Hatten sie irgendeinen Sinn? Und was war das für ein Unrecht, das der Professor gegen den Franzosen begangen haben wollte? Der Professor riß mich aus meinen Grübeleien.

»Wissen Sie, worüber ich heute vormittag nachdachte, als ich so dalag?« fragte er.

»Über Laplace, vermute ich.«

»Nein, worüber wäre bei ihm viel nachzudenken? Ich dachte an Ihren Freund, Herrn Pitz, und mit ihm als Ausgangspunkt grübelte ich über China nach. Ich habe mich in freien Stunden ziemlich viel mit China beschäftigt. Ist Ihnen nie aufgefallen, daß die Chinesen an die Insekten erinnern? Sie pflanzen sich allerdings noch als Säugetiere fort, aber es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines schönen Tages damit aufhörten und zu der Methode der Bienen übergingen. Ihre ganze Natur ist insektenartig. Im Vergleich zu uns sind sie gegen Schmerz unempfindlich. Sie arbeiten unverdrossen von der Wiege bis zum Grabe und sind damit zufrieden. Sie denken in erster Linie an den Staat und gehorchen instinktiv. Sie haben keine Religion, wie alle Autoritäten einstimmig bezeugen, namentlich die Missionare, die ihnen eine geben wollen. Wir Europäer denken perspektivisch, und unsere Perspektive liegt vor uns; es handelt sich für uns um die Zukunft und um die unserer Nachkommen. Haben die Chinesen eine Perspektive, so liegt sie rückwärts, bei den Ahnen. Aber ich bin nicht sicher, daß sie eine haben. Sie wissen, daß den chinesischen Bildern die Perspektive fehlt. Ich glaube, daß die Chinesen überhaupt in einer Art zweidimensionalen und mehr oder weniger zeitlosen Welt leben.«

»Ich weiß nicht viel von China«, meinte ich. »Können Sie Chinesisch?«

»Ich kann mich leidlich durchschlagen.«

Etwas von all dem vielen, das ich mir zu fragen vorgenommen hatte, fiel mir plötzlich ein.

»Sagen Sie«, begann ich, »Sie haben kein Wort über den Brief geäußert, den Sie heute nacht bekommen haben?«

»Nun weiß ich ja, wie es zuging, als er geschrieben wurde.«

»Ja, aber wissen Sie, wie es zuging, als er abgeschickt wurde?«

»Er wurde durch einen Boten geschickt, nicht wahr?«

»Ja, aber durch was für einen Boten? Ist Ihnen das nicht aufgefallen?«

»Nein.«

»Durch einen Chinesen.«

»Einen Chinesen?«

»Laplace hatte seinen chinesischen Diener, der ihn zu mir begleitet hatte. Ihn schickte er mit dem Brief zu Ihnen.«

»Wirklich? Es war so dunkel, daß ich den Boten gar nicht beachtete. Er trug jedenfalls einen europäischen Mantel. Aber ich merke, daß es bei Laplace doch Dinge gibt, die Anlaß bieten, über ihn nachzudenken.«

»Für mich eine Unzahl.«

»Vielleicht werden Sie später darüber Klarheit bekommen. Ich habe jetzt keine Zeit, Ihnen zu erzählen, was ich weiß, und, aufrichtig gesprochen, weiß ich nicht alles. Aber ich ahne es. Das Huhn sieht vortrefflich aus.«

»Mir scheint, Sie sind ein ebenso großer Feinschmecker wie Herr Pitz«, sagte ich.

»Soso? Ist er ein Feinschmecker?«

»Er sprach nur vom Essen.«

»Er erzählte Ihnen nicht, wie er wohnt?«

»Nein.«

»Nun, dann muß ich es auf eigene Faust erforschen.«

Ich zuckte zusammen. Ich hatte diese Pläne schon fast wieder vergessen gehabt.

Es war halb neun Uhr, als wir mit unserer Mahlzeit fertig waren. Wir hatten sie mit Kaffee beschlossen, aber ohne Likör. Der Professor winkte dem Kellner.

»Jetzt?« murmelte ich. »Es ist noch nicht neun Uhr. Gedenken Sie wirklich –«

»Ja, alle Stunden sind gleich gut, wenn die Wohnung leer ist. Und davon werde ich mich auf dieselbe einfache Weise überzeugen, wie unser Freund es bei Ihnen getan hat. Bitte – es stimmt schon.«

Der Kellner verbeugte sich, so tief sein Bauch es zuließ. Der Professor erhob sich und sah mich lächelnd an.

»Ist irgendeine Kirche hier in der Nähe«, fragte er, »in die Sie gehen können, um für mich zu beten? Ich bilde mir ein, das würde besser wirken, als wenn Sie es hier im Café tun.«

»Ich sehe, daß Sie mich für ungewöhnlich naiv halten«, versetzte ich. »Aber abgesehen von der Moral ist Ihre rechte Hand verletzt.«

»So muß ich eben mit der linken kämpfen wie die Spartaner.«

Ein plötzlicher Impuls ließ mich aufspringen.

»Wenn Sie es nicht vorziehen, mich in einer Kirche zu haben«, sagte ich, »so …«

»Aber, Herr Hegel!«

»Wenn Sie es nicht direkt vorziehen, so halte ich es für meine Pflicht, als älter im Fach …«

Der Professor unterbrach mich lachend.

»Was glauben Sie, wird morgen um diese Zeit in der ›Extrapost‹ stehen?« meinte er.


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