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4

Über den Detektiv Mr. Graham wußte ich bis zur Mittagsstunde des nächsten Tages nichts weiter, als was Brasch in der Bodega erzählt hatte.

Der Schlaf ist ein launenhafter Zensor. Von meinen nächtlichen Erlebnissen hatte er zwei Drittel gestrichen, als ich am anderen Morgen die Augen aufschlug. Mein Kopf war schwer und schmerzte bei dem leisesten Versuch, einen Gedanken zu denken. Ich mußte mich Zoll für Zoll vorarbeiten wie Forschungsreisende durch einen Urwald, wenn ich versuchte, zu entwirren, wo ich gewesen und was ich getan, nachdem ich die Bodega verlassen hatte. Drei Situationen standen deutlich vor mir: eine, bei der ich ein erleuchtetes Auslagefenster anstarrte, eine, bei der ich in ein wunderliches Zimmer hineinsah, und eine dritte, bei der ich einen Holzschemel durch die Luft nach jemandes Kopf wirbeln sah. Das übrige war ein Chaos. Ich entsann mich, lange Strecken gelaufen zu sein. Ich entsann mich dunkel eines Gespräches mit einer unbekannten Person, und zutiefst in meinem Hirn lag die Erinnerung an einen unheimlichen Schrei.

Bestand zwischen diesen Erinnerungsfetzen irgendein innerer Zusammenhang? Ich hatte das Gefühl, daß ein solcher Zusammenhang vorhanden war, daß es eine Art Schlüsselwort für sie alle geben mußte. Und plötzlich – aber erst jetzt – flammte ein Wort in meinem Innern auf: Einbruch! Ich hatte einen Einbruch verübt! Ich war in das Haus eines fremden Menschen eingebrochen! Nicht genug damit, ich hatte einen Holzschemel nach ihm geschleudert. Es war möglich, daß er tot war. Und sein Haus war überaus eigentümlich gewesen. Jetzt entsann ich mich blitzartig einer Buddhastatue, zweier Holzspäne, die erloschen, und tiefster Finsternis.

Pah! Es war nicht wahr! Es war der Whisky, der mir das einzureden versuchte, als ob er mir nicht ohnehin schon Unannehmlichkeiten genug bereitete. Ein Mensch wie ich bricht doch nicht ein! Plötzlich erhob sich eine Stimme in mir: Du bist eingebrochen, weil du deine Selbstachtung wiedergewinnen wolltest.

Elendes Geschwätz! Ich bin nicht eingebrochen, und am allerwenigsten aus solch kitschigen Gründen. Eine neue Stimme fragte etwas, das mich sofort zum Schweigen brachte: Wo ist dein Hut? – Mein Hut! Ich sah keinen im Zimmer. Mein Hut war fort, war tatsächlich fort – und gerade als ich das zugestehen mußte, wurde mir eine Bestätigung der Wirklichkeit meiner Erlebnisse zuteil, die ich mir nicht wünschte.

Ich hatte begonnen, mich anzukleiden. Ich zog mir gerade den Rock an. In meiner rechten Tasche spürte ich etwas Hartes. Ich steckte die Hand hinein und zog ein Ding hervor – einen Miniaturbuddha aus grünem Nephrit – schon wieder Buddha.

Ich starrte zornig in das lächelnde Gesicht. War es also wahr? War es keine Whiskyphantasie? Nein, es mußte wohl wahr sein. Wo sollte die Buddhafigur sonst hergekommen sein? Und ich mußte noch etwas eingestehen; wie verwirrt der Zusammenhang zwischen meinen Erinnerungen auch war, die Erinnerungen selbst waren verblüffend deutlich. Ich war also in ein wunderliches, fremdes Haus eingebrochen, wo es nun liegen mochte; ich hatte etwas nach seinem Besitzer geworfen; ich hatte sicherlich eine Menge Fingerabdrücke hinterlassen und obendrein meinen Hut mit dem Monogramm dort verloren und vergessen …

All dies hatte ich getan, um wieder Achtung vor mir selbst zu erringen. Wie prachtvoll! Ja, man verwandelt sich nicht plötzlich aus einem ehrsamen Spießer in einen Abenteurer. Das sah ich jetzt ein. Ich hätte mich befriedigt fühlen sollen, einen Einbruch verübt zu haben, ohne erwischt worden zu sein, aber ich dachte mehr an die Kehrseite der Sache. Einbrüche und Überfälle haben gewisse juridische Konsequenzen. Was mehr ist, diese Konsequenzen ziehen Unannehmlichkeiten nach sich. Je länger ich an sie dachte, desto unbehaglicher kamen sie mir vor. Ich hatte Visionen eines Gerichtssaales und eines Gefängnishofes. Es überlief mich kalt. Ich zog mir den Rock an und ging aus. Vielleicht – flüsterte es in mir, als ich die Treppe hinunterging – waren die Polizisten schon auf dem Wege zu meiner Wohnung.

Ich schlenderte anfangs über den Amager-Boulevard. Was sollte ich beginnen? Sollte ich stillschweigend abwarten, was kommen würde? Ich hatte mich in zehn Büchern über die offiziellen Detektive lustig gemacht, aber jetzt plötzlich war ich nicht sicher, ob ich nicht leicht übertrieben hatte. Je mehr ich die Lage überdachte, desto mehr wurde mir klar, daß ich übertrieben hatte. Wenn man noch so dumm ist, den Einbrecher wird man aufspüren, der seinen Hut mit dem Monogramm und dem Namen des Geschäfts liegenläßt.

Konnte ich etwas tun?

Ich konnte unleugbar zur Polizei eilen und die Geschichte von Anfang bis Ende erzählen. Aber wie würde es gehen, wenn der andere schon dagewesen war? Oder wie würde es gehen, wenn er nicht dagewesen war? Der Polizist würde mich fragen: »Und das Motiv Ihres Einbruchs?« Antwortete ich wahrheitsgemäß: »Sie werden mir vielleicht nicht glauben, aber das Motiv war, daß ich eine Situation erleben wollte, die ich meine Helden erleben lasse« – dann war es wahrscheinlich, daß der Polizist sagte: »Vortrefflich! Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, daß wir Sie hier bei uns behalten. Ihre Helden dürften in dieselbe Situation gekommen sein.« – Nein, ich konnte nicht zur Polizei gehen. Blieb mir also nichts anderes übrig, als darauf zu warten, ob die Polizei zu mir kam?

Es gibt einen Weg, gute Ratschläge zu erhalten, namentlich, wenn einem mit Geld besser gedient wäre: sich an seine Freunde zu wenden. Ich versuchte, mir Gesellschaft zu verschaffen. Vergeblich. In der Bodega weilte niemand. Brasch war nicht in der Redaktion; wo Cz. und der Bildhauer wohnen, weiß kein Mensch. Simon Weel wohnt in einem kleinen Hotel, bei dem man eine Stunde warten muß, bis er zum Telefon gelotst wird; es ist, als müßte er jedesmal aus dem Weinkeller heraufgeholt werden. Diesmal wartete ich eine halbe Stunde vergeblich. Und ich weiß nicht, in welchem Zusammenhang, aber plötzlich fiel mir der Mann ein, von dem Brasch am Abend vorher gesprochen hatte, der Detektiv Mr. Graham.

Dieser Gedanke war wie eine Inspiration. Ich griff danach, wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm. Er war Detektiv und konnte also herausfinden, wo ich den Einbruch verübt hatte. Aber er war kein offizieller Detektiv und brauchte mich also dieser Sache wegen nicht zu verhaften. Und fand ich nun den Mann, bei dem ich eingebrochen war, dann ließ sich die Angelegenheit schon irgendwie bereinigen. Eine Viertelstunde, nachdem mir diese Idee gekommen war, befand ich mich auf dem Wege nach dem Hause, dessen Adresse mir Brasch gegeben hatte, Rosenvaengetsallee 31. Ich kannte das Viertel, es war eines der idyllischsten der Stadt.

Nr. 31 war ein villenartiges Haus in einem großen Garten. Ich klingelte, und ein Mann, offenbar ein Diener, öffnete.

»Mister Graham zu sprechen?«

»Möglich, nicht sicher.«

Würde er meine Karte überreichen? Meine Angelegenheit sei von äußerster Bedeutung für mich selbst.

Er werde es dem Herrn sagen. Er ging. Nach einer Minute kehrte er zurück. Mr. Graham würde sofort kommen. Wollte ich einen Augenblick im Arbeitszimmer warten? Ich wollte es und folgte ihm. Ich habe zu Dutzenden Detektivarbeitszimmer beschrieben. Ich fühlte ein Kitzeln bei dem Gedanken, daß ich mir jetzt endlich eines ansehen durfte. Der Diener führte mich in ein großes Zimmer mit Bücherregalen an den Wänden, einem großen Schreibtisch, einem Rauchtisch und einigen Klubsesseln. Ein Schrank in der einen Ecke schien verschiedene Instrumente zu enthalten. Ich wunderte mich über diese Einrichtung. Nicht so sehr, weil sie so war, sondern weil sie hier war. Brasch hatte doch gesagt, Mr. Graham weile nur auf Ferien hier. Pflegte er auf seinen Lustreisen mit einem solchen Berufsapparat aufzutreten? Ich musterte die Bücherbretter; sie enthielten fast ausschließlich französische Romane. Auf dem Schreibtisch lag ein in Marocain gebundenes Buch mit chinesischem Papier. War das Mr. Grahams Tagebuch? Ich schlich näher heran und schlug die erste Seite auf. Mit Staunen las ich die Inschrift: Extrakt der Adjektiva. Was bedeutete das? War Mr. Graham Philologe? Ich durchblätterte hastig die Seiten. Ich sah eine Sammlung Ausdrücke mit Tusche niedergeschrieben, zwischen jedem eine halbe Seite Zwischenraum: »Dites, je suis bien faite, n'est-ce pas? … Ah, que je suis malheureuse!« Kaum konnte ich das Buch wieder zuschlagen, da wurde der Vorhang zum angrenzenden Zimmer zurückgeschoben, und Mr. Graham stand vor mir. Ich habe mir Engländer immer als magere, sehnige Boxergestalten vorgestellt. Mr. Graham zerschmetterte meine Auffassung durch das Gewicht seiner einhundertvierzig Kilo. Er war imponierend dick. Aber ich sah, daß sein Fett muskulös war; ich bedauerte den Verbrecher, der etwa versuchen wollte, mit ihm ins Handgemenge zu kommen. Seine Augen waren blau und mehr blinzelnd als durchdringend. Alle Detektive in meinen Romanen haben stahlharte Augen. Mr. Graham bat mich, Platz zu nehmen. Ich sammelte meine englischen Kenntnisse und bereitete mich darauf vor, sie anzuwenden, als er mir zuvorkam.

»Sprechen Sie Englisch?«

»Nicht oft«, gestand ich wahrheitsgemäß.

»Es ist gut, Sie brauchen sich nicht anzustrengen. Ich bitte meinen Sekretär herein. Er spricht alle Sprachen.«

Er wandte sich dem inneren Zimmer zu und rief:

»Professor! Wollen Sie einen Augenblick hereinkommen?«

Wieder wurde die Portiere zurückgezogen, und ein Herr von ungefähr sechsunddreißig Jahren trat ein. Der Titel, den mein Wirt anwendete, hatte mich befremdet, und noch verblüffter war ich, als ich die Person sah, auf die er angewendet worden war. Mr. Graham, der Detektiv, war Philologe, und dieser Herr, der wie ein verbindlicher Weltmann aussah, war Professor! Ich schien in eine Akademie geraten zu sein, deren Mitglieder sich unter schützenden Verkleidungen verbargen. Der Professor war von Mittelgröße, er hatte schwarze Haare, schwarzen Schnurrbart, kluge schwarze Augen. Er grüßte und betrachtete mich mit verständnisvollem Lächeln; ich weiß nicht, weshalb ich mir mit einem Male der gestrigen Whiskymengen bewußt wurde. Ich erwiderte seinen Gruß ein wenig verwirrt und fragte:

»Sie verstehen Dänisch?«

»Auch Schwedisch«, erwiderte er.

Ich gebe zu, daß ich die Augen aufriß.

»In jüngeren Jahren habe ich mich eine Zeitlang in Schweden aufgehalten«, bemerkte Mr. Grahams Sekretär erklärend. »Darf ich fragen, was Ihr Anliegen ist? Sie ließen sagen, es sei von äußerster Wichtigkeit.«

»Das ist es auch«, bejahte ich, »wenigstens für mich selbst. Ich habe allen Anlaß zu glauben, daß augenblicklich jemand alles aufbietet, um mich mit Hilfe der Polizei zu finden.«

»Aus welchem Grunde tut er das?«

»Der Anlaß ist, daß ich heute nacht bei ihm eingebrochen bin, kurz nach zwei Uhr.«

Der Professor starrte mich an und sagte langsam:

»Tod und Teufel! Ist es einer von Ihren Freunden?«

»Gewiß nicht. Ich habe keine Ahnung, wer es ist.«

»Mille diables! Darf ich fragen: sind Sie Einbrecher von Beruf? Mister Graham ist vorurteilslos, aber er macht denselben Unterschied wie Leute, die Sportkonkurrenzen veranstalten: er befaßt sich ausschließlich mit Amateuren.«

»Dann brauche ich nicht auf Mister Grahams Unterstützung zu verzichten. Ich bin kein professioneller Einbrecher. Ich kann mich nicht einmal so recht als Amateur bezeichnen. Ich habe meinen ersten wirklichen Einbruch heute nacht verübt.«

»Gestatten Sie mir zu sagen, daß Sie ein bißchen orakelhaft sprechen. Ihren ersten wirklichen Einbruch?«

»Ja, in der Phantasie habe ich nämlich Dutzende hinter mir. Ich bin Sensationsschriftsteller. Mein Name ist Richard Hegel. Sie haben den Namen nie gehört. Er wird nicht in der Literaturgeschichte stehen, und das stört mich auch nicht. Was ich zur Zeit wünsche, ist, daß er auch nicht in die Polizeiakten zu stehen kommt.«

»Aber warum denn? Einem Detektivschriftsteller sollte es eigentlich schmeicheln, darin zu glänzen.«

»Sie haben recht. Aber ich bin ein Mensch mit einer Doppelnatur. In der Phantasie kann ich die mutigsten Dinge vollbringen, aber in Wirklichkeit hapert es mit meiner Courage ganz ungemein. Viele Jahre habe ich wie der erstbeste Bürger gelebt, die übliche Anzahl von Mahlzeiten eingenommen, in passenden Mengen getrunken, Karten gespielt und all das andere. Unterdessen habe ich Bücher geschrieben, und meine Bücher waren voll mutiger Taten. Ich habe oft empfunden, wie unlogisch das ist; aber heute nacht kam mir diese Inkonsequenz in vernichtender Weise zum Bewußtsein. Ich wurde von der tiefsten Verachtung über mich selbst ergriffen. Ich wollte mich rehabilitieren, koste es, was es wolle. Ganz zufällig verirrte ich mich in eine der Alleen im Westen der Stadt. Sie war spärlich beleuchtet. Vor mir stand ein großes Haus, das im Dunkeln lag. Kein Mensch sah mich. Meine Selbstverachtung zwang mich förmlich durch das Gartentor, und Sie wissen ja, ce n'est que le premier pas … Auf die Pforte folgte ein Fenster an der Rückseite des Hauses.«

»Mille diables!«

Der Professor durchbohrte mich förmlich. Schließlich aber sagte er:

»Sie sprechen in vollem Ernst? Das ist nicht etwa ein Ulk mit meinem Chef?«

»Ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, daß es das nicht ist.«

Wieder sah er mich an. Dann meinte er:

»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Sollten Sie möglicherweise gestern mehr als die übliche Menge getrunken haben?«

»Bedeutend mehr. Ich merkte es, als ich durch das Fenster an der Rückseite des Hauses einsteigen wollte.«

Die Brauen des Professors nahmen ihre gewöhnliche Lage wieder ein. Dann runzelte er sie abermals.

»Und wie ist es mit Ihren Erinnerungen an die Nacht? Hat das, was Sie getrunken haben, nicht einigen Einfluß darauf gehabt?«

»Sicherlich. Ich kann mich bei weitem nicht an alles erinnern. Aber die Erinnerungen, die mir geblieben sind, sind leider richtig, dessen bin ich sicher.«

»Es macht nicht gerade den Eindruck, als wäre es Ihnen heute nacht gelungen, Ihren Wunsch zu erfüllen und Ihre Selbstachtung wiederzuerlangen.«

»Es ist nicht so leicht, mit seinen Gewohnheiten zu brechen, Herr Professor.«

Er lächelte über den Titel.

»Nun wohl«, sagte er, »trotzdem Sie getrunken hatten, brachen Sie also durch das Fenster in der Rückseite des Hauses ein?«

»Ja.«

»Mein Kompliment! Ihr Debüt ist anerkennenswert! Erzählen Sie weiter!«

»Ich hob die Fensterscheibe heraus und kletterte durch das Fenster hinein. Ich kam in einen leeren Raum. Das wunderte mich nicht. Von außen sah das ganze Haus leer aus. Aber –«

»Gestatten Sie mir eine Frage!«

»Bitte sehr.«

»Spielten Sie mit – hm – mit irgendwelchen Gedanken an eine regelrechte Ausbeute Ihres Abenteuers?«

»Absolut nicht. Mein Einbruch wurde ausschließlich aus ideellen Gründen unternommen. Als Debüt hätte mir ein Einbruch in ein unbewohntes Haus genügt. Darum wurde ich bedenklich, als es mir gelungen war, die Tür zu öffnen, die aus dem leeren Zimmer führte, das ich zuerst betreten hatte. Der nächste Raum war möbliert und sogar höchst sonderbar möbliert. Die Wände waren mit Behängen bekleidet. Gerade vor mir hing eine Tafel mit einer Inschrift. Sie sah aus wie irgendeine Art Gedenktafel. Daneben stand eine Buddhastatue mit brennenden Lichtern davor.«

»Eine Buddhastatue mit Lichtern davor! Verzeihen Sie – Sie – hm – Sie wissen nicht, wieviel Sie am Abend vorher ungefähr getrunken haben?«

»Ja, ich und ein Freund haben uns in ein paar Flaschen Whisky geteilt. Die eine davon war zwanzig Jahre alt. Das ist nicht wenig. Es ist sogar bedeutend mehr, als ich zu trinken pflege. Und als ich das Buddhabild sah, stellte ich genau dieselbe Überlegung an wie Sie, Herr Professor. Ich schloß die Augen und öffnete sie wieder, um mich zu vergewissern, ob ich nicht etwa träumte. Aber das Buddhabild stand noch immer da. Es waren übrigens keine Kerzen davor, sondern zwei gekreuzte Holzspäne.«

»Ah! … Sind Sie in China gewesen?«

»Nur in der Phantasie. In Wirklichkeit bin ich nicht über Kopenhagen hinausgekommen.«

»Hm. Und dies ist also wirklich kein Versuch, sich mit Mister Graham einen Scherz zu leisten?«

»Auf Ehrenwort, nein.«

Der Professor sah mir eine gute Minute lang in die Augen. Ich machte die Erfahrung, daß seine Augen so durchbohrend blicken konnten, daß einem unbehaglich zumute wurde. Mr. Graham, der kein Wort von dem, was wir sagten, verstanden hatte, runzelte die Stirn, als er den Blick seines Sekretärs sah, und musterte mich voller Ernst. Aber er schüchterte mich nicht ein. Unwillkürlich machte ich innerlich die Bemerkung, daß der Chef der Sekretär hätte sein sollen und umgekehrt. Nachdem er mich eine Minute angesehen hatte, schien der Professor zu einem Resultat gekommen zu sein. Er erklärte unvermittelt: »Weiter, wenn ich bitten darf! Oder ist Ihr Abenteuer schon aus?«

»Es hat noch gar nicht angefangen. Als ich die Tür öffnete und in das Zimmer trat, erloschen die beiden Holzspäne. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Ich betone, daß ich sehr viel Whisky getrunken hatte. Ich muß wohl lange in der Dunkelheit herumgetappt sein. Unterdessen beging ich vermutlich den einzigen Übergriff, dessen ich mir bewußt bin. Denn das hier fand ich heute morgen in meiner Tasche.«

Ich zog die kleine Buddhafigur aus Nephrit hervor und reichte sie dem Professor. Er stieß einen Pfiff aus. Nachdem er sie geprüft hatte, gab er sie an Mr. Graham weiter, der Buddhas Lächeln mit einem Lächeln erwiderte, das beinahe brüderlich wirkte.

»Also eine reelle Ausbeute Ihres Abenteuers haben Sie doch«, lächelte der Professor. »Ein antiker chinesischer Buddha ist nicht zu verachten.«

»Ist er chinesisch?« fragte ich.

»Ganz bestimmt. Aber Sie können ihn ja von einem Fachmann untersuchen lassen.«

»Gott bewahre! Ich verlasse mich auf Ihr Wort. Und daß er chinesisch ist, paßt übrigens ganz zu – aber lassen Sie mich weitererzählen. Mein Gedächtnis ist leer von dem Zeitpunkt an, da es dunkel wurde, bis zu dem Zeitpunkt, da ich merkte, daß ich von jemandem in einem dunklen Raum gejagt wurde.«

»Gejagt?«

»Gejagt. Nicht bei Licht, sondern in pechschwarzer Dunkelheit. Aber vielleicht sollte ich nicht sagen: gejagt. Der Mann, der im Zimmer war, wollte mich nicht in der gewöhnlichen Weise fangen. Er versuchte, mich in eine Falle hinabzulocken. Es befand sich eine Falltür im Raum. In der letzten Sekunde, durch ein reines Wunder, entging ich ihr. Und vorher hatte ich meinen Hut mit meinem Monogramm verloren.«

Der Professor hob die Hand und unterbrach mich:

»Lieber Herr – wie heißen Sie doch? – Hegel! – Eine Falltür! In Kopenhagen! In einem Haus in Kopenhagen!«

»In Kopenhagen. Sie können nicht mehr Einwände gegen meine Geschichte erheben als ich selber heute morgen. Und Sie können mir vorhalten, daß ich zuviel getrunken habe. Und trotz all dem bin ich dessen, was ich erzähle, vollkommen sicher. Der Mann in jenem Zimmer versuchte, mich durch eine Falltür hinunterzustürzen.«

»Hm. Sie haben wohl nicht –«

»Wie, bitte?«

»Sie haben wohl nicht vielleicht eine solche Situation in einem Ihrer Bücher geschildert?«

»Ich habe viele Jahre in einer Phantasiewelt gelebt. Manchmal habe ich zu erleben geglaubt, was meinen Helden zustieß. Ich verstehe gut, was Sie meinen. Und ich war so skeptisch wie möglich gegen meine Erinnerungen, als ich heute morgen erwachte. Aber allmählich, während der Whisky langsam verraucht, beginnt das Bild klarer zu werden. Ich versichere Ihnen, es ist so, wie ich sage. Der Mann suchte mich zu einer Falltür zu locken. Ich entrann ihm im letzten Augenblick, und gerade in diesem Moment erblickte ich das Schlüsselloch der Eingangstür. Ich stand dicht daneben. Die Luke lag einen Schritt davon entfernt, und die Tür war unversperrt.«

»Wie? Was sagen Sie?« fragte der Professor.

»Die Tür war unversperrt. Ob absichtlich oder nicht, das weiß ich nicht. Aber ich riß sie auf, und als ich das getan hatte, erblickte ich am anderen Ende des Zimmers den Mann, der mich gejagt hatte. Es war ein dicker, aufgequollener, grauhaariger Chinese.«

»Ein Chinese?«

»Wie ich Ihnen sage. Und als ich ihn erblickte, da beging ich mein schlimmstes Verbrechen. Ich hatte einen Holzschemel in der Hand. Ich schleuderte ihn dem Chinesen geradewegs an den Kopf. Er heulte laut auf, aber ob er gestorben ist oder nicht, das weiß ich nicht. Ich lief auf und davon, und wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich selbst nicht recht. Das ist meine Geschichte.«

Der Professor sah mich lange an.

»Ah! Und Ihr Hut liegt dort als Beweisstück? Und was wünschen Sie jetzt von Mister Graham?«

Ich erwiderte den Blick des Professors.

»Daß er mir hilft, wenn er Neigung dazu verspürt, nichts anderes. Sie verstehen, ich kann nicht zur Polizei gehen. Und ich möchte nicht dasitzen und abwarten, was der andere zu tun gedenkt.«

»Ihnen helfen? Auf welche Weise?«

»Ich weiß nicht, ob ich eine Einzelheit in meiner Erzählung genügend betont habe. Ich habe auch nicht die leiseste Ahnung, wo dieses mystische Haus gelegen ist.«

Der Professor pfiff und musterte mich wieder lange und eindringlich. Offenbar fragte er sich nochmals, ob man nicht doch Scherz mit ihm treiben wolle. Das bürgerliche Leben, das ich durch so viele Jahre hindurch geführt habe, muß jedoch genügend viel bürgerliche Zuverlässigkeit in meinem Antlitz und meinem Blick abgelagert haben; nach einer Weile nickte der Professor vor sich hin und wandte sich seinem Chef zu. Sie begannen ein Gespräch in englischer Sprache, von dem ich höchstens ein Zehntel verstand. Ein paarmal schnappte ich die Worte »China« und »chinesisch« auf; ein paarmal glaubte ich einen französischen Namen – Laplace oder so ähnlich – zu hören. Mr. Graham zog die Brauen in die Höhe und machte Gesten. Der Rest war für mich Chaos. Ein Sprachgelehrter bin ich nie gewesen. Endlich wandte sich der Professor wieder an mich:

»Ich habe Ihren Fall Mister Graham vorgelegt. Mister Graham kann nicht umhin, Ihre Erzählung höchst merkwürdig zu finden.«

»Sie ist nichtsdestoweniger wahr.«

»Ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß sie wahr ist. Wenigstens in der Hauptsache. Die Phantasie kann ja einiges hinzufügen oder weglassen, nicht wahr? Wir wollen alles tun, was wir können, um das Haus zu finden, in das Sie eingebrochen sind. Aber was gedenken Sie zu tun, wenn uns dies gelingt?«

»Ich werde versuchen, mich mit dem Mann in dem Hause, ob er nun der Besitzer ist oder nicht, gütlich zu einigen.«

»Hm. Gestatten Sie mir, Ihnen zu sagen, wie ich Ihre Lage auffasse. Entweder findet die Polizei Sie nicht, und dann haben Sie nichts zu fürchten. Sie haben bisher noch nicht mit ihr zu tun gehabt? Und Ihr Daumenabdruck ist in ihrem Album nicht enthalten? Nein? Aber findet sie Sie – ja, dann ist es wohl zu spät, mit dem Mann im Hause zu einem Vergleich zu kommen. Ihr erstes Auftreten als Verbrecher fällt unter das Strafgesetz, Herr Hegel.«

Ich versuchte heiter dreinzuschauen.

»Aller Anfang ist schwer«, lächelte ich. »Ich verschließe mich Ihren Darlegungen nicht. Aber ich möchte Sie auf jeden Fall bitten, eine Untersuchung einzuleiten. Ich will doch wenigstens erfahren, wo ich debütiert habe. Eine Gedenktafel wird vielleicht einmal –«

»Gut«, unterbrach der Professor. »Wir haben ja Ihre Adresse. Wenn wir etwas herausbekommen, lassen wir es Sie wissen.«

Er schien einen Augenblick nachzudenken, dann fügte er hinzu:

»Sie kommen wohl viel in der Stadt herum?«

»Nun ja.«

»Und Sie treffen alle möglichen Leute, nicht wahr?«

»Freilich.«

»Sie haben wohl nicht zufälligerweise einen Franzosen namens Laplace getroffen oder von ihm gehört? Ein älterer Herr.«

Ich schüttelte den Kopf. Mir fiel das Gespräch des Professors mit Mr. Graham ein. Ich hatte also richtig gehört. Sie hatten über einen gewissen Laplace gesprochen. Konnte er in irgendwelchem Zusammenhang mit meiner Angelegenheit stehen? Der Professor erhob sich, ohne mich darüber aufzuklären. Ich stand gleichfalls auf und warf dabei zufällig einen Blick auf den Schreibtisch und das mystische, in Marocain gebundene Buch. Nicht um das Leben konnte ich die Frage unterdrücken: »Verzeihung, was hat das zu bedeuten? Ich sah zufällig das Titelblatt, was ist mit Extrakt der Adjektiva gemeint?«

Der Professor lächelte.

»Mein Chef«, erklärte er, »ist ein exzentrischer Mann. Er liebt die französische Sprache. Er hat seinerzeit auch die französischen Frauen geliebt. Aber seine zunehmende Korpulenz hat darin zu einer Bekehrung geführt. Er ist von der realen zu der idealen Liebe übergegangen. Er liebt jetzt das Ewig-Weibliche, und er findet, daß es nirgends sinnfälliger zum Ausdruck kommt als in den Adjektivwendungen der französischen Sprache. Er findet alle weibliche Koketterie in einem Ausdruck konzentriert, wie: Dites, je suis bien faite, hein? Faite, sagt sie! Bemerken Sie das te! Sie denkt die ganze Zeit an sich selbst als Frau. Sie fühlt sich als Frau, sie hat keine Gelüste nach Gleichberechtigung wie die germanischen Frauen, wenn sie sagen, ich bin schön gewachsen, ohne weibliche Endung. Nieder mit den Suffragetten! Ah, que je suis malheureuse. Achten Sie darauf, malheureuse, sagt mein Chef. Ist es nicht, als hörte man kleine glitzernde Tränen tropfen? Wird man nicht von der Lust ergriffen, zu trösten? Ah, es gibt nichts, was sich mit den französischen femininen Endungen vergleichen ließe.«

Ich hatte den Professor mit einer Verblüffung angehört, die ich nicht zu spielen brauchte.

Mein Sprachsinn war für diese Feinheiten zu verkümmert. Aber eine andere philologische Sache war mir aufgefallen.

»Sie sprechen ein erstaunlich gutes Schwedisch«, sagte ich.

Der Professor lächelte höflich und geleitete mich zur Tür.

»Ah – ich bin nur von der Beredsamkeit meines Chefs angesteckt«, bemerkte er. »Leben Sie wohl. Wir treffen uns sicherlich bald.«


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