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8

Es ist möglich, daß London für die Weißen eine gute Stadt ist, um sich dort zu verbergen, nicht aber für mich. Ich war erst wenige Tage in dieser großen, furchtbaren Stadt, als ich entdeckt wurde.

Die ersten Tage blieb ich untätig, denn diese Stadt betäubte mich wie ein Gewitter. Ich konnte nicht recht glauben, daß ich wach war. Dieser Lärm, diese zahllosen Scharen von Weißen, diese Menge von Fuhrwerken und diese fremde Sprache, alles zusammen kam mir vor wie ein erschreckendes Gaukelbild, wie es die Magier hervorzaubern. Endlich wagte ich mich unter Beobachtung der äußersten Vorsicht in die Stadt. Ich durfte des Kaisers wegen nicht länger zögern. Ich hatte mich noch nicht hundert Schritte von dem Hause entfernt, in dem ich wohnte, als ich Nevill begegnete.

Ich erkannte ihn sofort und blieb wie gelähmt stehen. Wie konnte er hier sein? Hatte er den Kaiser verlassen? War der Aufstand mißlungen, und hatte nur er sich retten können? Was sollte ich tun? War es ratsam, ihn anzusprechen? Alle diese Fragen stürmten auf mich ein, und bevor ich noch einen Entschluß fassen konnte, hatte er mich entdeckt.

Er riß die Augen auf und starrte mit offenem Munde auf meine europäischen Kleider. Plötzlich brach er in so heftiges Gelächter aus, daß er hin und her wackelte. Den Weißen gebricht es doch an jeglichem gutem Benehmen. Sein Schrei war wie der Schrei eines Geiers. Ich konnte nicht umhin, mich verletzt zu fühlen. Ich wollte ihm ausweichen, da packte er mich am Arm.

»Lieber Freund«, sagte er, »das ist aber unerwartet! Wie geht es Ihnen?«

Er sprach meine eigene Sprache. Mein Zorn über sein unerzogenes Betragen schwand. Und eine Sache lag mir ungemein am Herzen: Wie war es Seiner Majestät ergangen?

»Das kann man wirklich Glück nennen!« rief der Amerikaner. »Sie sind gerade die Person, die aufzuspüren ich von Seiner Majestät beauftragt bin, und kaum habe ich den Fuß nach Europa gesetzt, als ich Sie auch schon finde.«

»Seine Majestät hat Ihnen den Auftrag gegeben, mich zu finden? Aber wie ging es denn mit – mit –«

»Mit dem Aufruhr, meinen Sie? Ach, bei näherer Überlegung hat Seine Majestät diesen Plan aufgegeben.«

»Hat die Mütterliche Tugend etwas erfahren? Ist der Plan verraten worden? Wie ist es Seiner Majestät ergangen? Wo ist der Franzose?«

Ich war so erregt, daß ich kaum sprechen konnte. Selbst hier spürte ich die Kälte, die der Schatten der Furchtbaren auf mich warf, und erschauerte. Der Amerikaner schaute mich mit einem hastigen Blick an und fuhr in demselben freundlichen Tone fort:

»Nein, die Kaiserin-Witwe hat nichts von unserer kleinen Überraschung erfahren. Die Sache ist nur die, daß Seine Majestät anderen Sinnes geworden ist. Die kindliche Ehrfurcht, wissen Sie. Er empfand Reue!«

»Er empfand Reue!« wiederholte ich, ohne etwas anderes sagen zu können.

»Jawohl. Jetzt hat er den anderen Plan im Sinn, Sie wissen ja.«

»Ich? Ich sollte etwas von den Plänen des Erhabenen wissen?«

»Stellen Sie sich nicht einfältiger, als Sie sind. Der Erhabene war nicht so mißtrauisch wie Sie. Er hat mir die ganze Geschichte eines Abends in Mao-Changs Haus erzählt.«

»Eines Abends in Mao-Changs Haus«, war wieder alles, was ich herausbringen konnte.

»In Mao-Changs Haus. Sie wissen ja, er hatte eine Vorliebe für dieses Lokal. Da erzählte Majestät mir höchst privat, daß er Sie nach Europa geschickt habe, weil er gewisse Befürchtungen für Ihre Gesundheit hegte.«

Der Mann mußte mich behext haben. Wie ein Kind wiederholte ich: »Gewisse Befürchtungen für meine Gesundheit.«

»Nun ja doch, Seine Majestät fürchtete, Sie eines nach menschlichem Ermessen vorzeitigen Todes sterben zu sehen. Darum hat er Sie nach Europa geschickt. Das heißt, das war einer der Gründe.«

Ich riß mich aus der Verzauberung los.

»Einer der Gründe? Der geschätzte weiße Herr täuscht sich. Es ist wahr, daß der Kaiser mich ins Ausland geschickt hat, aber nur um meiner selbst willen. Warum sind Sie allein? Wo ist der Franzose?«

»Ach, lieber – wie war es doch? – Sung, seien Sie doch nicht so mißtrauisch! Sie sollten sich ein Beispiel an Seiner Majestät nehmen. Seine Majestät verläßt sich auf mich wie auf sich selbst. Kann er auch – hahaha! Nein, werden Sie nicht böse, ich lache nicht über Seine Majestät – wie können Sie das nur annehmen? Sie fragen nach Laplace, er ist dort drüben. Aber Seine Majestät hat mir nichts Geringeres anvertraut, als daß er selbst die Absicht hat, Ihnen hierher zu folgen. Will einen kleinen Ausflug machen, ist des alten Lebens müde.«

War es möglich? Hatte der Erhabene seinen geheimen Plan der weißen Person mitgeteilt? Es sah aus, als läse Nevill meine Gedanken, denn er sagte:

»In der Tat! Diesen Plan hat mir Seine Majestät höchst persönlich anvertraut. Aber nicht genug damit. Er hat auch gesagt, daß Sie etliches – hm – kostbares Gepäck für ihn bei sich haben.«

Ich antwortete nichts. Aus welchem Grunde hatte der Sohn des Himmels dies einem Fremdling verraten? Vertraute er ihm so blindlings? Ich war weit davon entfernt, ein solches Zutrauen zu teilen. Möglicherweise hätte ich es gewagt, Laplace etwas anzuvertrauen, niemals aber Nevill. Doch andererseits: auf die Unterstützung dieser Fremdlinge hatte Majestät den ganzen Plan seines Aufstandes aufgebaut. Was sollte ich tun? Nevill, der mich wieder mit einem Blick gestreift, fuhr fort:

»Ja, so ist es. Seine Majestät ersuchte mich, Sie ausfindig zu machen. Er befürchtete, Sie könnten sich allein nicht zurechtfinden. Sobald ich Sie gefunden hätte, sollte ich Ihnen nach besten Kräften beistehen. Und dann sollte ich zurückreisen und Seiner Majestät hier herüber helfen.«

Ich war vollkommen verwirrt. Was sollte ich denken? Hatte ich irgendeinen Grund, ihm nicht zu glauben? Ohne eigentlich zu überlegen, was ich sagte, fragte ich:

»Soll ich Seine Majestät benachrichtigen?«

»Doch, Sie sollen sofort einen Brief abschicken«, erwiderte Nevill.

Im gleichen Augenblick wußte ich, daß er log. Einen Brief? Das konnte ein Europäer einem anderen Europäer schicken. Wie sollte ich Seiner Majestät einen Brief zukommen lassen? Nein, alles war Lüge! Die weiße Person war ein Verräter! Er war mir aus Peking gefolgt, sobald er erfahren hatte, daß Seine Majestät mich mit seinem Hab und Gut ausgesendet hatte. Von Wein umnebelt, hatte der Erhabene ihm seinen Plan erzählt und vielleicht den Namen der Stadt Hongkong genannt, in die ich mich zuerst begab. Mir dorthin zu folgen, war für ihn ein leichtes gewesen, und auch hierher – und wie sollte ich ihm hier in London entgehen?

Ich grübelte angestrengt nach, während ich mein Gesicht so ausdruckslos wie möglich machte. Nevill unterbrach mein Nachdenken und sagte:

»Wollen wir nicht ein bißchen hier hineingehen? Es kann sich nicht mit dem Haus der Fünf Sinne vergleichen, aber immerhin!«

Gegen meinen Willen ging ich mit. Ich habe immer starke Getränke gefürchtet, sah ich doch zur Genüge, was sie bei anderen anrichten konnten. Aber die Schenke, die wir jetzt betraten, sei von den Göttern gesegnet. Wir stellten uns vor einem Tisch auf. Nevill bestellte Getränke, und ich stand in meinen europäischen Kleidern an der Theke, vor Furcht zitternd wie ein Dieb, der hingerichtet werden soll. Aber kaum waren die Giftgetränke gekommen, als die Tür sich öffnete und drei berauschte weiße Personen eintraten. Sie drängten sich zur Theke vor. Sie schrien laut. Ihre Gesichter waren aufgedunsen, und sie verbreiteten einen widrigen Geruch. Nevill wollte sie beiseite schieben, aber sie wichen nicht von der Stelle. Sie kamen ins Handgemenge. Eine Stimme flüsterte in mir: Dein Augenblick ist gekommen! Niemand beachtete mich. Still wie eine Feldmaus glitt ich zur Tür hinaus. Ich rief einen der vielen Wagen an. Ich zeigte dem Kutscher eine Münze und wies vorwärts. Im nächsten Augenblick hatte uns der Strom von Pferden und Fuhrwerken verschlungen, und ich war gerettet.


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