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5

Es war der Professor. Er war allein.

Ich begriff, daß das die Rettung bedeutete, aber ich empfand keinerlei Freude darüber. Ich hatte die Fähigkeit verloren, die Ereignisse in Kausalzusammenhang miteinander zu bringen, was die erste Grundlage allen menschlichen Denkens ist. Ich sah alles wie durch ein umgekehrtes Fernglas, und die Handlungen des Professors erschienen mir völlig sinnlos. Er hatte Laplace erschossen, und das erste, was er tat, war, ihm Handschellen anzulegen. Dann durchschnitt er die Fesseln des gefangenen Franzosen. Ich sah es mit restloser Gleichgültigkeit an. Erst seine dritte Handlung hatte für mich einen Sinn. Er nahm eine Flasche von einem Seitentisch und führte sie an meine Lippen. Ich fühlte einen stechenden Kuß auf meinen Lippen. Kognak. Ich öffnete den Mund wie einen Kelch und ließ mein Inneres durchtränken. Das war köstlicher als das Bier, das ich am Morgen von Jensen bekommen hatte. Nun hob mich der Professor vom Boden auf und setzte mich auf einen Stuhl. Ich deutete auf Mr. Graham, der ebenso stumm dasaß wie zuvor.

»Das eilt nicht«, sagte der Professor. »Er hat Nerven wie eine Kuh. Nur wenn es sich um weibliche Adjektiva handelt, gerät er in Affekt. Wie fühlen Sie sich?«

Ich murmelte ein leises Danke.

Der Professor ging nun daran, den Engländer zu befreien. Dies schien diesem ebensowenig Eindruck zu machen wie mir. Als es geschehen war, stand er auf, nickte dem Professor stumm zu und begann die Bücher vom Boden aufzuheben. Dabei kam von Zeit zu Zeit ein dumpfes Knurren über seine Lippen. Vermutlich waren nicht alle unbeschädigt geblieben. Der Professor und der Franzose begannen miteinander französisch zu sprechen. Was mich betrifft, hätten sie ebensogut chinesisch reden können. Sie waren nicht so gute Pädagogen wie Laplace. Plötzlich wandte sich der Professor mit der Kognakflasche zu mir um.

»Eine zweite Dosis?« fragte er. »Bitte! Und preisen Sie jetzt mit mir Ihren Freund Jensen. Zum zweitenmal hat er uns vor Laplace gerettet.«

»Er dort«, stotterte ich und sah auf Laplace, der zusammengesunken auf dem Sessel lag, »wie ist er hereingekommen? Mein Kopf ist so müde. Ich verstehe nichts.«

»Er hat Ihnen aber auch einen furchtbaren Schlag versetzt«, sagte der Professor. »Ich sah es und glaubte, aufrichtig gestanden, nicht, daß ich noch je Gelegenheit haben würde, Ihnen einen Kognak zu servieren. Ihr Warnungsruf kam gerade noch zur Zeit. Hätte ich nur einen Revolver bei mir gehabt, dann wäre es etwas anders ausgegangen. Aber ich war seit gestern nacht unbewaffnet. Ich sah keinen anderen Ausweg, als das Hasenpanier zu ergreifen. Merkwürdigerweise gelang es.«

»Wo haben Sie denn gesteckt?« murmelte ich.

»Ich sauste um ein paar Ecken und kam gerade zurück, als Laplace dastand und seine Pläne hinausschrie. Ich begriff, daß er irrsinnig war, aber ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich habe einen tiefwurzelnden Widerwillen, zur Polizei zu gehen. Dies hier hätte ein halbes Polizeiaufgebot verlangt und wahrscheinlich Ihnen allen das Leben gekostet. Außerdem, solch ein alter Königstiger wie Laplace muß in würdiger Weise gejagt werden. Man darf ihm nicht den Pelz mit zuviel Kugeln verderben, und man muß die Ehre für sich allein haben, so wie auch er allein gegen meine zwei Freunde war.«

»Wie konnte er …«

»Er klingelte und wurde von Mister Graham selbst eingelassen. Laplace schlug ihn ohne weiteres zu Boden. Leute, die im selben Hause wohnen wie ich, sind für ihn offenbar vogelfrei. Als mein anderer Freund herbeigelaufen kam, war Mister Graham schon gebunden, und es erging meinem Freund ebenso.«

»Er muß gigantische Kräfte haben.«

»Sie haben sie ja selbst erproben können. Und trotzdem versuchten Sie vorhin meinen Freund zu befreien. Das war mutig – ja mehr als mutig.«

Ich fühlte eine Welle der Selbstzufriedenheit in mir aufsteigen. »Aber Sie«, fragte ich, »wie sind Sie hereingekommen? Er hatte ja alles versperrt und verbarrikadiert.«

»Lassen Sie uns Ihrem Freund Jensen danken. Wieder einmal dessen Schlüsselbund, den ich für den Ramschpreis von dreihundert Kronen erstanden habe. So kam ich trotz der Schlösser und Barrikaden herein, und …«

»Und jetzt haben Sie ihn erschossen!«

Der Professor lachte, und in mir stieg eine gewisse Abneigung gegen ihn auf. Zugegeben, daß Laplace erschossen werden mußte; er war aber auf jeden Fall ein alter Königstiger, wie der Professor selbst zugestanden hatte, und er verdiente einen Salut an seinem Grabe.

»Sie sind müde«, meinte der Professor. »Haben Sie nicht Sehnsucht nach einem Bett?«

»Gehen Sie selbst zu Bett?«

»Vorläufig noch nicht.«

»Dann warte ich auch noch.«

Indessen tat die zweite Kognakdosis ihre Wirkung. Meine Lider wurden bleischwer und begannen zuzufallen; ich duselte ein und fuhr nach ein paar Sekunden wieder auf, ohne mir klarmachen zu können, wo ich war. Allmählich wurden die Zwischenpausen zwischen meinen wachen Augenblicken länger und länger; wie lange, wußte ich nicht. Aber als ich wieder einmal aufwachte, sah ich den Professor vor meinem ausgebreiteten chinesischen Mantel sitzen, wie früher am Abend. Den hatte er offenbar durch alle Stürme gerettet. Das nächste Mal, als ich erwachte, lag ein dickes Buch vor ihm; er las darin mit gerunzelter Stirn und schien alles rings um sich vergessen zu haben. Ein Blatt Papier war mit Aufzeichnungen bedeckt, die er gemacht hatte. Im Sessel lehnte Laplace, wie er gelehnt hatte, regungslos, den Kopf auf der Brust. Diesen Anblick hatte ich jedesmal, wenn ich erwachte. Nach und nach wurde mein Schlaf tiefer. Ich erhob mich und taumelte zu dem Diwan an dem Rauchtisch. Der Professor sah nicht einmal auf, als ich dies tat. Mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Wohlbehagens streckte ich mich auf dem Diwan aus und schlummerte augenblicklich ein.

Noch einmal wachte ich halb auf. Um welche Zeit das war, weiß ich nicht. Ich träumte, daß ich mich auf der Tigerjagd in einem dichten Dschungel befand. Der Professor ging auf dem schmalen Pfad vor mir her. Er hatte meinen chinesischen Mantel an und trug ein dickes Buch unter dem Arm. Plötzlich hob er es zur Schulter, wo es sich in eine Flinte verwandelte, und drückte ab. Der Tiger fiel; es war Laplace, aber er war nicht tot, er wälzte sich im Gebüsch hin und her, so daß die Zweige knisterten. Um den Hals trug er eine Eisenkette, die rasselte.

Im selben Augenblick schlug ich die Augen auf, aber ich war noch zu tief im Traumlande, um ganz zu erwachen. Ich zuckte nur zusammen und sah mich einen Augenblick um. Was ich erblickte, machte mir nicht den Eindruck größerer Wirklichkeit als mein Traum. Das Dschungel hatte sich in das Arbeitszimmer des Professors verwandelt, die Flinte war wieder ein Buch geworden. Aber Laplace war derselbe, und er lebte, ganz wie im Traum. Er saß da und starrte um sich; seine Hände waren nicht mehr wahnsinnig; um die Hände war eine Eisenkette geschlungen, die rasselte, wenn er sich bewegte. Dies war eine Vision von einigen wenigen Sekunden; ich murmelte etwas in mich hinein und versank wieder in Schlummer.

In meinem neuen Schlaf gab es kein Dschungel und keine Tiger, die zu Menschen wurden. Er war grundlos wie ein Meer und ohne störenden Traum. Ich schlief, als hätte ich monatelang nicht geschlafen. Mein Bewußtsein war weg, war ausgelöscht. Ich reagierte nicht mehr auf die Außenwelt. Ich lag wie tot. Aber so allmählich drang ein Lichtstrahl in diese Dunkelheit. Mein Bewußtsein erwachte zu schwachem Leben. Ich begann zu träumen. Ich träumte, daß ich daheim bei mir lag und vergessen hatte, daß ich hinausgesetzt werden sollte. Warum sollte ich hinausgeworfen werden? Ja, mein Freund Jensen war beim Hausherrn gewesen und hatte gepetzt, daß ich in meiner Wohnung bei Nacht Einbrecher und Diebe empfinge. Damit konnte sich mein Hauswirt nicht befreunden; und nun war er mit den Packern hier, um mich hinauszuwerfen. Sie wollten mich, nackt, wie ich im Bett lag, hinauswerfen. »So lassen Sie mich doch wenigstens meine Kleider anziehen!« rief ich. Aber sie packten mich ohne Federlesens – gütiger Gott, was für Fäuste sie hatten! Sie zerrten an mir herum, und im selben Augenblick erwachte ich.

Es zeigte sich, daß mein Traum bis zu einem gewissen Grade der Wirklichkeit entsprach. Vor mir standen drei Personen und sahen auf mich herab, ernst wie tibetanische Priester. Einer von ihnen schüttelte mich einmal ums andere, um mich wach zu kriegen. Ich rieb mir die Augen, um seine Arbeit zu erleichtern. Ich starrte und starrte, ohne zu verstehen. Plötzlich kehrte mein Bewußtsein zurück: klick, wie eine Billardkugel in ihr Loch fällt, so saß es wieder in meinem Kopf. Ich erinnerte mich, wo ich mich befand. Ich war ja beim Professor. Aber das waren weder der Professor noch seine Freunde. Was waren das für Leute?

»Wo ist der Professor?« murmelte ich mit belegter Stimme. »Und Mister Graham?«

»Das wollten wir eben Sie fragen«, bemerkte der eine der drei Männer.

Seine Frage kam mir idiotisch vor.

»Mich fragen? Ist er denn nicht zu Hause?«

»Der einzige, der hier im Hause ist, sind Sie. Wer sind Sie? Sie sind ja ein Schwede.«

War niemand im Hause außer mir? Blitzartig kam mir eine Erinnerung. Wenn schon niemand anderer da war, so mußte doch wenigstens der tote Laplace daliegen.

»Sie müssen schlecht gesucht haben«, sagte ich, »Laplace muß doch hier sein. Er kann nicht verschwunden sein, da er tot ist. Der Professor war gezwungen, ihn zu erschießen, aber das war kein Mord. Warten Sie, bis er kommt, dann erklärt er es Ihnen selbst. Ich kann bezeugen, daß er die Wahrheit spricht.«

Ich sprach verworren; ich war noch kaum mehr als halb wach. Der eine der drei, der mich vorhin geschüttelt hatte, wiederholte diese Prozedur.

»Sind Sie betrunken?« brummte er. »Wo ist derjenige, der dieses Haus gemietet hat? Und wer sind Sie?«

Ich wurde über sein Benehmen zornig.

»Lassen Sie mich los!« rief ich. »Wer sind Sie selber? Was haben Sie hier zu suchen?«

Der Mann lachte sonderbar.

»So bald werden Sie mich nicht los«, sagte er, »da kann ich Ihnen ebensogut gleich sagen, wer ich bin. Ich bin Detektiv, und ich bin mit dem Auftrag hier, Ihren Freund, den Professor, zu verhaften.«

»Sie sind Detektiv!« stammelte ich. »Den Professor verhaften – er ist ja selber Detektiv! Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«

»Detektiv! Ja freilich!« rief der Mann, der mich bei den Schultern gepackt hielt. »Er ist ein ungewöhnlich durchtriebener Gauner, mit dem wir schon seit sechs Jahren eine unbeglichene Schuld haben. Und wenn wir uns nicht sehr irren, sind wir nicht die einzigen, die mit ihm eine gewisse Rechnung in Ordnung zu bringen haben.«


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