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5

Als ich gegen vier Uhr in der Bodega erschien, fand ich dort etliche Freunde versammelt.

Außer Simon Weel und dem Bildhauer saß Cz da, und neben ihm zwei Typen, die sich dort nur selten zeigten. Der eine war ein dänischer Advokat und hieß Hoffman-Bang. Er sprach wie der große Religionsstifter ausschließlich in Gleichnissen, aber alle seine Gleichnisse waren Zitate. Der andere war ein isländischer Lyriker und schrieb Gedichte, die man ebensogut von vorn wie von rückwärts lesen konnte, was der höchste Grad der Vollendung ist, den ein isländischer Lyriker erreichen kann; außer seiner dichterischen Kunst sollte er auch noch den Beruf eines Agenten für isländische Wasserfälle und Erdbeben ausüben.

Eigentlich war ich von der Lust, meine eigenen Erlebnisse in romantisierter Form zu erzählen, in die Bodega getrieben worden; ich gehöre zu den Menschen, die nicht eher zufrieden sind, als bis nicht alles, was sie gesagt und getan haben, in Mythen umgegossen ist. Aber dabei will ich, daß man mir Glauben schenkt. Und als ich die vier sah, die um den Tisch des Italieners saßen, fühlte ich instinktiv, daß Sympathie und Aufmerksamkeit das letzte waren, was mir zuteil werden würde. Der Isländer wollte eben ein Gedicht skandieren, als ich hereinkam, aber schon im ersten Anlauf wurde er von Simon Weel gestoppt.

»Aufhören, zum Teufel, Isländer! Wenn du deine Gedichte vorliest, erinnerst du an einen Strafgefangenen, der in seinen Ketten tanzt. Die einzige Lyrik, die erlaubt sein sollte, ist die chinesische. Erstens versteht kein Mensch Chinesisch, wodurch die Gedichte weniger Unbehagen verursachen, zweitens bestehen sie aus einsilbigen Worten und sind überaus kurz. Lerne Chinesisch, dann werde ich mir deine Lyrik anhören.«

»Der Branntwein, die Lyrik und die sieben Todtugenden haben Schweden zu dem gemacht, was es heute ist«, bemerkte Hoffman-Bang.

»Und das Bier, die Politik und die Volkshochschulen Dänemark zu dem, was es ist«, fuhr Simon Weel fort.

»Ja, ja«, rief Cz voll Enthusiasmus. »Ausgezaijchnet! Alle beijde haben sie sich recht.«

»Habt ihr«, begann der Bildhauer, »die letzte Geschichte von Börevig gehört – –?«

»Bildhauer!« erklärte Simon Weel. »Ehe ich mir deine Anekdoten anhöre, lasse ich die Gedichte des Isländers über mich ergehen. Ihre Eintönigkeit macht sie bis zu einem gewissen Grade unschädlich. Dadurch gemahnen sie an die Musik der Sphären. Nach fünf Minuten vernimmt man sie nicht mehr. Da ist der Skandalschreiber.«

Brasch war eben eingetroffen, von Hoffman-Bang mit einem Doppelzitat begrüßt:

»Hänge die feige Schamhülle an den Sonnenstrahl hinter mir«, skandalierte er. Hiermit wollte er andeuten, daß sich an dieser Stelle ein Kleiderhaken befand. »Du findest einen wunderlichen Kreis beisammen: einen Isländer, der an seine eigene Lyrik glaubt, und einen Schweden, der alle Lyrik in chinesischer Sprache geschrieben haben möchte.«

»Ich habe schon gesagt, warum«, belehrte Simon Weel. »Die chinesische Dichtkunst ist bewunderungswürdig. Sie hat nur einen Fehler, aber der geht durch die ganze chinesische Kultur. Die Chinesen haben keine Ahnung von Kalabreserwein. Ihre Dichter tranken Branntwein aus Teetassen.«

»Ja, ja«, rief Cz begeistert, »ausgezeichnet! Gejld, hast du Geljd, Bildhauer?«

Brasch stürzte beinahe auf einen Zug einen großen Absinth hinunter.

»Komisch – ihr sitzt da und sprecht von China«, sagte er. »Ich habe den ganzen Tag an einem Artikel über einen Chinesen geschuftet, geschuftet, versteht ihr! Wißt ihr, wo ich ihn geschrieben habe? Oben auf dem Runden Turm. Muß alle Reizmittel anwenden.«

Ich zuckte zusammen und sah Brasch an.

»Was ist denn mit dem Chinesen los?« fragte ich.

»Er ist verschwunden. Alter Chinese, kam vor vielen Jahren her, hat ein Antiquitätengeschäft in der Fiolgasse. Heute nacht sieht der Polizist, daß Licht in dem Laden brennt, sonderbar, denn der Chinese ist so geizig wie Harpagon. Das Licht brennt die ganze Nacht, es wird drei, vier, fünf, nicht einmal bei Tagesgrauen wird es ausgelöscht. Der Polizist klopft an, niemand meldet sich, er geht durch die Hintertür hinein. Der Chinese ist fort, überhaupt nicht wiedergekommen, siehst du. Nichts ist aus dem Laden gestohlen, die Kasse ist da.«

Ich konnte nicht verhindern, daß mir ein kleiner Schauer über den Rücken lief. Ich hatte ja diese Nacht mit einem Chinesen zu tun gehabt. Bestand zwischen beiden irgendein Zusammenhang? Sollte ich Brasch meine Erlebnisse erzählen? Vielleicht wäre er der rechte Mann, das schwarze Haus zu finden. Er kannte seine Stadt besser als die meisten. Ich war schon im Begriff, anzufangen, als ich einen Blick auf die anderen am Tisch warf und stockte. Die Sonne strahlte in den Schenkraum. Sie beleuchtete Simon Weels majestätisches Priestergesicht, Cz's schwärzliche Physiognomie, das phlegmatische Gesicht des Bildhauers, das selbstgefällige des Isländers und das wachsame Bangs. Ich stellte mir im Geiste diese Gesichter vor, während sie meiner Erzählung lauschten. Nein, hier war nicht der rechte Boden. Ich konnte später mit Brasch sprechen. Ich ahnte nicht, wie lange es dauern sollte, bis ich Brasch wiedersah.

»Wohnte der Chinese in dem Haus, in dem er das Geschäft hat?« fragte ich Brasch.

»Ja«, erwiderte Brasch.

»Wohnte hinter dem Laden, schon seit vielen Jahren. Hatte ein gutes Geschäft, viele Kunden aus geachteten Bürgerkreisen. Vielleicht Raubmord, obwohl nichts fehlt. Niemand weiß etwas Genaues.«

Diese Worte hemmten meine Phantasie, die schon angefangen hatte, zu kombinieren. Braschs Beschreibung paßte nicht recht auf den Mann, der mich in der Dunkelheit gejagt hatte. Immerhin beschloß ich, auf jeden Fall gelegentlich mit Brasch zu sprechen. Brasch sah plötzlich nach dem Eingang.

»China liegt heute überall auf der Lauer«, meinte er.

»Der Mann dort drüben – liest an der Universität Chinesisch, kennt die Leute, ist in China gewesen, siehst du. Vielleicht sollte ich ihn interviewen.«

Ich betrachtete den Mann, von dem Brasch gesprochen hatte. Er war ziemlich dick und untersetzt, mit lichtblauen Porzellanaugen. Seine Augenbrauen waren das Beweglichste, was ich in dieser Art je gesehen hatte. Sie tanzten auf und nieder, so als hätte er Zuckungen. Sein Mund war ungewöhnlich elastisch und befand sich nur selten in Ruhe. Wenn er trinken wollte, rundete er ihn zu einem u, erweiterte ihn über o zu einem a, trank und schloß ihn mit einem Schwupp! Seine Finger spielten unaufhörlich auf unsichtbaren Tasten Klavier.

Simon Weel unterbrach mich in meinen Beobachtungen. Er hatte sich in einen Disput mit Hoffman-Bang verwickelt, bei dem er zu unterliegen drohte. Er beschloß, sich durch eine plötzliche Attacke gegen Brasch und mich zu retten.

»Zum Teufel noch einmal mit eurem Gehabe wegen eines verschwundenen Chinesen! Es gibt 420 Millionen Chinesen, und ich begreife nicht, wie man sich so anstellen kann, wenn mal einer wegkommt. Ich könnte sterben und begraben werden, ohne daß zwei Zeilen darüber in der ›Extrapost‹ gebracht würden.«

Nachdem er so sein Herz erleichtert und Bunkerkohle in Gestalt von zwei Glas Wein eingenommen hatte, steuerte er wieder vollen Kurs gegen Hoffman-Bang. Ich benützte die Gelegenheit, um zu fragen:

»Wie heißt der chinesische Professor?«

»Pitz.«

»Kennst du ihn?«

»Nur dem Namen nach. Er ist viel gereist, weißt du, war in Indien, China, überall, ist im Frühling heimgekommen und erbot sich, Gratisvorlesungen zu halten. Wurde dankbar angenommen, warum auch nicht? Treibt sich in den Nacht-Cafés umher. Aber ein heller Kopf, heißt es, verteufelt hell.«

Simon Weel hatte die Offensive gegen Hoffman-Bang zu Ende geführt und den Bildhauer, der sich in der Pause geltend zu machen versuchte, zum Schweigen gebracht. Jetzt fand er Zeit, sich an Brasch und mich zu erinnern.

»Hier sitzt ihr und sprecht über China!« murrte er. »Was für einen Begriff habt ihr eigentlich von China? Wißt ihr, daß China eine ununterbrochene Geschichte hat, die fünftausend Jahre lang ist? Als Indien in den Aberglauben zurückfiel, rettete sich die erhabene Lehre Buddhas nach China hinüber. Wißt ihr, daß die Chinesen alles erfunden haben, das Pulver, die Buchdruckerkunst, die Ballons –«

»Meister«, erklärte ich, »wir wissen es«.

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sie auch die Detektivromane erfunden hätten. Wenigstens haben sie seit zweitausend Jahren Zeitungen. Aber die Hauptsache ist nicht, wieviel man erfindet, sondern wie man die Erfindungen anwendet. Mit uns Europäern geht es zu allen Teufeln, nur wegen all der vermaledeiten Erfindungen. Da lobe ich mir die Chinesen! Erfindungen, die Unglück bringen müssen, entweder rasch, wie das Pulver, oder langsam, wie die Buchdruckerkunst, haben sie ganz einfach unterdrückt. Haben sie die Detektivromane erfunden, so haben sie sicherlich den Erfinder geköpft, sobald sie begriffen hatten, was er da ausgeheckt hat. Nein, die Chinesen haben nur einen Fehler. Es ist unglaublich, daß sie es aushalten konnten, fünftausend Jahre hindurch Branntwein zu trinken.

Herr Pitz war während des Vortrags von Simon Weel aufgestanden und ging jetzt fort. Brasch sah auf die Uhr.

»Sechs«, sagte er. »Hallo, jetzt hätte ich beinahe etwas vergessen. Hast du Lust, heute auf eine Redoute zu gehen?«

»Eine Redoute?« fragte ich. »Um diese Jahreszeit?«

»Es ist das neue Hotel Esplanade, das ein Einweihungsfest veranstaltet. Es wird etwas Extrafeines. Hast du Lust?«

»Topp«, erklärte ich, »um wieviel Uhr ist es denn?«

»Um neun Uhr. Hier ist eine Eintrittskarte. Treffen wir uns gegen neun Uhr in der Halle? Ich muß erst noch in die Redaktion hinauf.«

»Abgemacht«, bestätigte ich. »Übrigens habe ich mit dir noch etwas zu besprechen.«

»Hoffentlich keine ernsten Sachen«, meinte Brasch und zog sich den Mantel an. »Für so etwas ist heute abend keine Zeit!«

Er verschwand. Wieviel Zeit ich binnen kurzem ernsten Sachen widmen würde, wußte ich in jenem Augenblick noch nicht.


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