Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Vierzehntes Kapitel.

Einige Wochen nach Kays Rückkehr – es war eben Frühlings Anfang – hatte sich Cedes wieder so weit erholt, daß sie einer Einladung nach Dronninghof folgen konnte. Bomstorff wollte etwas aus Shakespeare vorlesen, und da Cedes ihm sehr zugeneigt war, freute sie sich jeder Begegnung mit ihm und war Kays Aufforderung mit größter Bereitwilligkeit gefolgt.

Clementina-Julia schien während Kays Abwesenheit ihr Gleichgewicht wiedergefunden zu haben und legte eine, mit sanfter Mäßigung gepaarte und dadurch überzeugend wirkende milde Gesinnung sowohl gegen Cedes wie gegen Carmelita an den Tag. Freilich, in ihrem Innern hatte sich nichts verändert; Vorfälle, die warnend und läuternd hätten auf sie einwirken können, verliefen wirkungslos, ja sie verstärkten nur ihre Entschlüsse, auch ferner den Schein zu Hilfe zu nehmen. Haß und Habsucht machten sie bereits zur Heuchlerin.

Als sie vor dem Abendessen im Speisegemach noch einige Anordnungen traf, hörte sie das Gespräch der Herren im Nebenzimmer und vernahm auch die laute Stimme Bomstorffs, der gewohnheitsmäßig Citate in seine Rede mischte.

Zufällig gab er einige Sentenzen zum besten, die für Clementina-Julia wie gemacht schienen.

»Alles, was ausgebessert wird, ist doch nur geflickt; Tugend, die sich vergeht, ist doch nur mit Sünde geflickt –« »Ich schreib' es nieder, wie einer lächeln, immer lächeln kann, und doch ein Schurke sein.« –

Nach dem Abendessen griff Bomstorff nach seinem Buch und las die Scene aus »König Johann« zwischen dem jungen Plantagenet und Hubert vor, der auf Befehl des Königs mit einem glühenden Eisen des Prinzen Augen blenden soll.

Behmer, der ebenfalls geladen war und niemals etwas von Shakespeare gelesen hatte, legte deutlich an den Tag, wie sehr ihn Inhalt und Vortrag gefesselt hatten, und zwischen den Anwesenden entspann sich unter übereinstimmendem Beifall ein Gespräch, in dem Bomstorff hervorhob, welche ungeheure Wirkung die Scene bei der Vorführung auf der Bühne allezeit auf ihn ausgeübt habe.

Auch Clementina-Julia sprach, aber sie war mit ihren Gedanken nicht bei dem Dichter und dem Drama, sondern nur bei der Person, die sie während des Lesens an die Stelle des jungen Prinzen gesetzt hatte. Mit teuflischer Wollust wiegte sie sich in der Vorstellung, daß nicht jener geblendet werden sollte, sondern daß es sich um Carmelita handele, und sie zürnte dem Henker, daß er sich durch ihre Tränen erweichen ließ.

So lebendig war die Phantasie der Frau, daß sie den Vorgang zur Wirklichkeit erhob und selbst – ein weiblicher Henker – dem Kinde die glühenden Bolzen in die Augen stieß. Kein Mitleid stieg in ihr auf. Sie empfand nur höchste Sättigung.

Als Carmelita kurz nach dem Vorlesen in die Gesellschaftszimmer trat, um Gute Nacht zu sagen, als sie sich wiederholt zärtlich an Cedes schmiegte, und die Frau die Freude darüber in ihres Mannes Angesicht aufblitzen sah, ja, als sie zu bemerken glaubte, daß er und Cedes Blicke tauschten, die sie nicht als den bloßen Ausdruck einer augenblicklichen lebhafteren Empfindung, sondern als die Betätigung versteckter Neigung deutete, schlugen die Leidenschaften wie lodernde Feuer in ihr empor, und in diesem Augenblicke befestigte sich ihr Entschluß, sich an Cedes zu rächen und Carmelita ein für allemal aus dem Wege zu räumen! Sie schreckte bereits vor einem Verbrechen nicht mehr zurück. –

Cedes hatte für ihr Kommen einen wundervollen Tag gewählt. Dronninghof bot ein wahrhaft bezauberndes Bild. Im Park brachen die weißen und roten Blüten aus den Knospen; sichtbar dem Auge, verjüngte sich die Erde und lag in dem duftenden Taumel ihrer Wiederauferstehung. Es ging ein warmes, lebendiges Leben durch alles, was das Auge zu schauen vermochte; weiche Lüfte träumten über Feldern und Wiesen und drangen in die Tiefe der Wälder. Die Quellen rauschten, und die letzten Spuren des Schnees waren auf den Anhöhen längst der Sonne gewichen.

Aber in der diesem Tage folgenden Nacht entstand plötzlich eine unruhige Bewegung in den Kronen der Buchen, welche die aufkeimenden grünen Parkrasen wie eine blühende Mauer umgaben. Auf dem Pachthofe stampften die Gäule ungeduldig das Pflaster, die Hühner im Stall wurden aufgescheucht und gackerten ängstlich im Halbschlaf, eine Kuh stieß einen langgezogenen Ton aus der Kehle, und in den Ecken und Winkeln der großen Treppe des Herrenhauses raschelte es unheimlich.

Nun schrie auch ein Vogel aus dem Walde, – ein Falke oder eine Eule. War's Zufall, oder lief ein ahnungsvoller Schauer durch die Natur? Roch sie Tod – Vernichtung mitten in dem Ringen und Drängen ihres wiedererwachenden Lebens?

Ja, der Tod kam. Er riß, mitten in der Neugeburt der Erde, ein Menschenleben in ihren Schoß herab, erbarmungslos, als müsse sie zurückgewinnen, was sie einst freudig hergegeben! Das letzte Mal wars gewesen, daß Cedes den Wald, die Flur von Dronninghof gesehen hatte. Zum letztenmal hatte sie die Luft dieser friedlichen Welt eingesogen. Eben in dieser Nacht erfaßte sie eine furchtbare Atemnot, ihr folgte ein wiederholter Blutsturz und eine Schwäche, die sie nicht mehr zu überwinden vermochte.

Ein Bote brachte in den Vormittagstunden die Kunde, und Kay ließ satteln und jagte nach Schleswig. Er suchte den Arzt in seiner Wohnung auf und stellte hastige Fragen. Ob's noch möglich sei, Cedes in den Süden zu schaffen? Kein Opfer sei ihm zu groß, seiner Schwägerin das Leben zu retten. Die Wahrscheinlichkeit einer Genesung sei nach menschlichen Erfahrungen so gut wie ausgeschlossen, entgegnete der Gefragte. Auch könne eine Reise erst angetreten werden, wenn die Komtesse diesen Anfall einigermaßen überwunden haben würde. Zur Zeit sei nicht daran zu denken. Und nochmals! Wenn er ehrliche Anwort erteilen solle, verspreche er sich überhaupt keinerlei Hilfe mehr. –

Kay. der ruhige, besonnene Mann war völlig fassungslos. Bevor er Schliebens Haus betrat, begab er sich in den Garten des Gasthofes, in dem er abgestiegen war, und suchte in der Stille der Natur seine Gedanken zu sammeln.

Kein Mittel, gar kein Mittel sollte es geben? Es würde also Wahrheit werden? Carmelita sollte ihre Mutter, die rechte, stellvertretende Mutter, ihre beste Freundin verlieren? Er, Kay, sollte Cedes' Stimme nicht mehr hören, ihr Lächeln sollte ihn nicht mehr erheitern, er sollte ihr nicht mehr in den einsamen Stunden sein Herz ausschütten und an ihrer Liebe sich erwärmen dürfen?

Doch, doch, es konnte noch geholfen werden! Es gab Mittel, die in solchen Krisen doch noch ihre Wirkung übten! Sie mußten angewendet werden!

Kay beschloß, einem der hervorragendsten Ärzte in Hamburg zu telegraphieren, um ihn an das Krankenlager zu berufen.

Und wenn Cedes sich wieder einigermaßen gekräftigt hatte, wollte er sie selbst nach dem Süden, nach Madeira bringen, und Carmelita sollte sie begleiten. Sicher würde sie völlig gesund zurückkehren!

Hoffnungen pflanzte Kay auf, weil immer wieder sehnliche Wünsche in seiner Brust emporstiegen. Er klammerte sich an seine Vorstellungen, weil der Gedanke an ihren Tod ihn fast verzweifeln ließ. Was sollte er noch auf der Welt, wenn sie dahinging? – Freilich das war nicht das Rechte. Carmelita – die anderen Kinder – Clementina-Julia – Auch Clementina-Julia? Nein! Für sie war so gut wie nichts mehr in seinem Herzen – –

Als Kay endlich den Weg zu seinen Schwiegereltern nahm, begegnete ihm Bomstorff, der schon früh am Tage eine Wanderung in die Stadt angetreten hatte.

»Ah, guten Morgen, Vetter!« rief er. »Was führt Euch so zeitig in den Sonnenschein dieser guten Stadt der Langeweile?«

Als Kay berichtete, wurden Bomstorffs Mienen sehr ernst, und er strich sich langsam den Bart.

»Du siehst,« citierte er, auf sich selbst angewandt, »unglücklich sind wir nicht allein! Der Schauplatz dieser weiten Welt umfaßt noch trübere Dinge, als die Scene heut, die uns ward angewiesen.« Und zu Kay sprechend, fuhr er fort: »Gott helfe, daß der Arzt nicht recht behält. Aller menschlichen Weisheit spottet die Natur, so wird auch diese holde Blüte dem Todeswurm nicht erliegen. Mir ist heute zu Mute, als seien tollgewordene Krebse in meinem Körper. Das langsame Hin und Her dieser schleichenden Riesenameisen mit ihren kneifenden Zangen ließ mich schon die ganze Nacht nicht schlafen. Ich könnte das Dasein leugnen vor Schmerz.«

»Ich will Euch den Arzt schicken,« erklärte Kay teilnehmend, zugleich zum Gehen sich anschickend. »Ihr müßt etwas für Euch thun, Vetter –«

»Einen Arzt?« spottete Bomstorff. »Nein, tausend Dank Gevatter! Ich kann ihn nicht gebrauchen! Nirgend fährt die Erfahrung in so lecken Schiffen wie bei ihnen. Natürlich! Wenn sie uns eben den Puls gefühlt haben, hat's oft die Natur schon anders beschlossen, und während sie die Rezepte schreiben, wissen es die Ehrlichen unter ihnen, daß ihre Buchstaben meistens doch nur die Ladenschublade des Apothekers und ihre eigenen Taschen füllen. Ich will jetzt in die Ressource gehen und eine sprudelnde halbe Flasche goldweißen Sekt mit einem ganzen Gläschen alten Cognac mischen. Das giebt frohe Gedanken, und mit ihnen kann man selbst Gevatter Sensenmann querfeldein jagen! Auf die Wiedergenesung unseres herrlichen weißen Schwans, auf unsere schöne Komtesse Mercedes, werde ich die andere halbe leeren und mein Glas mit leuchtenden Hoffnungsblüten umwinden. Ihr seht, Vetter, Sterbende haben auch noch gesunde Einfälle, und der Gott sei gelobt, der gläubigen Seelen Licht im Finstern giebt und in Verzweiflung Trost.«

Nach diesen Worten schüttelte er Kay mit zärtlichem Ausdruck die Hand und zog hinkend seines Weges.» –

Diesmal fand Kay Mercedes nicht in dem sonnenbeschienenen Gemach, in dem er vor der Londoner Reise von ihr Abschied genommen hatte.

Sie lag in ihrem Schlafzimmer. Die kranken, mit den feinen blauen Adern durchzogenen Hände ruhten erschlafft auf der seidenen Decke, und eine Blässe bedeckte ihr Angesicht, und mit einem Ausdruck wandte sie den Blick zu ihm, daß Kay zusammenschrak.

»Nun ist es bald so weit –« hub sie sanft an, als er sich neben ihr niederließ und ihre feuchte Rechte an seine Lippen drückte.

»Und weine nicht, Mama!« bat sie, als sie sah, daß ihrer Mutter bei diesen Worten Tränen in die Augen traten, daß sie vergeblich kämpfte, ihrer erdrückenden Empfindungen Herr zu werden. »Ich wäre doch nie wieder gesund geworden, und besser ein kurzes Ende, als lange Jahre der Qual. Wie gut, wie barmherzig, daß Du gleich gekommen bist, Kay!«

Sie sah ihn an; auch in seinen Augen war es feucht geworden, und nun eben lösten sich einige Tropfen, die langsam über seine Wangen rieselten.

Und da zog Cedes, belehrt, daß ihre Umgebung die Hoffnung verloren habe, die Hände rasch und plötzlich an ihr Angesicht und schluchzte herzzerreißend.

Und kein Laut sonst in dem Gemach.

Die Trauer ging mit langen, grauen Schleiern durch die Räume und hemmte selbst ein lautes Atemholen.

Und dann begann es im Nebenzimmer lebendig zu werden; man hörte das lustige Hüpfen des Kanarienvogels auf den Stäben, und als nun eben die Sonne mit breitem Strahl das Gemach durchflutete, stimmte er seine zwitschernden Melodien an. Zuletzt schmetterte er gar ein lautes Lied aus der Kehle. Aber wie eine unzarte Störung wirkte dieser Gesang in dem durch einen so unermeßlichen Schmerz hervorgerufenen wortlosen Schweigen.

Kay erhob sich auch, um das Geräusch zu dämpfen.

»Nein, nein! Ich bitte, laß ihn, Kay! Wenn er singt. steigt wieder Hoffnung in mir auf. Bin ich denn weniger als dieser kleine gefiederte Sänger –? Darf er leben und sich des Daseins freuen, und muß ich – ich –«

Sie brach ab, und noch einmal verbarg sie das Antlitz unter ihren Händen.

»Mein Kind, mein teures Kind!« flüsterte Cedes' Mutter, unter dem Jammer dieser Töne schier erstickend. »Komm! Beruhige Dich! Sprich nicht so viel. Wir wollen gehen. Du bedarfst der Ruhe. Jede Aufregung ist Dir schädlich!«

Und sie gab Kay ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Nein, geht nicht!« bat Cedes mit einem flehenden, das Mitleid noch stärker weckenden Ausdruck in den Augen. »Es schadet mir nichts. Gerade jetzt ist mir besser, ja – so wohl, daß ich gar kein Unbehagen fühle. Ach! die Einsamkeit – das Nachdenken – nimmt mir allen Mut – und ich brauche ihn – –«

Aber sie gingen doch und versprachen, wiederzukehren. An das Schlafpulver, das der Arzt verordnet hatte, um der Kranken nach den heftigen Unfällen vor allem Ruhe zu schaffen, erinnerte die Gräfin, und Cedes gab nach. –

Jeden Tag sandte Kay Blumen. Am Morgen und um die Nachmittagszeit standen weiße, gelbe und rote Rosen auf dem Tische neben ihrem Bett. Und jeden Tag erschien er selbst um die Mittagszeit und suchte sie durch Trost und heitere Gespräche aufzurichten.

Er ließ alles vor ihr aufsteigen, was sie froh beleben konnte. Sie war mit ihm unterwegs. Die warme Sonne beschien sie, die herrlichen Bilder des Südens erschienen vor ihrem Auge, die milde Luft besänftigte die kranke Brust, und sie fühlte, wie ihre Gesundheit, wie ihre Kräfte zurückkehrten.

Carmelita war mit ihnen und um sie. Sie dachten nicht an Heimkehr, sie genossen das Zusammensein, unternahmen Spazierfahrten und saßen beisammen an gedeckter Tafel, sie schwatzten und lachten, lasen sich vor und musizierten, und jedes Tages Neige war eine Zuversicht mehr, und jedes Tages Kommen und Gehen eine neue Hoffnung auf wiedergewonnenes Glück.

Oft lächelte Cedes bei solchen Schilderungen wie verklärt. Dieses Kranksein mit Kays täglichen Besuchen und zarten Aufmerksamkeiten schien ihr das herrlichste Leben, das sie bisher gelebt, und wenn er ging, hielt die Hoffnung auf ein Morgen sie aufrecht, und wenn er kam, durchdrang sie, wie ihr kleines Vögelchen, ein Gefühl seliger Lebensfreude.

Und doch ward sie von Tag zu Tag schwächer, und nur die tröstenden Worte des Mitleids, die ihre Umgebung sprach, und die sie jetzt als Wahrheit schätzte, weil sie doch wieder hoffte, – hielten sie langer aufrecht und scheuchten den Tod.

Als Kay nach einigen Wochen, um die späte Nachmittagszeit allein das Krankenzimmer betrat und mit rücksichtsvoll gedämpften Schritten und leisen Worten sich näherte, ward ihm keine Antwort.

Er nahm an, daß Cedes schlafe und wollte sich bereits wieder zurückziehen, als ein schwaches. »Ist jemand da? Ich möchte – trinken. – Licht, – – Licht, – bitte« – an sein Ohr schlug. –

»Ich bin's, Kay!« hub der Mann an und trat mit behutsamen Schritten näher.

»Ah! Du – Du –!« drang's langgezogen, sehnsüchtig aus der Kranken Munde.

»Ich will eine Lampe anzünden. Auch wolltest Du etwas genießen. Ich werde schellen,« betonte Kay.

»Nein, nein, komm! Ich möchte Dich sprechen. Wir sind allein, Kay?«

Sie erhob sich mühsam, schob die Bettvorhänge beiseite, blieb in dieser halb aufrechten Stellung und suchte seinen Blick.

»O, komm, komm!« flüsterte sie noch einmal, und die Augen glänzten in einem seltsamen Feuer.

Das Nachtgewand hatte sich verschoben und zeigte die unnachahmlich zarten Farben, aber auch die geschwundene Fülle ihrer einst so wundervollen Körperformen.

Und als er nun ihrem Wunsche folgte und sich ihr näherte, entbot sie ihn durch einen Blick neben sich, hob sich mit sichtlicher Anstrengung noch höher empor und schlug, seiner eigenen Bewegung folgend, ihre mageren, kranken Arme um seinen Hals.

»Einmal, einmal noch ehe ich sterbe, wollte ich mein Herz klopfen hören an dem Deinen, einmal noch fühlen, daß Du mich liebst. Liebst Du mich noch, Kay? Zürnst Du mir, daß ich in der Todesstunde zu Dir komme und beim Abschied um dieses Wort flehe? Vergieb mir! Vergieb, da nun doch alles bald aus ist, Wind und Regen kommen werden wie immer, und auch die Menschen wachen, schlafen, träumen, plaudern, sich bekämpfen und versöhnen werden, wie vordem, jeden Tag, trotzdem ein Mensch seinen Atem aushauchte. Wer fordert Rechenschaft, wenn der Tod den Mund stumm machte? Alles erscheint nichtig in der Stunde des Sterbens. Ich umarme Dich – und noch einmal! Ah! Welche Seligkeit durchströmt mein Inneres! Und Dank, Kay, innigsten Dank für alles Gute. Wenn es eine Zukunft und einen Gott giebt – ich glaube an ein unsichtbares höheres, mitleidiges Wesen – dann will ich in jener Welt verkünden, es sagen, welch ein edler, seltener Mensch Du bist!«

Kay durchzitterte ein unaussprechlicher Schmerzensschauer. Er fürchtete, ihrem zarten Körper wehe zu thun, wenn er sie an sich zog, und doch preßte er die Kranke immer und immer wieder an sein Herz.

Und dann öffnete sich plötzlich die Thür, und Clementina-Julia mit ihrem schleppenden Schritt erschien und prallte zurück, als sie sah, wie ihr Mann in den Armen ihrer Schwester lag.

»Kay –« zitterte die Stimme der Frau und – »Kay –!« verklang's wild und zornig und mit rachsüchtigem Grimm zugleich.

*           *
*

Sie fuhren durch den dämmernden Abend und saßen nebeneinander wie zwei Menschen, die sich bisher nie sahen, gleich Reisenden, die, durch den Zufall zusammengeführt, keinerlei Bedürfnis empfinden, ein Gespräch oder gar eine nähere Bekanntschaft anzuknüpfen.

Clementina-Julia schaute rechts, und Kay schaute links in die Gärten der Landschaft, oder sein Auge blieb haften an einem gleichgültigen Gegenstand: an den zwei blanken Knöpfen des Kutscherrocks, oder an den spitz in die Höhe gestreckten Ohren der schnell trabenden Pferde, die von den Sommerfliegen umspielt und belästigt wurden.

In seine Gedanken über das Geschehene und Kommende mischte sich in hartnäckiger Wiederholung das Nebensächliche.

Er sah die Suchpunkte an der Schlüsselöffnung seines Schreibpultes. Während er sorgend überlegte, wie alles sich gestalten solle nach Cedes' Tode, drängten sich die Bilder in seine Vorstellung. Er mühte sich vergeblich, eine glatte, unberührte Fläche vor seinem inneren Auge erscheinen zu lassen, und gleichzeitig bemächtigten sich seiner andere Vorstellungen.

»Wenn Deine Stunden nicht gezählt wären –!« hatte Clementina-Julia in gedämpfter, aber vor Wut bebender Stimme geflüstert und so heftig die Hand ihrer Schwester ergriffen, daß sie mit einem Aufschrei zurückgefallen war. Aber ebenso rasch hatte sich die Kranke auch wieder emporgerichtet, und bevor noch der drohende Schlußsatz Clementina-Julias Munde entwichen war, ihr heiser zugehaucht: »Halt! Sprich nicht mehr, damit Dich's nicht gereut für ein ganzes langes Leben. Es ist wahr! Ja, meine Stunden sind gezählt. Bezwinge Dich also in der Todesstunde, Julia – und höre und wisse –« hier fiel die Stimme in einen feierlichen, nur der Horchenden vernehmbaren Ton herab, »Ich schwöre Dir bei dem Höchsten, daß ich Dir nichts nahm, worauf Du allein ein Recht hattest. Freundschaft verband uns, und was Du eben sahest, war der Scheidekuß, den ein Bruder der Schwester gab. –«

Clementina-Julia bewegte die Mundwinkel. Kein versöhnender Blick, viel weniger ein gutes Wort kam über ihre Lippen, und als nun gerade der Arzt in Begleitung ihrer Mutter das Krankenzimmer betrat, nahm sie deren Kommen als Vorwand zum Gehen, bot Cedes nicht einmal Adieu und sagte, sich mit kalter Miene zu dem während der Rede ins Nebenzimmer getretenen Kay wendend:

»Ich habe meine Besorgungen gemacht! Der Wagen wartet unten nach unserer Abrede! Fahren wir?«

Kay bewegte, kurz beipflichtend, den Kopf und trat an das Bett der Kranken zurück.

»Morgen, Cedes, – morgen in der Frühe – Adieu –!«

Während er ihre Hand faßte, sah sie flehend zu ihm empor, und für Augenblicke hing ihr Blick mit einem Ausdruck an seinem Antlitz, als sei seine Entfernung Sterben in dieser Sekunde. Dann aber neigte sie still das Haupt. –

Als Kay und Clementina-Julia in den Pachthof einbogen, sahen sie Bomstorff und Carmelita auf dem breiten Stamm einer jüngst gefällten und hier neben dem gepflasterten Wege zunächst niedergelegten Buche beisammensitzen.

Bomstorff erschien mit seiner großen Gestalt, dem langen Barte und der dunklen Kleidung wie ein Prophet, und Carmelita, die ein buntes Kopftuch um das Haupt geschlungen hatte, wie ein nicht in diese Welt gehörendes, fremdes Wesen.

Er sprach langsam und gemessen und begleitete seine Worte mit Bewegungen seiner Arme, während sie das Haupt träumerisch zurückgelehnt hatte und ihm mit halb offenem Munde zuhörte.

»Ah! Da kommen die Herrschaften, mein schwarzer Diamant! –« rief Bomstorff, als Huftritte ertönten, und zwei Pferdeköpfe im Hofportal erschienen. Carmelita sprang empor, lief einige Schritte vorwärts und schwenkte ein rasch hervorgezogenes, weißes Spitzentüchlein. Ihre lebhaften Blicke gingen zu ihrem Papa.

»Willkommen! Willkommen!« rief sie. Aber in dem Auge ihres Vaters lag heute nicht der alte, zärtliche Ausdruck; er gab ihre Grüße ernst zurück, und ihre Mutter saß in dem Wagen, als sei sie aus Stein gemeißelt.

Carmelita wußte, daß etwas Besonderes vorgefallen war.

»Wie geht's Tante?« fragte sie befangen und griff nach ihres Vaters ausgestreckter Rechten.

»Und darf auch ich meine Ungeduld befriedigen?« fügte Bomstorff, näher tretend und sich ehrerbietig vor der Gräfin verneigend, hinzu.

Die Frau gab keine Antwort. Sie sah ihn so kalt an, als sei er ein Fremder und habe gar nicht gesprochen.

»Kommt hinauf zum Abendessen, ich bitte, Vetter! Ich erzähle Euch dann von der armen Kranken –« erwiderte Kay mit trüb ernster Miene. –

Bomstorff verbeugte sich; der Wagen setzte sich auf Kays Wink rasch in Bewegung, und der Prophet folgte mit seiner Schülerin langsam über den von den sinkenden Abendschatten eingehüllten Hofplatz.

Bevor Kay und Clementina-Julia das Gefährt verließen, brach sie das Schweigen.

»Ah! Welch ein furchtbarer Egoist bist Du doch, Kay!« stieß sie mit bebender Stimme heraus.

»Und woraus leitest Du das gerade heute ab?« fragte er ohne Erregung in der Stimme.

»Ist Mangel an Rücksicht gegen die Umgebung kein Egoismus? Gerade diejenigen Personen, die ich mit glühender Seele zu hassen ein Recht habe, sind Deine Freunde und Lieblinge. Wo sich nur immer eine Gelegenheit bietet, opferst Du mich, um sie –«

»Nein!« erwiderte Kay mit stolzer Ruhe. »Das sind klingende Sätze ohne berechtigten Inhalt. Wenn Du nachdenken willst, triffst Du das Rechte.« Und die leise gesprochene Rede abbrechend, befahl er: »Nehmen Sie die Packete und die Kiste vom Wagen, Konrad!«

Nun stiegen sie aus.


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