Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Viertes Kapitel.

Es war gegen Ende des Frühlings, als Mercedes in Dronninghof erwartet wurde. Clementina-Julia, obwohl durchaus nicht erfreut durch den Besuch, hatte sich von ihrer Klugheit leiten lassen, dem keinen Widerstand entgegenzusetzen. Es wäre allzu auffallend gewesen, wenn sie ihre Schwester nicht selbst mit den freundlichsten Worten eingeladen hätte. Schon als Entgeld für die Sorge, welche diese für Carmelita an den Tag gelegt, war solches nicht zu umgehen gewesen.

Mercedes brachte Carmelita nunmehr zu einem dauernden Aufenthalt nach Dronninghof. Es war beschlossen worden, sie noch vor den Jahren ihrer Konfirmation in Schleswig eine gute Schule besuchen zu lassen, den Unterricht durch Privatstunden zu vervollständigen, und sie später, nach einem Aufenthalt in der französischen Schweiz, ihrer Mutter und den Geschwistern zuzugesellen.

Kay stand zum Empfange seiner Tochter und Mercedes' am Bahnhofe. Soeben hatte er den mit zwei feurigen Schwarzen bespannten Wagen, der die Ankömmlinge nach Dronninghof führen sollte, verlassen, und neben ihm schwatzte sein Verwandter, Baron von Bomstorff, mit pathetischer Rede.

»Ich bin begierig, lieber Freund und Vetter, Ihr Töchterchen kennen zu lernen, auch die schöne Komtesse Mercedes zu begrüßen, deren Lob die Vögel in Dronninghof zwitschern. Vor Jahren – Sie wissen – sah ich sie – noch etwas jung und ungelenk – aber schon mit den Merkmalen ihrer sich energisch entwickelnden Schönheit. Ich bemerke, es ist noch früh! Wie wär's, wenn wir eine Flasche Portwein auf das Wohl der Kleinen und der Komtesse trinken würden?«

Kay lächelte und folgte dem seltsamen Menschen, der heute gerade besonders theatralisch aussah. Hinter ihm gingen zwei große, an den Halsbändern zusammengekettete, abgemagerte Windhunde, denen man den unbefriedigten Hunger ansah. Sie paßten zu seiner eigenen Erscheinung und kennzeichneten zugleich das Wesen des Mannes, der wenig oder nichts zum Leben besaß und doch immer irgend eine auffällige oder kostspielige Passion zum Ausdruck bringen mußte.

Kay war in die Verpflichtungen des Grafen Felix ohne Einschränkung eingetreten. Bereits vier Wochen nach dem Tode seines Vaters empfing er von Bomstorff ein Schreiben, das die Geldangelegenheit berührte, und dessen Inhalt und Abfassung jenen nur allzusehr charakterisierten. Er schrieb:

»Liebwerter Vetter und wohlgeneigter Gönner! Ich vermute Sie im Besitz meiner Zeilen, in denen ich Ihnen meinen Schmerz über den Tod der unvergeßlichen Excellenz aussprach. Ich wiederhole den Ausdruck meiner Teilnahme und hoffe, daß die Zeit, die alles bewältigende Trösterin, auch Ihren berechtigten Kummer über den Verlust mildern wird.

Mit der verstorbenen Excellenz nahm ein vollkommener Kavalier vom Leben Abschied, einer jener Männer, die mit dem Blutstropfen der noblesse geboren werden und deshalb nichts mehr in sich zu veredeln vermögen.

Berufen, in dieser vielfarbigen Welt eine andere Stellung einzunehmen als die Millionenzahl der Zufallskreaturen, welche den Erdball mehr nach den Gesetzen des Stoffwechsels bevölkern, als daß ihr Erscheinen der fortschreitenden Kulturentwickelung irgendwie dienlich sein könnte, war sein früher Tod nicht nur für seine Angehörigen und Verwandten ein außerordentlicher Verlust.

Wie sehr er diesen seine Gedanken und sein Interesse zuwandte, möge Ihnen das in Abschrift angelegte Schriftstück beweisen.

Meinen bescheidenen Einwendungen begegnete er mit der Äußerung, daß Verwandtschaft ein inhaltreiches Wort sei, und dem dringenden Ansuchen, das seine Pietät ihm diktierte, vermochte ich auf die Dauer keinen Widerstand entgegenzusetzen.

Zudem befinden sich in den Büchern derjenigen Familien, zu denen wir gehören, und von denen wir unsern Stammbaum ableiten, vorzugsweise Paragraphen, die sich auf die Aufrechterhaltung und Wahrung unserer Standesehre beziehen, und so war es ein alter, guter, herkömmlicher Brauch, daß die vom Glücke Auserwählten den weniger Begünstigten zur Seite standen.

Besäße ich heute noch die Güter und Schlösser meiner Urgroßeltern, würde auch ich es mir angelegen sein lassen, solche Anschauungen in Thaten umzusetzen.

Und Sie, liebwerter Vetter und wohlgeneigter Gönner, denken wie ich! Und so bitte ich Sie um geneigte Bestätigung der angeschlossenen Akte, wobei ich es Ihrem hochherzigen Ermessen gern überlasse, die Summe zu erhöhen, welche überhaupt in Empfang zu nehmen ich der verstorbenen Exzellenz aus den entwickelten Umständen und Anschauungen nicht abzuschlagen vermochte.

Gestatten Sie mir, liebwerter Vetter, hoffen zu dürfen, daß keine Fehlbitte gethan hat

Ihr
im Voraus dankbarer Vetter

Baron Hugo von Bomstorff.«

Als Kay beim Anstoßen der Gläser die Frage nach seines Verwandten gegenwärtigem Thun und Treiben aufwarf, sagte Bomstorff:

»Ich erbaue mich in Ermangelung anderer Beschäftigung einmal wieder an den Schöpfungen der alten großen Pfadfinder des menschlichen Geistes. Mein Hauptquell ist William Shakespeare, den siebenzig weise Ammen gesäugt haben müssen, der mit seinem Scharfsinn die Jahrtausende im voraus durchdrang, dessen Geist bis in den Himmel ragt, und vor dessen Ingenium die Welt noch bewundernd auf den Knieen liegen wird, wenn die Cervantes, Fielding, Rabelais und Le Sage kaum noch dem Namen nach gekannt werden. Ich studiere zudem wie Faust alles, was mein Inneres zu fesseln vermag, und meinen Mephisto habe ich mir selbst aufgezogen;« (hier lachte Bomstorff laut und cynisch) »er führt mich täglich in den Auerbachschen Keller. Aber da höre ich bereits Macbeths Hexen schreien! Der Zug kommt. Ich bin so frei, mich nächstens persönlich auf Dronninghof nach dem Befinden der von mir hochverehrten Reisenden zu erkundigen.«

Bomstorff blieb sitzen. Kay aber bezahlte rasch den Portwein und eilte auf den Perron.

»Du schreibst,« begann Kay auf der Fahrt, zu Mercedes gewendet, »daß Du nur kurze Zeit bei uns bleiben kannst. Was sind das für schlechte Pläne! Ich denke, Du richtest Dich für eine recht lange Zeit ein. Deine Eltern können Dich sehr wohl entbehren, und uns machst Du eine große Freude.«

»Ja, bitte, bitte!« rief Carmelita bei diesen Worten stürmisch, schmiegte sich an Mercedes an und drückte ihr in zärtlicher Aufwallung den Arm. Der Gedanke, sich von ihrer Tante trennen zu sollen, beunruhigte sie außerordentlich.

»Dein Anerbieten ist sehr gütig« erwiderte Mercedes, »und ich möchte es nur allzu gern annehmen, aber –« sie stockte und senkte die Augen.

»Aber? – Es giebt kein Aber!«

»Doch, es giebt eines, viele,« erwiderte Mercedes mit einem für Kay verständnisvollen Ausdruck in den Mienen. »Ich denke, wir sprechen noch weiter darüber.«

Kay heftete den Blick auf das schöne Mädchen, und während sein Auge auf ihr ruhte, trat die Erinnerung an frühere Tage in sein Gedächtnis.

Mercedes fühlte, obschon abgewendet, daß er sie anblickte; sie wußte, woran er dachte, und eine rasche Röte zog wie eine Flamme über ihr Angesicht. Verwirrt wandte sie sich zu Carmelita, die mit einer Halskette beschäftigt war, sprach gütig auf sie ein und half ihr die gelösten Ringe befestigen.

Kay beobachtete beider Thun. Carmelita ordnete sich allem, was Mercedes ihr vorschrieb, mit einer so sanften Bescheidenheit unter, des Mädchens guter Einfluß auf dieses lebhafte und etwas eigenwillige Wesen trat so deutlich zu Tage, daß Kay sich seinen Gedanken über die bevorstehende Trennung immer von neuem hingab.

Als sie die Stadt hinter sich hatten und, dem Landweg nach Dronninghof folgend, eine Anhöhe erreichten, hieß Mercedes den Kutscher halten, richtete sich empor und überschaute die Landschaft.

»Ah! Wie ich diesen Augenblick ersehnt habe!« rief sie, streckte die Arme aus und holte tief Atem. »Wie herrlich, wie unvergleichlich ist der Blick! Und wie liebe ich das Land und gerade diese Gegend mit ihren grünen Feldern, Äckern, Ebenen und Wiesen. Sieh, sieh, Kay, wie schön die Kirche unter den Bäumen hervorragt, und dort drüben die Au mit ihren Ufern.«

Die Pferde schnauften. Die Fliegen summten in der Hitze, der Duft der dampfenden Tiere und des Leders erfüllte die Luft, und von den Wällen der Knicke drang der scharfe Geruch des Storchschnabels und der von Morgentau gesättigten Erde zu ihnen empor.

Carmelita starrte alles mit großen, funkelnden Augen an. Doch war sie empfänglich für die Schönheiten der Natur, ebenso wirkten sie noch auf sie ein, ohne daß sie sich des Eindruckes bewußt ward.

»Alle die weißen Vögel über der Insel, Cedes, sieh!« rief sie und zeigte mit der Hand in die Ferne.

»Das sind Möven, Carmelita! Sie kommen jedes Jahr im Frühling, brüten und ziehen im Herbst wieder fort!« erklärte Mercedes.

Die Art und Weise, in der sie die Kleine anleitete, erfüllte Kay mit Bewunderung. Niemals handelte sie nach Einfällen oder nach Launen. Nie ward sie heftig oder ungeduldig, und noch weniger stand sie schulmeisternd über ihr. Sie ließ sie sich frei bewegen und ihren Neigungen folgen. Deshalb hatte Carmelita auch etwas Ungekünsteltes, Natürliches behalten. Sie war ein Kind geblieben. Und wie anziehend war ihre Erscheinung mit dem feinen, durchgeistigten Gesicht, den dunklen Augen und dem ausdrucksvollen Lächeln!

Glänzendes schwarzes Haar fiel bis auf die Schultern, umrahmte die Wangen und hob die zarten Farben. Wenn sie so dastand mit der ihr eigenen Grazie und anmutigen Beweglichkeit, den biegsam schlanken Körper wiegte und sich voll Lebhaftigkeit den Eindrücken hingab, konnte man den Blick nicht von ihr lassen.

»Nun sind wir gleich da. – Da ist schon Dronninghof!« jubilierte sie, als der Kutscher in einen von hohen Buchen umsäumten Weg einbog.

Die Kleine richtete sich empor, und während sie sich neugierig umschaute, trafen sich Mercedes' und Kays Blicke in raschem Hin und Her.

In diesen Blicken lag eine tiefe, stumme Sprache. Sie liebten sich, aber sie liebten sich in gutem Sinne, und ihre vornehmen Naturen unterdrückten alle Nebenempfindungen, die mit dem Wesen dieser ehrlichen Liebe keine Gemeinschaft haben durften.

Auf der Treppe des Schlosses stand Clementina-Julia. An ihrer Hand hatte sie Kay und Julia. Carmelita sprang wie ein Eichhörnchen vom Wagen, flog die Treppe empor und umarmte ihre Geschwister mit stürmischen Bewegungen. In ihrem ungestümen Jubel gedachte sie zunächst nicht der Mutter.

»Nun? Und für mich hast Du gar keinen Blick und Gruß?« – erinnerte die Frau, ihre Verstimmung nur schlecht verbergend.

»Sie vergaß Dich in der Freude über die Geschwister!« entschuldigte Mercedes mit raschen Worten, neigte nun auch selbst sich hinab und herzte die Kleinen, die in ihren weißen Kleidern wie eben aufgebrochene Schneeblüten dastanden.

»So nun geh erst zu Katharina, daß sie Dich umzieht!« entschied Clementina-Julia zu Carmelita gewendet mit dem gewohnten, kalten Ton in der Stimme.

»Ach, ich möchte gleich mal in den Pferde- und Kuhstall, Mama, bitte!« schmeichelte das Kind, dessen lebhafte Augen die ungewohnt auftauchenden Bilder begierig aufgesogen hatten.

»Nein, jetzt gehst Du mit Katharina!« befahl Clementina-Julia mit einem Ausdruck, der keinen Widerspruch duldete.

Die Genannte trat näher und führte das Kind unter begütigendem Zureden fort. Aber Carmelita zog den Mund, in ihre Augen traten ein böser Blick und Tränen.

Die Mienen der Frau verfinsterten sich, aber sie sagte nichts.

Kay hatte nur die erste Begegnung zwischen seiner Frau und seinem Kinde beobachtet. Er sah ihre kalten Mienen, bewegte finsterblickend das Haupt und wandte sich in seine Gemächer, die gleich am Eingange zur Linken lagen.

Nun fuhr der Wagen mit den dampfenden Pferden über den Hof zurück. Zwei Hofhunde kamen herangejagt, und ihr Bellen verklang rasch. Sie haschten sich nur und verschwanden in dem dichten Gebüsch des zur Rechten gelegenen, großen Gemüsegartens.

Eben flog eine Schar Tauben empor. Ihr schneeweißes Gefieder stach reizvoll ab von der blauen Luft. Und die Sonne vergoldete alles in dieser stillen Welt, und die Ruhe ward nur unterbrochen durch den langsam schwerfälligen Schritt der Tiere, die in den Stall gezogen wurden. –

Als am Nachmittag dieses ersten Tages der Kaffee auf dem zu dem Gartenzimmer gehörenden Balkon eingenommen ward und von einem Ausfluge zu Wagen in die Umgegend die Rede war, trat Carmelita an ihre Tante heran und fragte flüsternd, ob sie mitgenommen werden würde.

Kay saß rauchend und die Zeitung lesend zur Linken in einem Schaukelstuhl, hatte nach seiner Gewohnheit die Beine übereinandergeschlagen und einen breitgeränderten Strohhut tief in den Nacken geschoben.

Clementina-Julia aber stand gegenüber an einem Kaffeetisch und goß aus dem soeben von dem Diener herbeigebrachten silbernen Kessel heißes Wasser in die Maschine.

»Kannst Du Dir das Flüstern nicht abgewöhnen, Kind?« hub sie, zu Carmelita gewendet, mit scharfem Tadel in der Stimme an.

»Sie fragte, ob sie heute mitfahren dürfe?« schaltete Mercedes besänftigend ein.

»Wir werden das überlegen. – Heute, am ersten Tage der Ankunft, vielleicht! Sonst müssen Kinder nicht immer alles mitmachen wollen, was die Erwachsenen vornehmen.«

Über Carmelitas Gesicht flogen in raschem Wechsel allerlei helle und dunkle Schatten, aber ihre großen Augen bettelten nach Kinderart – die Kränkung rasch vergessend – bei ihrer Mutter um ein unbedingtes Gewähren.

»Bitte, bitte, Mama!« flüsterte sie und trat ihrer Mutter näher.

Aber die Mienen der Frau blieben streng, und ohne eine entgegenkommende Bewegung wiederholte sie, die Tassen auf dem ziselierten, silbernen Theebrett ordnend: »Wir werden sehen.«

»Sie wird an der Fahrt teilnehmen!« ertönte nun plötzlich eine entschiedene Stimme.

Clementina-Julia ließ die Theelöffel aus der Hand gleiten, richtete sich hoch empor und sah ihren Mann an.

»Geh, Lita, und suche in meinem Zimmer nach dem Kursbuch. Es wird auf meinem Schreibtisch liegen. Du weißt, ein gelbes, dickes Buch?« hub Kay mit gütigem Ausdruck in der Stimme an.

Die Kleine flog davon.

Als sie fort war, streifte Kay mit raschem Blicke Mercedes' Angesicht, die, unthätig zurückgelehnt, aber mit erregten Augen dasaß. Dann sagte er zu seiner Frau: »Ich schicke Lita fort, weil ich die Angelegenheit gleich besprechen möchte. Weshalb soll sie nicht mitfahren, heute und in Zukunft?«

»Du kennst meine Ansichten. Dergleichen muß für Kinder eine Ausnahme sein« – erwiderte die Frau. »Zudem ist das viele Zusammensein mit den Erwachsenen nicht gut. Sie hören leicht einmal Dinge, die ihnen in ihrem Alter besser vorenthalten bleiben, und die fortwährende Rücksichtnahme auf die Jugend legt einem einen lästigen Zwang auf.«

»Wann soll man denn mit seinen Kindern sein? Der Morgen hat seine Pflichten. Bei Tisch ist ihnen das Mitsprechen verboten. Wenn der Abend beginnt, kommt für sie die Bettzeit. Ich möchte sagen, daß keine Gelegenheit günstiger ist, auf sie einzuwirken und sich mit ihnen zu beschäftigen, als eine Ausfahrt. Ihnen die Natur vertraut zu machen, ist zudem eine Sache der Pflicht. – Was meinst Du, Cedes?« fuhr Kay etwas unüberlegt fort.

Cedes sah ihren Schwager mit einem eignen Blick an. Sie sagte nichts.

Clementina-Julia aber nahm sogleich das Wort: »Es ist recht schlimm, daß wir in unseren Ansichten so sehr abweichen,« begann sie. »Wir fassen diese Sache auch verschieden auf. Ich meine vornehmlich, daß es bedenklich ist, Kindern Vergnügungen zu Gewohnheiten zu machen. Und, wie ich bereits erwähnte, wenn schon das Beisammensein bei Tisch einen Zwang auferlegt, einmal möchte man sich dessen doch entäußern.

»Dazu ist der Abend da!« gab Kay kurz zurück.

Clementina-Julia zuckte die Achseln und stellte ihrem Manne wortlos den Kaffee auf den kleinen Nebentisch.

»Du wünscht ihn nicht so stark, Mercedes?« fragte sie gleichzeitig und forschte in den Mienen ihrer Schwester, die sich zuvorkommend erhob und antwortete.

Jetzt stürmte Carmelita wieder ins Zimmer und vergaß, die Thür zu schließen. Vom Flur her entstand ein heftiger Zug.

»Schließe die Thür, Kind!« rief Clementina Julia ungeduldig, und die unbefangene fröhliche Miene des Kindes wich jenem Ausdruck der Enttäuschung, welcher uns unsere Kinder so rührend erscheinen läßt.

»Wie unfreundlich Du bist!« mahnte Kay mit sanftem Vorwurf.

Nun sprach niemand mehr. Kay blätterte in dem von Carmelita gebrachten Kursbuche. Die Frau trat an die Brüstung des Balkons und schaute hinaus über die großen Parkwiesen, und Mercedes und das Kind gingen mit leisen Schritten ins Nebenzimmer.

Nach einer Pause wandte sich Clementina-Julia zurück, lehnte die Thür an und sagte:

»Bei solchen Widersprüchen zwischen Versagen und Gewähren kann nie etwas Gutes gedeihen. Entweder überlasse mir die Erziehung oder –«

Jetzt kam das Fräulein von der Gartenseite und brachte die beiden Kleinen. Sie liefen schnell die Treppen empor und eilten auf ihre Mama zu. »Jetzt nicht!« befahl die Frau, kurz abwehrend, gab dem jungen Mädchen einen Wink und schob die Kinder zurück.

Kay, der eben hatte heftig aufbrausen wollen, ward durch diesen Zwischenfall abgelenkt. Gerechterweise mußte er zugestehen, daß Clementina-Julia auch gegen ihre Kleinen eine unerbittliche Strenge an den Tag legte.

Die Frau wußte, was in ihrem Manne vorging, und versicherte sich rasch ihres Vorteils.

»Du weißt, ich lasse auch Kay und Julia nichts hingehen. Der Wunsch, niemals parteiisch zu sein, macht mich sogar strenger, als ich es sein möchte. Glaube mir nur, daß die Erziehung in Hamburg eben so viele Schattenseiten, wie Vorteile hatte, Kay. Hast Du bemerkt, wie Carmelita bei Tisch sitzt, ißt und die Gabel gebraucht? Und vorlaut, verwöhnt und trotzig ist sie zudem. Das ist sehr schlimm.«

»Nein, das finde ich nicht, und das übrige? – Nun, ein Kind ist eben noch ein Kind!«

»Gewiß, aber einmal muß doch mit der Erziehung begonnen werden. Von ihren Kenntnissen weiß ich nichts; ich glaube, daß sie gute Fortschritte gemacht hat; sie schreibt hübsch und hat etwas gelernt. Auch ist sie musikalisch, und das Talent scheint gepflegt. Aber der Schwerpunkt liegt in anderen Dingen! Bescheidenheit, Gehorsam – von alledem ist wenig bei ihr zu bemerken.«

»Wie Du ungerecht bist!« stieß Kay heraus und zerknitterte die Zeitung in der Hand. Ein ungeduldiger Seufzer drang aus seinem Munde.

Was in diesem Laut lag, verstand Clementina-Julia nur zu gut.

Aber bevor die Frau antwortete, ward sie durch einen Vorgang im Garten abgezogen.

»Du sollst doch nichts abpflücken, Kay. Hörst Du nicht? Fräulein, wo sind Sie denn?« rief sie herrisch.

»Als ob nicht Millionen Gräser und Blumen wüchsen,« rief Kay, »als ob nicht diese kleinen Dinge ein Kind glücklich machten! Blüht nicht alles rings umher nur, um uns zu erfreuen? Gieb doch den Kindern Freiheit und Luft! Wie thöricht, ihnen diese unschuldigen Regungen zu verbieten, ihnen die Unbefangenheit ihrer kleinen Seelen zu rauben! Fast alles Erziehen ist vom Übel. Das ›Beispiel‹ ist die große Lehrmeisterin. Glaubst Du nicht, daß Carmelita ahnt, wie wenig wir uns verstehen; glaubst Du nicht, daß sie weiß, daß nun eben ihre Eltern im Widerstreit sind? Und das am ersten Tage! Ich sehe mit Sorge in die Zukunft.«

Clementina-Julia zupfte an kleinen Fädchen, die sich an einem ihrer Kleiderärmel gelöst hatten, und biß die Zähne zusammen.

»So laß das Kind wieder nach Hamburg zurückkehren!« stieß sie heraus.

Kay warf einen unbeschreiblichen Blick auf seine Frau. Heftiger Schmerz und Unwille spiegelten sich darin wider.

»Nein!« entschied er fest. »Aber ich habe einen anderen Beschluß gefaßt. Ich werde Cedes für Carmelita hier zu behalten suchen. Eine Gouvernante wird auch nicht mehr leisten als sie. Und überdies: Mädchen soll man zu sittlichen, pflichttreuen Geschöpfen heranziehen, ihre Herzensbildung soll man fördern. Das Wissen steht in zweiter Linie.«

In Clementina-Julia flammte wildes Feuer auf. Sie wußte nicht, was sie that.

»Ich sage Dir, Kay, Cedes oder ich!« rief sie.

»Wohl, bei solchem Wort in solchem Tone: Cedes!« erwiderte Kay und erhob sein ernstes Angesicht zu der Frau, die, bebend am ganzen Körper, nunmehr ohne Erwiderung in den Garten hinabstieg.

*           *
*

Kay war von einer Morgen-Inspektion zurückgekehrt, hatte mit seinem Verwalter überlegt, Bücher und Rechnungen geprüft, kurz, er war nach seiner Gewohnheit thätig gewesen von früh bis an den Mittag.

Als er den hinter dem Herrenhause belegenen, die großen Wiesen umschließenden Park durchschritt, sah er an einem der Bäume zwei Knaben aus den nahe gelegenen Bauernkaten nach Vogelnestern suchen. Eben glitt einer derselben mit der Eierbeute in der Mütze den Stamm hinab.

Als sie ihn erblickten, blieben sie betroffen stehen und warteten das Gericht ab, das über sie abgehalten werden würde.

»Laßt sehen!« befahl Kay, näher tretend.

Die Jungen schauten erst gegenseitig sich, dann den Gutsherrn an.

»Nun! Nur keine Faxen gemacht! Wer hat das Nest ausgenommen?«

»Ich nicht!« erklärte der Blonde.

»Ich wollte nicht, aber er sagte, ich sollte« – begann der andere, ein Schwarzkopf.

Kay mußte lächeln. Sicher würde er als Knabe ebenso gehandelt haben. Er entzog ohne Reden dem Knaben die Mütze und fand einige Stieglitzeier darin.

»Bring' sie wieder hinauf, aber zerdrücke sie nicht, hörst Du? Und wenn ich Euch noch einmal ertappe. Ihr wißt –«

Kay bewegte die Hand. Aber es war nicht eigentlich böse gemeint. Während der Schwarzkopf that, wie ihm geheißen worden war, fragte Kay den Blonden, der ärmlich und zerrissen aussah, nach seinem Namen und seinen sonstigen Verhältnissen.

»So, Tagelöhner ist Dein Vater? Und sechs Geschwister?«

Der Junge nickte.

»Arbeiten sie alle?«

»Ja!«

»Du auch?«

»Ja, ich putze bei Herrn Baron die Stiefel und gehe Gänge aus.«

»Bei welchem Baron?«

»Bei Herrn Baron Bomstorff.«

»Hm! Wie viel bekommst Du da?«

»Gar nichts.«

»Gar nichts? –«

»Nein, ich krieg' bloß alte Sachen. Mutter war früher bei Herrn Baron seine Mutter in Dienst. Mitunter schenkt er mich 'mal ein paar Groschen, und Kaffee krieg' ich morgens auch.«

»Gehst Du in die Schule?«

»Ja, wenn ich fertig bin.«

»Wie lange hast Du beim Herrn Baron zu thun?«

»Von sieben bis acht und nachmittags. Die großen Stiefel von Herrn Baron! Das dauert lange! Er hat man ein Paar, aber ich muß mir sehr sputen, daß ich fertig werde, weil ich das Zeug rein machen muß. Er kann nicht früher ausgehen.«

»Er kann nicht früher ausgehen?«

»Ne, er wartet doch immer auf die Sachen.«

»So, so; – also er hat nur den einen Anzug?«

»Ja, – einen hat er man.«

Kay vergegenwärtigte sich das Dasein seines Vetters nach dieser Schilderung. Ein Anzug, ein Paar Stiefel. Und dazu die zwei Windhunde und täglich Medoc oder gar Champagner! Er beschloß, seinen Verwandten allernächst einmal in seiner Wohnung aufzusuchen. Seine Neugierde war rege geworden, sich dessen Heim anzusehen.

Als Kay die Knaben mit guten Mahnungen abgefertigt hatte und seinen Weg nach dem Herrenhause nahm, hörte er fröhliches Lachen, und wenige Sekunden später schoß ihm Carmelita mit geröteten Wangen und blitzenden Augen entgegen. Wie ein Wiesel war sie um ihn herum, tanzte auf und ab, küßte seine sommersprossigen Hände und geizte nach einem freundlichen Blick.

Der Weg bog gerade eine sanfte Anhöhe hinauf, die mit dichtgepflanzten Buchen alleeartig besetzt war. Diese Baumreihe hatte der Sonnenschein gleichsam umzingelt. Er glitt an den Stämmen herab und durchfunkelte das Laub mit den wundervollsten Farben, während das Innere von einem sanften Halbdunkel erfüllt war.

Und droben auf der Höhe tauchte Mercedes in einem weißen Gewande und mit einem roten Sonnenschirm auf. Das helle Sommerkleid und das flammende Rot über ihrem Haupte ließen sie wie eine Lichtgestalt erscheinen, und die schlanken Formen und die unbewegliche Stellung erhöhten den überraschenden Eindruck ihrer Erscheinung.

»Cedes! Cedes! Komm! Papa ist da!« rief Carmelita. Der Schirm senkte sich rückwärts, und Mercedes schritt ihnen langsam entgegen.

Als sie, einen andern Rückweg nach dem Herrenhause einschlagend, nebeneinander hergingen, sagte Kay: »Wir sprachen gestern in dem Wagen über Dein Bleiben, Cedes. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen. Übernimm Du statt einer Gouvernante Carmelitas Erziehung. Trenne Dich überhaupt nicht mehr von uns.«

Mercedes blieb stehen und schaute ihren Schwager voll Erstaunen, aber auch mit einem Anflug von Schrecken an.

»Ich, – ich? Bei Euch – bei Carmelita? Und – Julia? – Unmöglich!«

»Weshalb unmöglich?« fiel Kay ein und schlug mit seinem eisenbeschlagenen Eichenholzstock auf den Wegsand.

»Das weißt Du doch, Kay!« entgegnete Mercedes, ohne den Blick zu erheben.

»Gewiß! Ganz gut! Aber man muß über den Dingen stehen!«

»Ja! Bis sie über uns zusammenschlagen! Sieh, Kay, ich fühle mit Dir. Ich kenne meine Schwester. Schon einmal entwarf ich Dir vor Jahren ein Bild von ihr, als ich selbst noch ein halbes Kind war; es war ein richtiges, Du hast es erprobt. Bisher fügtest Du Dich ihr, und Ihr waret glücklich. Nun erwacht in Dir der Mann von ehedem. – Das ist gut. – Und ich? Meine Schwester liebt mich so wenig wie Carmelita. – Was willst Du, mein Liebling? Den Zweig hier? Ja, warte! Ich will ihn Dir pflücken,« unterbrach sie ihre Rede und that, worum Carmelita gebettelt. Und wieder zu Kay gewendet, nachdem Carmelita vorausgesprungen war: »Am meisten thut mir das kleine, liebe Ding leid. Armes Kind!«

»Ja, armes Kind!« wiederholte Kay. »Und das ist es auch. Thu's mir zuliebe, Cedes. Möchtest Du mir nicht etwas zuliebe thun?« fügte er weich hinzu.

Fast eine Grausamkeit lag in dieser Frage! Sie schnitt dem Mädchen ins Herz. Mit einem unbeschreiblichen Blick, mit Augen, die im Schmerze feucht wurden, sah sie Kay an.

»Sprachst Du mit Julia?« fragte sie ihre Fassung zurückgewinnend.

Kay schwieg.

»Siehst Du. Ich wußte es! Sie sträubt sich gegen diesen Plan.«

»Sie soll gehorchen!« erklärte Kay rauh. »Und wenn nicht, dann –«

»Nein, das ist nicht das Rechte, Kay,« fiel das junge Mädchen ein. »Daraus kann nur Unglück entstehen. Es geht nicht. Das einzige wäre –«

»Nun?«

»Carmelita kehrte mit mir zurück.«

Kay besann sich; er kämpfte. Dann sagte er rasch und vorwurfsvoll betonend:

»Und an mich – an uns beide denkst Du garnicht?«

»Ja, eben weil ich auch an Dich – an uns denke.«

»An uns!« verklang's noch einmal leise.

Eben entrückte eine Wegbiegung die beiden dem Kind. Nun legte Kay seinen Arm um Mercedes' Leib.

»Wir wollen uns klar aussprechen, Cedes,« begann der Mann, während sich Mercedes mit sanfter Bewegung von ihm löste. »Ich liebe Clementina-Julia trotz ihrer Fehler noch immer, aber nur, wenn Carmelita nicht in Frage kommt. Dann aber, dann –«

»Dann hassest Du sie,« fiel das Mädchen ein. Kay fuhr erschrocken zurück. Nach einer Pause jedoch, während er den Schritt mäßigte, bestätigte er mit einem stummen Kopfnicken und sagte:

»Es ist fast richtig.«

»Siehst Du, Kay! Ist's also nicht der beste Vorschlag, ich nehme Dein Kind mit mir?«

»Es ist noch etwas anderes, Cedes. Ich bin niemandem auf der Welt neben meiner Frau so gut wie Dir. Ich brauche Dich für mein Glück.«

Cedes bewegte den Kopf.

»Ja, ja!« flüsterte sie langgezogen. »Aber ich – ich –«

»Du, Cedes?«

Mercedes' Körper zuckte, ihre Augen schlossen sich.

»Du meinst, ich sei selbstsüchtig, ich denke nur an mich, Cedes? Aber bist Du nicht auch gern in meiner Nähe?«

»O, genug, genug!« preßte das junge Mädchen heraus und eilte von ihm fort.

»Cedes!« rief Kay.

Sie antwortete nicht.

»Cedes!« rief er noch einmal.

Aber nun trennte sie auch die freiere Gegend und das muntere Geplauder Carmelitas, die mit einem Blumenbouquet für ihren Papa herbeigeeilt kam.

*           *
*

Am Abend des folgenden Tages war eine Gesellschaft nach Dronninghof geladen, in der eine heitere Stimmung herrschte.

Kay und Clementina-Julia gingen mit vergnügten Mienen unter ihren Gästen einher, und Cedes scherzte fröhlich mit einigen Herren. »Wie glücklich doch diese Menschen seien. Wie harmonisch alles ringsum! Man könne wohl behaupten, den Bewohnern von Dronninghof fehle nichts, sie seien zu beneiden!« äußerte einer der Anwesenden zu den Umstehenden, und diese stimmten seinen Worten bei.

Als im Laufe des Abends ein allgemeiner Gesprächsaustausch stattfand, und dabei der Ereignisse, die sich in letzter Zeit in der Stadt abgespielt, gedacht ward, erzählte auch einer der Herren eine Geschichte von Baron Bomstorff, die allgemeine Heiterkeit hervorrief.

Bomstorff war mit einem adligen Gutsbesitzer verwandt, der einige Stunden vom Strande der Ostseebucht entfernt ein Gut besaß.

Bevor Kay Witzdorff das Amt des Säckelmeisters übernommen, hatte jener für des Verwandten Passionen die Taschen öffnen müssen, aber ebenso wie der selige Graf Felix jeden Verkehr mit Bomstorff abgelehnt.

Letzterer wußte selbst sehr wohl, daß er auf dem Gut kein willkommener Gast war, aber eine durch den reichlichen Weingenuß geförderte Ruhmredigkeit hatte ihn verleitet, einen jungen Mann aus guter Familie, mit dem er häufig abends zechte, aufzufordern, eine Fußpartie und gleichzeitig einen gemeinsamen Besuch bei seinem Verwandten zu machen.

Über den Ausfall derselben lautete sein eigener Bericht über alle Maßen günstig. Er erzählte, daß sie beide bei ihrer Ankunft sogleich ins Schloß gezogen und auf das auserlesenste bewirtet worden seien. Man habe sie nicht fortlassen wollen und nur ihren Bitten endlich nachgegeben. Gegen Nachmittag sei dann ein Vierspänner zu ihrer Verfügung gewesen, der sie heimgebracht habe. Mit einem: »Auf recht baldiges Wiedersehen!« und »Schönsten Dank für das liebenswürdige Erscheinen!« hätten sie sich von dem Herrn von Klöden getrennt!

Herr von Klöden aber hatte mitgeteilt, daß er in größten Schrecken geraten sei, als Bomstorff mit einem fremden Menschen am Hofthor sichtbar geworden, daß er sofort den Inspektor beauftragt habe, zu erklären, daß die Herrschaften abwesend seien, und daß er die beiden nach Verabreichung eines Frühstücks aus Schinken-Butterbrot, Schnaps und Bier bestehend, auf einem Leiterwagen habe zurückbringen lassen.

»Er hat sicher einmal wieder in den Klödenschen Geldschrank gucken wollen, um zu untersuchen, wie viele Thaler dort grade eine fahnenflüchtige Physiognomie zeigten!« schloß der Erzähler launig.

Clementina-Julia aber sagte, ohne dem Gelächter der Gäste beizustimmen:

»Man müßte solche Personen in eine Arbeitsanstalt schicken, statt sich darüber zu amüsieren, daß sie sich täglich auf Kosten ihrer Nebenmenschen berauschen.«

Alle schwiegen. Kay aber nahm für seinen Verwandten das Wort.

»Man muß bei der Beurteilung seiner Nebenmenschen die Umstände in Betracht ziehen. Bomstorff war ein tüchtiger Soldat. Ein Schuß hat ihn dienstunfähig gemacht. Vermögen besitzt er nicht; etwas leichtsinnig ist er angelegt. Bei derartigen Naturen darf man nicht den gewöhnlichen Maßstab anlegen. Auch sie haben Daseinsberechtigung, und was das Geld anbelangt, weshalb sollen nicht die ihm geben, die es haben, und warum soll er es nicht nach seiner Laune verzehren?«

»Das heißt Nichtsthun und Laster in Schutz nehmen,« entgegnete Clementina-Julia. »Ein Mensch mit so vielen Kenntnissen kann sehr wohl eine Thätigkeit finden, wenn er ernstlich darum bemüht ist, und das viele Trinken ist tierisch und nichts weniger als entschuldbar.«

»Und doch hat auch das seine Poesie,« nahm Kay noch einmal das Wort. »In allen Fällen des Lebens gilt: Wer thut es? Und wie geschieht es? Übrigens ist Bomstorff ein guter Mensch. Weil er selbst in seinem Leben – früher in sehr reichlichen Verhältnissen – anderen geholfen hat, es auch fortdauernd thun würde, wenn er es jetzt könnte, ist sein Urteil über dergleichen Zuwendungen besonders unbefangen oder etwas getrübt – es kommt darauf an, auf welchen Standpunkt man sich Geldfragen gegenüber stellt. Als etwas Ehrloses betrachtet er das Borgen nicht, da er die Absicht besitzt, ja, von der Ueberzeugung durchdrungen ist, jedem seiner Zeit gerecht zu werden und gerecht werden zu können. Wäre das nicht der Fall, würde er sich vielleicht schon selbst vom Dasein befreit haben.«

»Das ist für die Nichtsnutzigen immer das unsittliche letzte Auskunftsmittel, und man rühmt dann noch den sogenannten »schneidigen Kavalier« an ihnen!« fiel Clementina-Julia ein. »Nein, ich stimme Dir durchaus nicht bei! Ich glaube auch kaum, daß dieser renommierende Don Quixote jemals eine wirkliche Mannesthat ausgeführt hat. Sicher ist er ein Feigling!«

Hier ward Clementina-Julia von den Anwesenden unterbrochen. Mehrfache Beispiele wurden angeführt, aus denen hervorging, daß es dem Sonderling weder an Mut noch an Kavaliertugenden fehle.

Kay hörte die Worte seiner Frau, und der Unmutszorn stieg ihm in die Kehle. Ihn, der allezeit zur Versöhnung und zur milderen Beurteilung menschlicher Schwächen geneigt war, schmerzte nicht nur Clementina-Julias bei jeder Gelegenheit hervortretende Härte, eine Härte, die allzu häufig nur nach den ersten Eindrücken urteilte und zu einer näheren Untersuchung über Wert oder Unwert der Personen nicht gelangte, er verglich ihren herzlosen Hochmut mit Mercedes' gütigem Wesen.

Clementina-Julias rauhe Tugend verbreitete weder Wärme, noch weckte sie warme Gefühle in ihrer Umgebung. Man sah es auch den Gästen an, wie sehr sie von der schroffen Beurteilung, so richtig eine solche an sich sein mochte, abgestoßen wurden, und als Mercedes leise, aber doch so vernehmbar, daß Kay ihre Worte zu hören vermochte. gegen ihren Nachbar äußerte, »Balken und Splitter. Wenn man dieser Mahnung eingedenk bleibt, wird man allezeit milde urteilen!« – belohnte er sie mit einem dankbar zustimmenden Blick.


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