Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Zehntes Kapitel.

Regentage und Kälte trotz des Julimonats. Die Wege im Park waren fast zu Sümpfen geworden; überall triefende Nässe. Von den Wänden der Scheunen und Wirtschaftsgebäude bröckelte der Kalk ab; im Herrenhause hatte sich die Himmelsflut sogar den Weg durch einige gelockerte Dachpfannen gebahnt, und die Zimmerdecke eines der im obersten Stockwerk belegenen Räume zeigte eine mit starken, gelben Rändern eingefaßte Zeichnung, die von keines Malers Hand herrührte.

Regen, peitschender Regen und Sturm, der das Laub von den Bäumen riß, den Erdboden unter den triefenden Dachfirsten aushöhlte, die Mistberge mit kleinen Seen umgab und sie zu Inseln umschuf, die strohbedeckten Scheunen mit durchdringendem Naß tränkte, die Garten- und Parkwege, die Rasen, Beete und freien Plätze in Pfützen verwandelte!

Im Unterholz lagen vorn Sturm gefällte Stämme und geknickte Zweige; der Wind fuhr verheerend durch die wasserblanken, grünen Blätter, rauschte durch die unfreiwillig sich neigenden und wieder auftrotzenden Kronen der jungen Bäume und wirbelte nicht nur in Saft und Kraft Kränkelndes herab, sondern riß auch Gesundes in seinem wilden Ungestüm zu Boden. In den sonst wasserarmen oder ausgetrockneten Gräben rieselten jung geborene Quellen, die über die Wiesen traten und sie überfluteten.

Das Vieh stand, dem schräg herabjagenden Strichregen geduldig Widerstand leistend, zusammengeschart auf den Feldern mit gesenkten Köpfen; durchnäßt und angeeist warteten auch die auf den Weiden befindlichen Pferde stumm das Ende des Unwetters ab.

Aber jeder neue Morgen zeigte wieder den öden, hinter schweren Decken Unheimliches bergenden Himmel und entkleidete die Dinge draußen und in den Räumen von Dronninghof all der Reize, die helle und sonnige Tage ihnen sonst verliehen.

Schon seit Kays Rückkehr aus Hamburg hatte sich diese unfreundliche Witterung mit kurzen Unterbrechungen eingestellt, und das trostlose Grau, in das Himmel und Erde eingehüllt waren, trug nicht dazu bei, seine durch den Abschied hervorgerufene, ohnehin trübe Stimmung zu verbessern.

Zudem enthielten auch die inzwischen eingegangenen Briefe unliebsame Nachrichten. Die Londoner Firma, bei der er zwar nicht mehr selbstthätig, aber noch mit seinem Kapital beteiligt war, hatte einen unerwarteten Verlust erlitten, und durch das Fallen von Börsenpapieren schienen noch andere Ausfälle bevorzustehen.

Kay sprach nie über seine Verhältnisse. Selbst Clementina-Julia wußte nichts Genaues über den Stand seines Vermögens. Aber von kleinen Unfällen und Enttäuschungen hatte er ihr stets in guter Kameradschaft Mitteilung gemacht, und so erfuhr sie auch von den Ereignissen, die ihm nach seiner Rückkehr die Stirn kraus machten. Sie erschrak, als er die Summe nannte, deren Verlust durch den Zusammenbruch eines überseeischen Hauses herbeigeführt worden war.

»Wir wollen sparen! Überhaupt können wir vieles anders einrichten. Du bist zu bereitwillig im Geben, Kay, keiner dankt es dir, und solche Zwischenfälle mahnen, daß man doch zuerst an sich denken muß.«

Kay hätte lieber gesehen, wenn ihm seine Frau die trüben Gedanken durch liebenswürdiges Zureden verscheucht hätte. Ihre immer stärker hervortretende Selbstsucht nahm ihn gegen sie ein, und als sie fortfuhr, auf ihn einzureden und eines Abends wiederholt mit allerlei engherzigen Vorschlägen kam, unterbrach er sie ungeduldig und sagte:

»Man muß nicht immer an sich denken. Andere haben auch ein Recht zum Leben. Verschone mich mit Sparsamkeitsplänen, die auf Kosten unserer Umgebung ins Werk gesetzt werden sollen. Wie können die Beamten sich einrichten, wenn ich plötzlich ans Kürzen gehe? Im Gegenteil! Nach Jahren treuer Pflichterfüllung hat jeder einen Anspruch auf mehr, auf eine Zulage. Ich mag auch von diesen Dingen nichts mehr hören. Die Verluste habe ich abgeschrieben und finde mich nun in das Unabänderliche. Ich will Dir aber einen anderen Vorschlag machen. Wir wollen in den nächsten Tagen Dronninghof verlassen – und uns irgendwo eine Abwechselung verschaffen. Ich denk, wir, gehen in ein Ostseebad.«

Clementina-Julia blickte überrascht auf. In einem Augenblick, wo die Umstände darauf hinwiesen, besonderen Aufwand zu vermeiden, ja. wo sie darüber nachsann, wie die Verluste wieder eingebracht werden könnten, wollte Kay noch einige Tausend Mark für Vergnügungen opfern! Wenn Schliebens, Mercedes und Carmelita ein Jahr in Italien blieben, so mußte auch das viel Geld kosten, und diese Ausgabe hatte Clementina-Julia noch nicht einmal in ihre Berechnung gezogen.

»Einmal klagst Du, und dann wirfst Du wieder das Geld fort, Kay!« hub sie an. »Wir sollten an unsere Kinder denken. Jeder ist dem Zufall unterworfen und hat die Pflicht, den Wechselfällen Rechnung zu tragen! Sehen wir nicht täglich, wie das größte Vermögen zerrinnt, wie launenhaft das Schicksal verfährt? Wäre es nicht überhaupt besser, daß Du Dein Kapital aus dem Londoner Geschäft zurückzögest und es sicher anlegtest?«

Kay erwiderte auf diese Rede nichts.

»Nun, Kay?«

»Carmelitas Vermögen ist gesichert. Wer sie einst heimführt, der weiß nichts von Sorgen, und wenn er nur die Zinsen verwendet,« erwiderte er leichthin. »Allerdings! Für Kay und Julia muß ich noch arbeiten. Wäre das nicht der Fall, so würde ich selbst vielleicht schon gethan haben, wozu Du mir rätst.«

Die Frau horchte auf. Also für Carmelita zunächst alles! An sie hatte Kay gedacht! Ihre Kinder kamen erst in zweiter Linie! Ja, er gestand zu, wenn er heute starb, dann war vielleicht für sie nicht gesorgt.

»Ist denn Dronninghof nicht ganz schuldenfrei, Kay?« forschte Clementina-Julia durch Mienen und Betonung äußerlich verbergend, wie sehr sie auf die Antwort gespannt war.

»Ja, fast schuldenfrei, aber ich habe noch so viel hineingesteckt, daß die Rente nicht sehr erheblich ist. Vielleicht mit der Zeit –«

Clementina-Julia machte rasch in ihrem Gedanken einen Überschlag. Dronninghof konnte etwa viermalhunderttausend Thaler wert sein. Wenn das Kapital nur zweieinhalb Prozent abwarf, dann bezog Kay aus diesem Besitz doch immer zehntausend Thaler.

Sehr viele Gutsbesitzer in denselben Verhältnissen lebten von der Hälfte. – Auch Witzdorffs waren dazu imstande, dank alles dessen, was ihnen auf dem Gute umsonst in die Hand wuchs. Fünftausend Thaler Ersparnis waren in zehn Jahren fünfzigtausend Thaler, und zehn Jahre liefen rasch dahin. Und Zinsen auf Zinsen! Wie das wuchs, wenn man sich auf allen Gebieten einschränkte!

Seitdem Clementina-Julia mit ihrem Manne nach Dronninghof übergesiedelt war, wußte sie so gut über Besitz, Wirtschaft und Fruchtpreise Bescheid wie Herr und Verwalter, und nicht minder, daß nirgend die Bäume in den Himmel wachsen.

Wie oft hatte Kay größere Summen für einen wohlthätigen Zweck hergegeben, geringerer Unterstützungsbeträge nicht zu gedenken. Und ein Verlust, wie der letzte in dem Londoner Geschäft, bezifferte sich sicher auf Zehntausende.

Also sparen, sparen!

Aber da sie sich doch immer nur in Vermutungen bewegte und endlich einmal Klarheit gewinnen wollte, knüpfte sie an Kays Worte an und sagte:

»Wie viel ist eigentlich Dronninghof wert, und wie groß ist das Kapital, mit dem Du in Deinem Londoner Geschäft engagiert bist?«

Clementina-Julia begriff selbst nicht, daß sie diese Frage in solcher Form zu stellen gewagt hatte. Aber nun war es heraus.

»Bei Dronninghof kommt's auf die Marktpreise an. Das Londoner Geschäft –«

»Nun?«

»Ach, liebe Julia, – das verstehst Du doch nicht.«

Diese Antwort ärgerte Clementina-Julia über die Maßen. Aber Kay wußte das sehr wohl. Er war auch gar nicht über die Beweggründe ihrer Fragen in Zweifel und verstellte sich in seinen Antworten ebenso sehr wie sie.

Als er ihre enttäuschten Mienen sah, wuchs sogar sein Widerstand. Wie in jedem Menschen, lagen auch in Kay Widersprüche, die er schwer zu bekämpfen vermochte.

In Clementina-Julia aber stieg an diesem Tage ein Gedanke auf, der sie nicht nur lebhaft beschäftigte, sondern aus dem sich zuletzt ein Beschluß entwickelte. Und sie wollte gleich beginnen! Wer mit dem, was er als richtig erkannt, wartete, bei dem waren Vorsätze Strohfeuer.

»Ich will Dir etwas vorschlagen, lieber Kay,« begann sie. »Reise allein! Ich bitte Dich sogar darum, Dir ist es gut, wenn Du einmal herauskommst. Ich und die Kinder brauchen keine Abwechselung. Weshalb sollen wir das schöne Dronninghof verlassen?«

»Es ist allerdings billiger,« erwiderte Kay nicht ohne deutliche Anspielung und zog die Lippen.

Clementina-Julia verstand, aber sie wollte sich nicht einschüchtern lassen.

»Gerade deshalb,« erwiderte sie, »und darum sprach ich. Ich finde, daß wir überflüssige Ausgaben vermeiden sollen. Ein Verlust, wie der in London, ist gewiß nicht in einem Jahre einzuholen, oder Du müßtest ein Millionär sein –«

»Vielleicht bin ich es!« murmelte Kay und ordnete mit solcher gelassenen Ruhe an der Schleife seines weichen, seidenen Halstuches, als handele es sich um die geringfügigsten Dinge, als seien alle diese Bagatellen.

»Weshalb weichst Du mir aus, und weshalb spottest Du, wenn ich verständige Vorschläge mache, Kay? Ist das recht? Mache ich Dir denn gar nichts mehr nach Wunsch?« fiel Clementina-Julia, sich mühsam bezwingend, ein.

»Doch!« erwiderte Kay und erhob sich. Und ihre Frage umgehend, jedoch den Kernpunkt des Gesprächs aufnehmend, fuhr er fort: »Aber leben heißt nur, für andere und mit anderen leben! Ich will die frohen Tage meines Daseins genießen! Menschen, wie Du Clementina-Julia, gelangen eigentlich niemals zum Genuß des Daseins. Ihr späht immerfort nach dem Zeitpunkte aus, wo Eure Wünsche sich erfüllen sollen. Und unversehens wird ein schwarzer Deckel geöffnet, und man legt Euch hinein als Thoren, die um des Zuvielerstrebten willen nichts ihr eigen nennen durften. Nur wer jeden Tag zu einem Festtag glücklichen, wenn auch bescheidenen Genießens macht, ihn nützt und denkt: »Für den kommenden giebts keine Schlösser und keinen Schlüssel, die Pforten des Glücks sind geöffnet oder versperrt! Keiner vermag es zu wissen!« der ist weise!

»Und zu den rechten Festtagen gehört Sonnenschein draußen und drinnen, und ihn müssen wir uns schaffen durch fröhliche Stimmung, die wir entweder unserer Pflichterfüllung, unserem Menschentum, oder unserer Freude an Gottes schöner Schöpfung verdanken. Hundertfältig sind die kleinen Freuden in unserem täglichen Wirken und Schaffen, in unserem Verkehr mit den Menschen. Die edelsten, reinsten aber sind diejenigen, die aus unserem Herzen emporsteigen. Wo die Liebe der Fährmann ist, da geht's immer durch einen sanften Strom. Liebe austeilen und empfangen, darin besteht das große Geheimnis des Glücks. Aber Menschen, wie Ihr, wollen empfangen und nicht geben, und zuletzt wollt Ihr noch nicht einmal empfangen. Ihr pflegt nur den Heißhunger Eurer engherzigen Selbstsucht und vergeßt, daß dieser das furchtbarste und zerstörendste Gift jedes Glücks ist.«

Wenn Kay so sprach – und schon oft hatte er Clementina-Julias besserer Natur durch ähnliche Gespräche abzuhelfen gesucht – mußte sie ihm recht geben. Er hatte eigentlich immer recht, auch, als er einmal äußerte: »Frauen müßten durch die tägliche Ausschmückung ihres Geistes und Körpers ihre Männer immer von neuem an sich zu fesseln suchen. Wer da glaube, mit dem Ja am Altar sei alles geschehen, büße für einen schweren Irrtum. Nun beginne erst die Aufgabe der Frau nach einer Richtung, die nur zu oft als eine ganz nebensächliche angesehen werde. Sie müsse jetzt um des Mannes Besitz werben! Während diese Aufgabe ihm vor der Ehe zufalle, trete nun das umgekehrte Verhältnis ein, und dieses »Werben« müsse andauern ein ganzes langes Leben, da den Mann Bedeutsameres und für ihr beiderseitiges Glück Wichtigeres zu beschäftigen habe: die Arbeit, der Erwerb – der Kampf um das Dasein.«

Aber Clementina-Julia war nicht mehr erziehungsfähig. Sie gehörte auch zu den Frauen, die in dem Augenblick, wo ihre Ebenbilder geboren werden, die Kindermädchen ihrer Kinder werden, aus ihnen sich zu Gouvernanten entwickeln, alsdann sich zu sorgenden Haushälterinnen ausbilden und gemeiniglich zum Lohn für die von ihnen in diesem Sinne verstandene Pflichterfüllung mit einem Wartegeld, das oft nur aus wenig Dankbarkeit besteht, für die harten Dienste eines ganzen Menschenalters abgefunden werden. –

Als Clementina-Julia an einem der folgenden Vormittage, nach der Arbeitsstunde der Kleinen, mit ihren Kindern und Charlotte beim zweiten Frühstück saß, wurde ihr gemeldet, daß ein Bürger aus Schleswig die Bitte vortrage, sie sprechen zu dürfen.

Als sie dieses Ansuchen gewährte und kurz darauf Kays Gemach betrat, in das sie den Antragsteller durch den Diener verwiesen hatte, stand sie einem alten Mann in einem langen, bis an den Hals geschlossenen, verschlissenen Rock mit engen Ärmeln gegenüber, der sich nach Art simpler Leute wiederholt verlegen verneigte und in einem ungelenken und mangelhaften Hochdeutsch seine Entschuldigungen stammelte.

»Nun, was haben Sie? – Setzen Sie sich!« begann Clementina-Julia und ließ sich an Kays Schreibtisch nieder.

Der Alte nahm auf einer Ecke des dargebotenen Stuhles Platz, wischte sich, als ob ihm dadurch das Sprechen erleichtert werde, mit einem zusammengefalteten, blauen Schnupftuch wiederholt über das Gesicht und begann:

»Ich komme nämlich wegen Herrn Baron von Bomstorff, Allergnädigste –, wenn ich so frei sein darf. Ich wollte bitten, daß Sie doch so gut wären, bei den Herrn Grafen ein Wort einzulegen, daß ich das Ganze kriege, indem ich ja auch noch die Zinsen verliern thu. Wenn ich nur bloß die Hälfte kriege, – mehr, sagte Herr Baron, würde ich nich kriegen, oder garnichts, – dann verlier ich über vierhundert Thaler, und das kann ich nich. Meine Frau lag lange krank, mein Sohn soll nu Soldat werden, und in diesen Jahre ist es auch wegen –«

Er hielt inne, da Clementina-Julia ihn kurz unterbrach.

»Wenn ich Sie recht verstanden habe,« fiel sie ein, »hat Herr Baron von Bomstorff Sie um Geld angegangen, und Sie haben ihm solches gegeben. Nun es ans Rückzahlen kommt, bietet er Ihnen die Hälfte oder – gar nichts. Ist es so?«

Der Alte bewegte zustimmend und mit hoffnungsvoller Miene den Kopf.

»Ja, Allergnädigste. So ist es!«

»Welches Geschäft betreiben Sie? Wie heißen Sie?«

»Ich bin Töpfer, gnädige Frau, Töpfer! Ich heiße Schritt, Karl Schritt und wohne oben auf'n Blumenberg.«

»So, so! Aber was hat der Graf, mein Mann, mit der Sache zu thun? Das verstehe ich durchaus nicht.«

»Er will doch, wie ich gehört habe, seinen Verwandten das Geld geben, daß er alles richtig macht.«

»Sie irren sich durchaus,« fiel ihm Clementina-Julia schroff in die Rede. »Mein Gatte hat mit dieser Angelegenheit gar nichts zu schaffen.«

Der Alte zog die Mundwinkel und machte ein enttäuschtes Gesicht. Und da Clementina-Julia dies sah, atmete sie auf und kämpfte eine böse Vermutung, die in ihr aufgestiegen war, leichter nieder. Es handelte sich nur um ein Mißverständnis, sicher nur um ein Mißverständnis!

Um aber diese Annahme sich selbst und dem Bittenden gegenüber noch mehr zu erhärten, fuhr sie, zugleich in der Absicht, ihn auszuforschen, fort:

»Da sie mir ein braver Mann zu sein scheinen, so bin ich nicht abgeneigt, mit Herrn von Bomstorff zu sprechen und Ihr Anliegen bei ihm zu befürworten. Wie kamen Sie übrigens dazu, einem so verschuldeten Menschen wie Bomstorff, Geld zu leihen? Den Verlust hätte Ihnen jeder vorhersagen können!«

Den Alten hatten Clementina-Julias Worte völlig enttäuscht und nicht minder beunruhigt. Er hätte gern von neuem sein Recht verteidigt und seine Bitte wiederholt, aber er gab zunächst mit der Geschwätzigkeit kleiner Leute Clementina-Julia Antwort.

»Herr Baron kam eines Tages – es ist nu siebzehn Monate her – in meine Wohnung. Ich sollte ihn einen antiken Krug, den er hatte, wieder anschmelzen. Er war lange bei mich, und wir sprachen so über allerlei. Indem kam der Postbote und brachte mich einen Brief, eingeschrieben. Es war ein Papier, was ich mich erspart hatte und mich eine Hamburger Obligation für gekauft hatte. Nun kam er auch über so was zu sprechen, und der Herr Baron fragte, wieviel Prozent ich kriegen thäte. Er bot mich nu sechs Prozent, indem er gerade auf ein paar Monate Geld gebrauchen thäte, und da sagte ich: »Wenn Sie mich eine Quittung geben, können Sie die Obligation gleich mitnehmen. Sie liegt bei mich doch bloß ins Schrank. Ich möchte sie denn man gerne in sechs Monaten wieder haben.« Ich meinte nich das Geld – die Obligation. – Ja, das war ihm recht, und er versprach mich, daß ich dann auch hohe Zinsen haben sollte. Aber seitdem habe ich nichts wieder von ihm gehört, und wenn ich ihm mal mündlich und schriftlich mahnen that, dann vertröstete er mir. In der Zwischenzeit hörte ich, daß er viele Leute Geld abgeliehen hätte. – Ich wollte ihm nu verklagen und war schon bei einen Afkaten, da kam er zu mich und sagte, er könnte mich wahrscheinlich man fünfzig Prozent vons Ganze geben. Nu meinte meine Frau, daß ich zu Frau Gräfin gehen sollte, weil wir doch gehört haben, daß Frau Gräfin so einen gerechten Sinn in alles haben sollen.«

Clementina-Julia hatte dieser Erzählung mit steigender Auflehnung gegen Bomstorff, aber auch mit wachsender Unruhe zugehört. Am Ende hatte der Alte doch nicht unrecht. Kay steckte dazwischen.

»Wer hat –«

»Ich wollte noch –«

Die beiden Sätze erfolgten zu gleicher Zeit.

»Wer hat,« behielt Clementina-Julia das Wort, »Ihnen gesagt, daß mein Gatte dem Baron helfen will?«

»Ja, eben das wollte ich Frau Gräfin noch sagen. Es ist sicher, denn was der Handelsmann Salomon ist, er zeigte mich einen Brief von Herrn Grafen, wo er ihm fünfzig Prozent für Herrn Baron seine Schuld bieten that.«

»Hm, hm!« stieß Clementina-Julia heraus und machte einige Bewegungen, die der Alte zu seinen Gunsten deutete. Aber sie gedachte schon gar nicht mehr des alten Mannes, der um sein gutes Recht und um Hilfe bettelte, sie dachte nur an sich. Ihre Engherzigkeit und ihr Geiz brachten ihr Inneres in Aufruhr.

»Gut! Ich werde also sehen, was sich machen läßt, Herr Schritt –« entschied die Frau, sich erhebend und weitere Reden abschneidend. »Sie sollen Nachricht von mir haben; aber eins ist sicher: wenn mein Gatte wirklich in dem einen Falle eintreten will – er denkt nicht daran, alle Schulden des Barons abzulösen.«

»So meinen Sie nich?« fiel der Mann enttäuscht ein und drehte seinen alten, von der Nässe mit weißglänzenden Flecken bedeckten Cylinderhut in der Hand.

»Bitte, Allergnädigste – sehen Sie, daß ich wenigstens etwas mehr kriege. Es ist doch gar zu hart für einen kleinen Handwerker.«

»Nun ja! Ich sagte Ihnen ja bereits, daß ich nach Kräften mich bemühen würde!« erwiderte Clementina-Julia mit deutlicher Ungeduld und mit einer eben so deutlich ihren Wunsch bekundenden Geste, daß sie das Gespräch zu beenden wünsche.

Und der Mann verbeugte sich und verließ das Zimmer. Als Clementina-Julia einen Blick über den Hofplatz warf, sah sie den Alten schwerfällig gegen den anstürmenden Regen ankämpfen.

Eben hielt er inne, lehnte seinen roten, altmodischen Regenschirm gegen die Mauer eines Seitengebäudes des Pachthofes und krempelte die Beinkleider in die Höhe. Den Regenschirm aber spannte er, trotz der vom Winde gepeitschten Nässe, nicht auf. Weshalb wohl nicht? Diese Frage beschäftigte Clementina-Julia für Augenblicke. Der Ursache seines Kommens und Gehens, seiner Beängstigung und Sorge, seiner eindringlichen Bitten gedachte sie nicht mehr. Und dann grübelte sie, wie sie diesen abermaligen Verlust abwenden, wie sie auf Kay einwirken könne, wenn er wirklich für den verkommenen Menschen, den Bomstorff, einzutreten gesonnen sein sollte.

Kay kam an diesem Tage erst um die Mittagszeit und in keiner besonders guten Stimmung nach Hause. Der fortwährende Regen, der den Saaten und Früchten erheblichen Schaden zufügte, aber auch Bomstorffs äußerst verwickelte und auf seinen Leichtsinn ein ungünstiges Licht werfende Schuldverhältnisse beschäftigten und verstimmten ihn.

Jetzt, nach näherem Einblick, wollte es ihn fast gereuen, seinem guten Herzen zu rasch gefolgt zu sein. Es hatte sich auch herausstellt, daß die ursprünglich von ihm angenommene Summe durchaus nicht reichen würde.

Jeder der vorhandenen Gläubiger wollte für sich eine Ausnahme in Anspruch nehmen, und eine Zustimmung zu dem Gebotenen war bisher nur von einem Teile derselben erreicht. In der Unterredung, die zwischen Kay und seinem Verwandten stattgefunden hatte, war jeder einzelne Fall zur Erörterung gelangt.

»Da ist meine gute, dumme Wittib von der Nadel!« hub Bomstorff an. »Dieser aufopfernde Bankier meiner Tagesnöte muß ohne Abzug bezahlt werden, und dieser brave Bürger und Lehmformer Schritt hat in erster Linie Anspruch auf das ganze Geld. Seht, Gevatter, ich habe, bei Gott, schlaflose Nächte wegen der Leute, und Sie nehmen mir mehr eiserne Balken von der Brust, als Sie glauben können. Wenn ich diese Braven nicht voll zu bezahlen suche, bin ich nicht die vier Sargbretter wert, die auch für mich an den Bäumen wachsen! Das andere Gesindel hat mir kaum mehr gegeben, als Sie ihm bieten. Sie sollte man an einem Ohr aufhängen und ihnen mit einem Blasebalg die verruchte Seele aus dem Körper jagen!«

»Ganz gut, Bomstorff!« erwiderte Kay. »Aber wenn ich nun nicht einträte, dann erhielten Ihre Gläubiger gar nichts. Ich muß Ihnen sagen, es ist unglaublich, wie Sie darauf losgeborgt haben!«

»Ihr habt recht, Vetter! Aber lernt nur Not kennen! Shakespeare sagt: »Der Mensch ist Mensch. Der beste fehlt mitunter!« Man faßt nach dem Strohhalm, denn man lebt nicht von der Luft, wenn auch einmal der Frühling deren nährlosen Atem würzt.«

»Und bei solchen Schulden frühstücken, Medoc trinken – gar Champagner –«

»Aber auch hungern!« fiel Bomstorff ein und richtete sich mit Würde empor. »Ich esse meistens nur ein paar trockne Brödchen jeden Tag – bei Gott, nicht mehr. Und der Wein? Ich vertrinke meinen Unmut, die Pein – die Sorg– –«

Der Mann verschluckte fernere Worte, riß in heftiger, innerer Bewegung an dem Schnurrbart und schlug mit der Reitpeitsche gegen die hohen Stiefel.

»Hier, mein Ehrenwort! Ich halte, was Sie mir zur Bedingung gemacht haben, Vetter!« fuhr er feierlich fort, »Aber helft den braven Leuten, die das Geld nicht verlieren können. Ich bleibe Ihr ewiger Schuldner und trete noch beim jüngsten Gericht für Sie ein, für Sie als der Besten, Edelsten einen« –

Am selben Tage nach Tische hatte sich der Himmel zum erstenmal seit fast zwei Wochen aufgehellt; die Sonne schien, und auch das Naß, das ihre Schöpfungen verwüstet hatte, durchleuchtete sie mit sanften, verklärenden Strahlen. In jedem Tropfen, der noch an den Zweigen hing, funkelte ein Abglanz ihrer Schönheit, durch das grüne, feuchte Laub warf sie ihre Goldströme und an den Stämmen glitt sie auf und nieder mit hellen Lichtern.

Wie neu aufgekeimt in lebendigem Wachstum lagen die großen Parkwiesen, und ein feiner Dampf stieg empor, der wie ein sanftes Ausatmen der verjüngten Natur erschien.

In den schwarzerdigen Beeten dufteten die Levkojen, Nelken und Rosen, und eine riesige Blutbuche, die in der Ferne unter dem dunklen Waldesgrün ihre Krone erhob und ihr gewaltiges Geäst ausbreitete, tauchte gleich einer majestätischen Laune der Natur in diesem Zauberfleckchen Erde auf.

Auf dem Pachthofe krähten laut die Hähne, wie befreit von Not und Qual. Die Tauben wirbelten, ihrem engen Schlage entflohen, durch den blauen, wolkenlosen Äther über den Park, und bellende Hunde jagten sich in dessen breiten Wegen und hinterließen ihre unverkennbaren Spuren in der noch weichen Erde.

Kay stieß die Thüren des Balkonzimmers weit auf und holte tief Atem. Auch nahm er seinen Sohn und die kleine Julia auf den Arm und küßte sie.

»Packe die Koffer, Clementina-Julia –« hub er, angeregt von der Herrlichkeit der Natur und demzufolge von frohen Empfindungen beherrscht, an. »Komm mit mir! Was willst Du hier allein hausen ohne mich! Wir wollen einmal heraus. Mich drückt die Einförmigkeit. Ich brauche andere Menschen und Eindrücke. Und«, fuhr er, ihren Gedanken begegnend, fort, »um Geld brauchst Du Dich nicht zu grämen. Überlaß die Sorge mir, und denke immer, daß ich weiß, was ich darf und kann.«

Durch den warmen Ton seiner Worte bewegt, aber auch durch die Liebkosungen, die er den Kindern erwies, von einem Anflug dankbarer Rührung fortgerissen, pflichtete Clementina-Julia bei und sagte:

»Nun, wenn Du's durchaus willst, Kay, es sei! Du weißt, ich misse Dich nie gern und wäre es auch nur auf Tage und Stunden. –«

Was sie in diesem Augenblick sagte, war aufrichtig gemeint, und Kay, der wohl unterschied zwischen berechnender Zärtlichkeit und ehrlicher Empfindung. streichelte ihr die Wangen.

Das sind die lachenden Inseln in unserm Dasein, wenn unsere gehobenen Vorstellungen allein uns beherrschen, wir die Nüchternheit abstreifen, und unsere Herzen eine lebendige Sprache reden!

Und so war es auch hier, und Hoffnung und Zuversicht schienen von neuem Übereinstimmung in den Gemütern und Seelen zu wecken.

Und doch folgten diesen hellen Stunden wieder dunkle und dunklere als je zuvor.

Am Abend – Kay hatte mit seinem Verwalter einen Gang über die Felder gemacht, später mit ihm Schach gespielt und sich in den Pferdeställen umgesehen, – lenkte Clementina-Julia beim Essen das Gespräch auf Bomstorff, und als Kay auswich, auch aus den Besuch des Töpfers.

»Ein Handwerker, der Töpfer Schritt vorn Blumenberg, war heute morgen bei mir, Kay, und bat mich, ein Wort bei Dir einzulegen, damit eine Schuld von Bomstorff voll eingelöst werde,« begann Clementina-Julia. »Als ich ihn voll Erstaunen fragte, was ich – was Du mit dieser Angelegenheit zu thun habest, erklärte er mir, einen Brief von Deiner Hand an den Handelsmann Salomon gesehen zu haben, in welchem Du –«

»Und so weiter und so weiter! Ja, ja, –« bestätigte lustig phlegmatisch Kay und ließ ein eben ergriffenes Buch auf den Schoß fallen. »Ich will den armen Kerl herausreißen und seine Schulden bezahlen. Und dann soll er diesen Herbst in den Turm einziehen, damit er ein vernünftiger Staatsbürger wird.«

»In den Turm einziehen? – – Und wirklich? Du willst nach allen Deinen Verlusten auch noch diesem verkommenen Schwindler mit größeren Summen helfen?«

»Ich bitte Dich, andere Ausdrücke zu wählen, Julia,« fiel Kay kurz ein, und nur allzu rasch wieder aus seiner guten Laune fallend, griff er von neuem nach dem Buch und richtete seine Blicke darauf.

»Kay!« bat Clementina-Julia und trat ihrem Manne näher. »Kann ich denn gar nichts mehr sagen, ohne daß Du ungeduldig, sogar ausfallend gegen mich wirst? Nun war ich heute so glücklich!«

»Du kannst es immer sein, wenn Du auch ein wenig für Deine Nebenmenschen übrig behältst. Welcher Ausdrücke bedienst Du Dich! Bomstorff war leichtsinnig, sehr leichtsinnig, aber ein verkommener Schwindler ist er nicht!«

»Ist denn das kein Schwindel, wenn man ohne jegliche Aussicht auf Rückzahlung einem armen, fleißigen Handwerker seine Ersparnisse abnimmt, ihm Versprechungen auf große Zinsen macht und dann nichts weiter von sich hören läßt? Ich denke, dieses eine Beispiel genügt!«

»Du beurteilst die Dinge, wie sie Dir erscheinen, nicht wie sie sind. Lerne erst einmal das wirkliche Leben kennen, dann wirst Du milder urteilen.«

»Ich würde eher Hungers sterben, als dergleichen thun. Es könnte mir nicht einmal in den Sinn kommen.«

»Sehr schön! Aber jede Kreatur in der Welt hat ihre Eigenart. Es giebt Elefanten, Tauben Ameisen, Löwen, Austern und Hunde. Und so fort. Jedes Geschöpf hat einmal eine besondere Physiognomie, und so hat auch Bomstorff die seinige mit allerlei Schwächen, die ich nicht verteidigen will, aber sehr wohl verstehe, und deshalb milder beurteile. Und gleichviel! Ich will ihn eben diesem unwürdigen Zustande entreißen, und deshalb unterhandle ich mit seinen Gläubigern und werde ihm hier auf dem Hofe die Turmräume einrichten lassen. Sein Ehrenwort bürgt mir dafür, daß er keine Schulden mehr machen und ein neues Leben beginnen wird.

»Bah! Bomstorffs Ehrenwort!« stieß Clementina-Julia verächtlich heraus. »Da hat er Dir weniger gegeben als nichts. Ein Spinngewebe, das schon ein Regentropfen zerstört. Wie oft wird er es schon erteilt und gebrochen haben.«

»Woher hast Du die Beweise für eine so ungeheuerliche Behauptung?« rief Kay in höchster Erregung. »Schweig! Ich befehle es Dir!«

»Nein, ich schweige nicht, ich darf nicht stumm bleiben, wenn ich sehe, wie die Menschen Deiner Eitelkeit schmeicheln und Dich zu Dingen überreden, die Du nicht verantworten kannst!«

»Ich kann all mein Thun verantworten und habe niemandem Rechenschaft zu geben als mir selbst.«

»Doch, ich habe in unseren Angelegenheiten auch ein Wort mitzusprechen! Die Kinder haben Rechte –«

»Meinen Kindern gebe ich eine gute Erziehung, den Mädchen auch eine standesgemäße Aussteuer. Der Junge mag, wie ich selbst, sein Glück versuchen. Ich nahm kaum einen Pfennig von meinem Vater, warf die thörichten Titel beiseite, arbeitete, verdiente und eroberte mir meine Stellung in der Welt.«

Die Rede brachte Clementina-Julia vollends auf.

»So? Du findest also, daß es eine heiligere Pflicht ist, arbeitsscheuen, gewissenlosen, verkommenen und vertrunkenen Menschen Dein Geld hinzugeben als Deiner Kinder zu gedenken?«

»Von wem sprichst Du?«

Kays Blick war vernichtend, seine Stimme bebte, und seine Hände schlossen sich in dem Zorn, der ihn übermannte.

»Ach, was sollen die Fragen? – Du willst einen Menschen wie Bomstorff der Welt gegenüber sogar als Mitglied der Familie hinstellen, ihn zu unserem Hausgenossen machen? Wenn ich denke, daß dieses mauvais sujet, dieser verlogene, ewig trunkene Mensch täglich um mich sein soll, ich glaube – ich –«

»Nun?« rief Kay und schoß in die Höhe.

»Ich gehe, und Du magst allein auf Dronninghof wirtschaften.«

Kay wollte bereits das furchtbare, sie vielleicht für immer trennende Wort aussprechen, aber doch besann er sich noch. Er gedachte des früheren Vorfalles zwischen Cedes und Clementina-Julia und beherrschte sich mit ganzer Willenskraft.

»Bomstorff kommt, und Du wirst ihn empfangen,« begann er in einem festen und jeden Widerspruch abschneidenden Ton. »Von täglichem Umgang ist nicht die Rede. Alles bleibt beim alten. Aber mein Wort halte ich. – Und ich gab es nicht, weil man meiner Eitelkeit schmeichelte, nicht in einem unbesonnenen Gefühlsdrange, sondern wohl überlegt. Ich schätze das Gute in Bomstorff; ich mag seine Art; zudem ist er mein Verwandter, und ich rette ihn vom Untergang. Ich thue also ein nützliches Werk.«

»Zum Unterstützen giebt's würdigere Menschen! Wie viele arbeiten ehrlich und fleißig und darben –«

»Gewiß! Aber man kann nicht der ganzen Welt helfen. So sucht man in seinem nächsten Kreise die Not zu lindern und übt die Vorschriften wahrer Religion –«

»Not lindern? Sitzt er nicht und trinkt die Nächte durch? O, wie hasse, wie verabscheue ich diesen Menschen.«

»Ja, alles, was nicht Du selbst bist, was nicht Deine Kinder anbetrifft, läßt Dich völlig gleichgültig, und stets wirst Du mit Abscheu erfüllt, sobald jemand einen Anspruch an Deine offene Hand erhebt. – Mir aber –« und Kay erhob die Stimme, und seine Worte wirkten wie Donnerschläge – »ist dies Treiben verwerflich und – ja, es muß einmal deutlich gesagt werden, auf die – Länge unerträglich, – ganz unerträglich.«

»Und mir Deine Despotie, Deine Launenhaftigkeit und Deine tägliche Schulmeisterei!« rief Clementina-Julia, jede Fassung verlierend.

»Nun, so geh!« – Kay schrie es. Die Worte fuhren wie heiße Flammen aus dem Munde, und sein Fuß stieß so heftig auf den Boden, daß Möbel und Kronleuchter zitterten.

»Sags noch einmal!« hauchte die Frau mit keuchendem Atem, bleich, mit zuckenden Augen und bebenden Gliedern. Unter dem Mieder pochte ihr Herz, das Blut schoß ihr in die Schläfen, und wenn sie auch in diesem Augenblicke gewußt hätte, er werde sie töten, – ihr Mund würde gesprochen haben.

»Nun ja! Dann nicht noch einmal, sondern ein für allemal; Du gehst. – Wir trennen uns. So, Clementina-Julia! Nun hast Du endlich, was Du wolltest, und möge es Dich nicht gereuen!«

Hierauf stürzte Kay aus dem Zimmer.

Nachdem er fort war, durchmaß Clementina-Julia mit großen Schritten und mit vor Wut entstellten Mienen das Gemach. So wenig war sie Herrin ihrer selbst, und so überwältigend die Rückwirkung auf ihre äußere Erscheinung, daß sie vor ihrem eigenen Bilde erschrak, als ihr Blick den Spiegel streifte.

Sie war totenblaß, ihre Augen glühten düster, als habe sie viele Nächte fieberkrank durchwacht, und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck, als seien Zorn und Haß unverwischlich darin eingegraben. Aber so wild das Feuer, so schnell das Erlöschen.

Schon, nachdem sich der erste Ansturm ihrer tobenden Empfindungen gelegt hatte, erkannte sie das Entsetzliche dessen, was geschehen war. Sie horchte auf das Geringste, was sich draußen regte. Sie faßte das Nächstliegende ins Auge und suchte daran wieder für sich anzuknüpfen. Solchen Eindruck hatten Kays Worte auf sie gemacht, für so unabänderlich hielt sie seinen Entschluß, daß ihr plötzlich war, als sei sie, die Herrin in diesem Hause, eine Fremde, als habe sie kein Recht mehr, Befehle zu erteilen, und als sähe sie heute alle Gegenstände, die sie umgaben, zum erstenmale. Ein Gefühl grenzenloser Vereinsamung, eine Beklemmung und quälende Angst, als müsse jeden Augenblick etwas Entsetzliches geschehen, erfüllte sie.

Endlich hörte sie Kays Stimme. Die Thür nach dem Vorplatz ward geöffnet; sie vernahm den raschen Huftritt eines Pferdes und sah bald darauf ihren Mann heraustreten. Er ging, die Handschuhe knöpfend, an seinen Fuchs heran, klopfte ihm den Hals und schwang sich in den Sattel. Ein Hund auf dem Pachthofe schlug kurz an. Das hartklingende Geräusch des auf dem Steinpflaster scharf trabenden Tieres drang an ihr Ohr; zuletzt entzog die Abenddämmerung sein Bild ihren Blicken.

Und doch erschienen Clementina-Julia Pferd und Reiter nicht als etwas Wirkliches, Greifbares, vielmehr als eine plötzlich auftauchende Erscheinung, die nicht zu ihr und nicht zum Hofe gehörte. – War denn alles nur ein Traum draußen, – ein Spuk –?

Die Frau sank in ihren Sessel, und unaufhaltsam lösten sich die Tränen aus ihren Augen. Vielleicht zum erstenmale seit ihrer Kindheit weinte sie bitterlich, und in der Armseligkeit des Lebens empfand auch sie nun die furchtbaren Qualen des Einsamen, Verlassenen, der nach Trost, nach Hülfe schreit.

Als sie, mühsam sich aufraffend, über den Flur schritt, um Kays Zimmer zu betreten – ein heftiger Drang trieb sie dahin – wunderte sie sich, daß sich der Diener wie immer ehrfurchtsvoll verbeugte, daß er ihrer Weisung, die Lampen in des Grafen Zimmer wieder zu entzünden, sogleich voll Eifer Folge leistete. Noch war sie also Herrin auf Dronninghof, noch wußte ihre Umgebung nichts!

Als der Diener gegangen war. warf sich Clementina-Julia in eine Sofaecke und ließ noch einmal in diesen Räumen an sich vorübergehen, was sich ereignet hatte.

Wenn er, Kay, jetzt das Zimmer beträte, würde er ihr nicht mit stolzem Blick die Thür weisen, sie hochmütig fragen, was sie hier zu schaffen habe?

Alle Gegenstände erschienen ihr, als ob sie deren Schönheit und Wert bisher gar nicht geschätzt habe. Dasselbe neugierig scheue Gefühl, mit dem sie auf ihren Reisen den einstigen Besitz verstorbener Menschen in Augenschein genommen hatte, beschlich sie. Mit fremden Blicken betrachtete sie alles ringsum, und Kay, Dronninghof, des Mannes Name und Reichtum, das bisherige Wohlleben und ihre gebietende Stellung stellten sich ihr plötzlich als etwas noch zu Erreichendes und doch Unerreichbares vor.

Was hatte er ihr zugerufen? »Nun ja! Dann nicht nur noch einmal, sondern ein für allemal: Du gehst! Wir trennen uns! So. Clementina-Julia. Nun hast Du endlich, was Du wolltest, und möge es Dich nicht gereuen.« – Das hieß: Sie sollte Dronninghof verlassen. Irgendwo würde er ihr also doch einen Wohnsitz anweisen! Wir trennen uns! Und möge es Dich nie gereuen. – – Das klang, als ob um Vergebung flehende Worte doch noch eine Wirkung ausüben konnten!

Clementina-Julia sann und grübelte und kam doch zu keinem Ende. Ein Gedanke jagte den anderen. Konnte doch noch alles gut werden? Nein! Unmöglich – – Sie wollte, sie konnte das erste Wort nicht geben, und er sprach es sicher nicht! Beides stand fest. Und wenn sie es auch gab, – sie fühlte: nicht der augenblickliche Zorn hatte aus ihm gesprochen, er trug sich schon lange mit einem solchen Gedanken. Er wollte! Er suchte nach einem Vorwande zur Scheidung!

Und dieses Geschöpf, diese Carmelita, trug allein die Schuld an allem. Durch sie war die erste ernstere Entfremdung zwischen ihnen eingetreten, durch sie hatte er sich ihrem Einflusse entzogen, durch sie waren immer schärfere Gegensätze hervorgetreten, und durch sie standen sie sich jetzt gegenüber mit kaltem Herzen. »Geh dort! Ich gehe hier!«

Was sollte nun aus ihren Kindern werden? Ah! Die Kinder – – die Kinder! Jetzt waren alle bisherigen Hoffnungen auf einmal begraben! Wenn er ihnen ein bescheidenes Erbteil zuwandte, mußte sie schon dankbar sein. Denn er liebte Kay und Julia nur mit halber Liebe; das sah sie, das fühlte sie jeden Tag. Trug sie die Schuld? War's eine Folge ihrer Parteinahme? Übertrug sich auf das erste Kind alle Zärtlichkeit, weil es bei der Mutter keine fand? Vielleicht – – Und jedenfalls war's eine Thatsache! Er erkannte gar keine Verpflichtungen an, für seinen Sohn besonders zu sorgen! Hatte er nicht erklärt, der könne sich sein Brod verdienen wie er selbst?

Und der alte Mann, ihr Vater und ihre Mutter und – Mercedes?– Mercedes? – Jetzt stockte der Frau der Atem. Aus Eifersucht entfachte sich von neuem der Neid und aus beiden eine erhöht Gier nach Besitz – nach Geld –!

Dann wollte Clementina-Julia doch wieder bettelnd zu den Füßen ihres Mannes sinken, seine Knie umklammern und flehen, daß alles vergessen sein möge! Wußte der Zorn, was er that? Bot denn der Streitgegenstand wirklich einen Grund zu solchem Ausgange? – Kay, ich bitte Dich, habe ich nicht auch ein wenig recht? Muß man denn nicht unterscheiden zwischen ganzen und halben Menschen, zwischen schlechten und guten? War Dein gesamtes Leben nicht nur ernstes Streben? Setzest Du nichts ehrenhafte Gesinnung und ehrenhafte Handlungsweise über alles? Bist Du nicht pflichttreu, thatkräftig, übst Maß in allen Dingen? Und ist dieser Mensch, dieser Bomstorff nicht ein faulenzender Aufschneider? Besitzt er wirklich einen ehrenhaften Charakter? Ist es in der Ordnung, alle Welt um Geld anzugehen, in den Wirtshäusern das Geld zu verthun und sich noch anzumaßen, ein Auserwählter unter den Menschen zu sein? Macht es denn meiner Gesinnung nicht Ehre, wenn ich das alles verdamme?

So sprach Clementina-Julia in sich hinein, aber sie vernahm auch wieder Kays Entgegnung. Sie sah ihn vor sich mit finsterm Blick, hörte ihn mit ruhiger Bestimmtheit reden.

Alles, was er ihr so oft erwidert hatte, klang von neuem an ihr Ohr. Aber sie hörte noch mehr: Siehst Du den Splitter in anderer Augen, gedenke des Balkens in Deinem eigenen!«

Ja, sie war kalt, herrschsüchtig und berechnend. Sie kannte nur sich in der Welt und besaß keine Mäßigung, wenn ihr Stolz, ihr Eigenwille, ihre Selbstliebe in Frage kamen.

Hatte sie nicht gegen Carmelita erbarmungslos gehandelt, gehandelt wie ein rohes Weib aus dem Volke, das in blinder Wut die Hand erhebt und Wunden schlägt?

In diesem Augenblick empfand Clementina-Julia tiefe Reue. Sie lag wieder einmal demütig vor ihrem Manne und griff nach seiner abwehrenden Hand. »Vergieb, Kay! Mein Wille war gut. – Nein? – Ja, Kay – aber mein Fleisch war schwach! – Bedenke, Du hast auch Schwächen. – Sprich, – ich fordere Dich vor den Richterstuhl des Höchsten: Liebst Du nicht meine Schwester? Antworte! Ist diese Liebe nicht sündhaft? Nein, sie ist menschlich! Ist nur das menschlich, entschuldbar, was Du thust? Gewiß nicht, aber mein sehnendes Herz fand bei ihr, was Du mir nicht botest. Ich wollte Blumen, und Du reichtest mir Nesseln. Ich wollte Milde, Sanftmut und Güte für mein Kind, und Du züchtigtest es, wie man einen Hund schlägt. – Meine menschlichen Regungen für andere tadelst, – verspottest Du gar! Nicht aus weiser Überlegung, nein, aus Eigenliebe, aus neidischem Triebe, aus der Härte deines Gemüts. Sie aber hat ein Herz für ihre Nebenmenschen, – sie ist, was der Dichter von dem Menschen fordert, edel, hilfreich und gut. Man kann auch seinem Herzen nicht gebieten! Und dennoch ist unsere Neigung zueinander ohne einen Flecken geblieben bis auf den heutigen Tag. Wenn ich sie küßte, so war's ein zärtlicher Bruderkuß, und wenn meine Gedanken sich zu ihr wandten, mischte sich nichts Unreines hinein. Ich liebe ihr Inneres, ihre Schönheit, ihre Stimme, ihre Gestalt, aber mit den sanften Gefühlen, welche die Sympathie in uns weckt, die wir nicht zu erklären vermögen, und die, als ein Ergebnis des Unbewußten, höheren Wert und größere Dauer in sich birgt als jene Liebe, welche sich Liebe nennt und nur Leidenschaft ist.

Und doch will ich mich ehrlich meiner Schwächen zeihen und auch meine Schuld gegen die deine abwägen. Aber jeder Tag beweist von neuem, daß wir nicht zueinander gehören, daß unsere Verbindung ein Irrtum war, daß wir uns, statt glücklich, unglücklich machten, und beide nur Gewinn ziehen werden, wenn wir uns trennen.

So gehe jeder seinen Weg. sich dem Unabänderlichen fügend. Du wirst nicht darben. Auch lasse ich Dir die Kinder. – – Trennen wir uns ohne Haß und Vorwurf. Scheiden wir als Menschen, die gegenseitig ihren Wert schätzen, aber auch erkennen, daß sie für ein tägliches Beisammensein nicht geschaffen sind. Man kann Feuer und Wasser nicht verschmelzen, und wenn man ein Gott wäre! Lebe wohl, Clementina-Julia!«

Sie vernahm die Worte, als habe er sie eben laut gesprochen, aber auch, als habe sie alles schon einmal erlebt, jede seiner Bewegungen gesehen, jeden Ton gehört, als hätten sich schon einmal ganz gleiche Empfindungen, Gedanken und Entschlüsse in ihr geregt und die aus der Unabänderlichkeit hervorgehenden Gefühle eines ruhigen Verzichtes damals von ihr Besitz genommen.

Und nach diesen Vorstellungen, die Clementina-Julias klugem Geist entsprangen, die zutreffend waren, weil eben dieser und nicht das Gemüt mitsprach, das nur Scheinbilder fördert, fühlte sie sich plötzlich besänftigt und war gefaßt.

Sie nahm eine Lampe und beschloß, sich in ihr Schlafgemach zurückzuziehen. Aber beim Fortgehen sah sie einen Schlüssel in Kays Schreibtisch stecken, und das erregte sie gewaltig und änderte ihren Entschluß. Ein wunderbarer Zufall war's, so wunderbar, daß sie kaum daran zu glauben wagte! Ja, in der Rückwirkung dessen, was sich ihr als möglich aufdrängte, glaubte sie plötzlich Huftritte auf dem Vorplatz zu hören.

Eilte Kay zurück? Hatte er den Schlüssel vermißt? Kam er deshalb? Clementina-Julias Auge fiel auf die Uhr. Sie erschrak. Stunden waren vergangen. Der Zeiger wies über Mitternacht.

Und draußen war, als sie hinhorchte, nun doch alles still. Nur ihrer erregten Fantasie war entsprungen, was sie für Wirklichkeit gehalten.

Sie öffnete die Thür und schaute behutsam hinaus.

Der Diener saß wartend im Flur.

Er war in einem der lederbezogenen altmodischen Sessel eingeschlafen.

»Konrad! Konrad!«

Der Träumende fuhr verwirrt empor.

»Gehen Sie schlafen. Schließen Sie die Hausthür, – auch die Balkonthür –«

»Zu Befehl! Sonst noch etwas, Frau Gräfin?«

»Nein!«

»Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Er ging, und Clementina-Julia, der Lichter und Lampen im Wohnzimmer gedenkend, eilte hinüber, um sie zu löschen. Und während sie sie löschte, fand sie die Haussorge doch ganz gleichgültig. Weshalb noch sparsam sein, da ihr daraus kein Vorteil erwuchs? Ihr war ihr Teil zugemessen ein für allemal! Sicherlich! Es war wirklich Wahrheit, es war keine Verstellung! Clementina-Julia glaubte nicht an eine nochmalige Versöhnung! Und deshalb galt's jetzt auch zu handeln!

»Die Flurlampe soll doch brennen bleiben, Frau Gräfin?«

Der Diener, welcher noch einmal den Kopf in die Thür steckte, sprachs, und Clementina-Julia schrak zusammen.

»Ja! – Allerdings – Sagte der Herr, wann er zurückkehren werde?«

»Nein, Frau Gräfin.«

»Hm – Hm! Gut! Gehen Sie schlafen!«

Nachdem Konrad sich entfernt hatte, holte Clementina-Julia Atem und horchte auf des Fortgehenden verhallende Tritte.

Dann eilte sie wieder in Kays Zimmer. Juchtengeruch schlug ihr entgegen. War's nur heute? Nein, stets war das Gemach von diesem Duft erfüllt. Durch die geschlossenen Fenster ward gefördert, was sich in den Tapeten und schweren Gardinenstoffen eingenistet hatte.

Clementina-Julia ließ die Vorhänge herab.

Sie schloß sogar das anstoßende, seit Carmelitas Krankheit Kay als Schlafzimmer dienende Nebenzimmer. War's nicht auch vorsichtiger, die Thür nach dem Flur abzudrehen? Konnte nicht der Diener nochmals zurückkehren?

Clementina-Julia zögerte. Sie horchte. Alles still. Gottlob! Also ans Werk! Sie öffnete Kays Privatsekretär und suchte. In der ersten, tiefen Schublade lagen Handschuhe, Gamaschen, Reitutensilien, Jagdmützen und ähnliche Gegenstände.

In der nächsten war auch nichts, was ihr Interesse irgendwie in Anspruch zu nehmen vermochte: Geschäftsbücher, Papiere, Quittungen, letztere sorgfältig zusammengebunden.

Auch fanden sich einige Päckchen, die mit »Privat Korrespondenzen« überschrieben waren. »Briefe meiner teuren Clementina-Julia!« – las die Frau. Sie ließ die Hände sinken und starrte vor sich hin. – – Von meiner teuren Clementina-Julia! – Und nun das heute! – Wer ihr das gesagt hätte, als er einst um sie geworben!

Ein zehrendes Gefühl beschlich die Frau. Aber es war nicht von Dauer. Wichtigere Dinge beschäftigten sie. Sie begann von neuem zu suchen und öffnete die mittlere Schublade des großen Schreibpultes. Abermals Briefschaften. Rechnungsbücher, Konvolute, Mappen in rotem Leder mit der goldenen Grafenkrone.

Hier jedoch ein Geheimbuch! Es lag in einem gesonderten Fache neben Heften, die mit »Londoner Firma« überschrieben waren. Ja, das war's, was Clementina-Julia suchte! Dies und – das Testament!

Bevor sie an die Prüfung ging, warf sie noch einmal scheue Blicke um sich, horchte, ob auch draußen etwas sich regte, Sie schob sogar die Vorhänge zurück und spähte auf den Hof – Nichts! Zum Glück nichts. Nur eine weiße Katze schlich durch den Mondschein.

Clementina-Julia schlug das Geheimbuch auf und durchblätterte es langsam und sorgfältig. Beim Umschlagen entstand ein Geräusch, das in dieser Stille der Nacht unheimlich wirkte.

Plötzlich hörte die Frau auch das Ticken der Wanduhr, die eintönige Sprache dieses gleichsam lebendigen Zeugen der heimlichen Beschäftigungen der Menschen.

Aber rasch verwischten sich doch wieder Eindrücke und Vorstellungen. Allzumächtig fesselten Clementina-Julia die zahlenbeschriebenen Seiten: Debet und Kredit!

Anfänglich schien's ihr unmöglich, daraus ein Bild zu gewinnen. Aber es fanden sich auch Worte, die sie nur zu gut verstand.

»Vortrag: Barer Vermögensbestand am 3. Dezember: 75,632 Pfund Sterling! 75,632 Pfund Sterling! Clementina-Julia hielt atemlos inne und rechnete: Das waren über 500,000 Thaler! Eine halbe Million! Und dazu kam noch Carmelitas Vermögen! Sicherlich! Und der Wert von Dronninghof – Clementina-Julia suchte weiter. In diesem Augenblick verfinsterte sich die Lampe, und dem Höherschrauben folgte nach kurzem Aufflackern völliges Verlöschen. Hastig griff sie nach einem auf dem Nebentisch stehenden Licht, entzündete es und setzte ihre Nachforschungen fort. Sie fand auch wirklich, was sie zu wissen wünschte.

Dronninghof war ebenfalls verzeichnet und stand mit 375,000 Thalern zu Buch.

Kay war also reich, sehr reich, und der jüngste Ausfall von 5000 Pfund Sterling, den sie auch bereits eingetragen fand, war in der That von keiner Bedeutung.

Aber was kümmerte sie das heute noch –? Oder doch – – Oder doch – –?

Die Frau legte das Buch wieder an seinen Platz; es war noch ein Fach zu öffnen. Die angestellten Versuche führten jedoch zu keinem Ergebnis.

Nun fielen Clementina-Julias Blicke auf den Schreibtisch und auf eine silberne Schale, in der kleine Knöpfe, Ringe, angespitzte Bleistifte, gebrauchte Stahlfedern, Uhrschlüssel und sonstiger Krimskrams beisammen lagen. Auch ein kleiner Schlüssel mit kunstvoll gearbeiteter Krone fand sich darunter. Diesen probierte Clementina-Julia, wenn schon ohne große Hoffnung. Und in der That war's vergeblich.

Bereits im Begriff, den Schlüssel zurückzulegen, fiel ihr ein Kasten von Ebenholz in die Augen, der schon seit Jahren hier seinen Platz gehabt, aber nach dessen Inhalt sie noch nicht einmal gefragt hatte.

Zu ihrer nicht geringen Überraschung paßte der Schlüssel zu der Schatulle, und beim Öffnen lagen mit Siegeln versehene und in Konvoluten steckende Papiere: Familienakten, Diplome, Taufscheine und Kontrakte vor ihr. Und hier fand sich auch das langgesuchte Testament.

Clementina-Julia verging fast der Atem. Sie zitterte vor Erregung.

Aber jetzt hörte sie wirklich ganz deutlich Huftritte eines rasch trabenden Pferdes aus dem Pachthofe. Sie schrak heftig zusammen. Es war Kay! Kein Zweifel –!

In fliegender Hast that Clementina-Julia alles wieder in den Kasten, schloß ab, legte den Schlüssel wieder an seinen Ort, ergriff das Licht und eilte, auf den Zehen schleichend, die Treppe hinauf. Hier stellte sie es in eine dunkle Ecke, blieb stehen und horchte.

Und sie stand lange, aber Kay kam nicht. Waren es abermals nur Vorstellungen ihrer Phantasie gewesen? Am Ende bot sich doch noch Zeit, Einblick in das Testament zu gewinnen.

Ja, war's denn überhaupt so wichtig, zu wissen, was darin stand? Genügte nicht die Kenntnis der Höhe seines Vermögens? Doch nicht! Wenn sie aus der letztwilligen Verfügung ersah, wie viel er ihren Kindern zugedacht hatte, regelten sich ihre Entschlüsse leichter.

Nun sprangen ihre Gedanken wieder ab. Vielleicht war's doch Kay gewesen! Er hatte sich in den Stall begeben, den Knecht nicht geweckt. Möglich, sogar wahrscheinlich. Aber auffallend war sein langes Fortbleiben.

Jetzt erlosch plötzlich auch das Licht. Clementina-Julia war im Dunkeln und tastete sich über die Stufen und über den Korridor in ihr Zimmer. Hier stieß sie beim Herumtappen an einen Stuhl, und das Geräusch erschreckte sie dermaßen, daß sie eine längere Weile herzklopfend innehielt.

Endlich zündete sie eine Lampe an und eilte in das Schlafgemach ihrer Kinder. Bei der Erinnerung an sie stiegen wieder andere Gedanken in der Frau auf! – Wenn Kay, ihr Mann, nicht mehr lebte, dann war sie sicher Erbin des ganzen Vermögens! Und zwischen dieser halben Hoffnung, vor der sie selbst erschrak, befiel sie seltsamer Weise die Sorge um ihn. Der Gewohnheitsgedanke kam zu seinem Rechte und verwischte für Augenblicke alles Unebene und Unheilige, das sich in ihrer Seele eingenistet hatte.

Und diese Sorge hielt an. Clementina-Julia schritt leise aus dem Gemach, gelangte an die Treppe, horchte, fand den Flur noch erleuchtet und stieg vorsichtig hinab.

Aber als sie im Begriff stand, sich in Kay's Zimmer zu begeben, ward die Hausthür rasch aufgedreht, und ihr Mann stand jählings vor ihr.

Ein Schrei entfuhr dem Munde der Frau. Die Lampe zitterte in ihrer Hand, und wie von einer Geistererscheinung betroffen, prallte sie zurück. Er war bleich, in seinem ungeordneten Barte hing Asche, – Staub –, seine Haltung war unsicher – sein Blick starr.

Und nun schwankte er und fiel gegen die Wand. Die Reitpeitsche entglitt seiner Hand! Zuletzt sank er, trotz Clementina-Julias raschem Eingreifen, tief herab.

»Kay! Kay! Was ist? Um Himmelswillen –!«

Die Frau begriff selbst nicht, daß diese Laute der Fürsorge aus ihrem Munde gingen. War es der Anblick der Kinder gewesen, der ihre Gefühle geweckt hatte, war's allein die Gewohnheit, welche stärker ist als die gewaltigste Leidenschaft, oder kam doch ihre bessere Natur zu ihrem Rechte?

Aber Kay hörte nicht auf Clementina-Julias Worte. Er lag da wie ein Sterbender.

Die Augen waren geschlossen. Die Brust arbeitete mühsam.

»Kay! Kay!« schrie die Frau. »Stirb nicht, Kay – höre mich!«

Nun schlug er die Lider auf – – einmal, als ob's ihm unsagbare Schmerzen bereite, und dann sank er wieder wie leblos zurück.


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