Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Zweites Kapitel.

Die Sonne warf ihre Lichtströme herab und durchleuchtete den grünen Wald von Dronninghof, in dem tausend Vögel nisteten und unzählige, dem Auge verborgene Geschöpfe das Glück des Lebens genossen.

Dieser Wald war ein Juwel. Nirgends gab es herrlichere Buchen, nirgends eine tiefere Einsamkeit, eine heiligere Ruhe, nirgends so schattige Spaziergänge, und nirgends schien die Luft von einem so reinen Atem erfüllt zu sein.

Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt lag das Gut Dronninghof mit seinem Park, seinen Äckern, Wiesen und Mooren, umzingelt von Wald und grünem Gehölz, und unbeschreiblich malerisch durch den Wasserstreifen, der die großen Parkwiesen von jenem trennte.

Hier leben und das Glück des Daseins genießen, sorgenfrei, im Einklang mit sich selbst, den Sinn und die Gedanken auf das Gute und Schöne richten!

Eben hatten die Arbeiter die letzte Hand an das Innere und Äußere des Herrenhauses gelegt. Eine wahrhaft vornehme Schönheit, jene Schönheit, die in der Anwendung sanfter Grundfarben ihre Aufgabe sucht, zeichnete die gesamte Einrichtung aus.

Die Gitter, welche die Sandsteinstufen an den Eingängen flankierten, funkelten und glitzerten in Gold, und die von grünen Schlingpflanzen umrankten, schneeweiß gemalten Thüren und Fenster hoben sich prächtig ab von dem Perlgrau, mit dem die Wände angestrichen waren.

Zahlreiche Arbeiter hatten sich draußen wochenlang gerührt und bis auf das zierlich emporstrebende Taubenhaus auf dem sich unmittelbar anschließenden Pachthofe glänzte alles, Wirtschaftsgebäude, Ställe, Pächterhaus und Nebengebäude, als sei es eben neu erstanden.

Die ganze Stadt Schleswig nahm Anteil an dem Ereignis der Wiederkehr des Grafen! Nicht nur, daß Graf Felix von Witzdorff auf das Erbteil seiner Vorahnen zurückkehrte, ihn begleitete auch eine schöne, wenn auch nicht mehr ganz junge Frau, auf deren Erscheinen die Gesellschaftskreise äußerst gespannt waren, und das sie nicht minder beschäftigte als vordem die Kunde von des Grafen Eintreffen.

Alle Welt rühmte des letzteren Liebenswürdigkeit, seine Leutseligkeit und – seine offene Hand.

Was aber besonders für ihn eingenommen und wodurch sich bestätigt hatte, daß ihn nicht nur eine Laune vorübergehend in die Heimat zurückgeführt habe, war der Umstand, daß er sogleich in einige Klubs eingetreten war, abends mit den Mitgliedern L'hombre gespielt und verschiedene Besuche auch bei den angeseheneren Bürgern der Stadt gemacht hatte.

Der alte Graf Schlieben war überglücklich, und nicht minder fand sich die Gräfin, wenn auch weniger von übertriebenen Hoffnungen erfüllt, mit ihrem Herzen bei der Verbindung ihrer Stieftochter.

Einmal, in der Zwischenzeit, hatte Clementina-Julia in Begleitung ihrer Eltern Dronninghof besucht und voll glücklicher Überraschung in Augenschein genommen, was künftig auch ihr Eigentum sein sollte.

Die liebenswürdigen und unausgesetzten Aufmerksamkeiten des Grafen Felix rührten sie. Er war in seiner Begegnung, auch wenn die Gelegenheit sie für kurze Zeit allein ließ, voll Ehrerbietung, und den geringsten Wunsch, den sie aussprach, faßte er mit einer Lebhaftigkeit auf, als sei er kein dem Greisenalter nahe gerückter Mann mit bedächtiger Erfahrung, sondern ein jugendlicher Liebhaber. Was aber Clementina-Julia insbesondere die letzten Bedenken nahm, ob sie klug gehandelt habe, war die taktvolle Art, in welcher Graf Felix ihr zu verstehen gab, wie sehr er sich durch ihr Jawort ausgezeichnet fühle.

Immer von neuem betonte er, welches Opfer sie ihrer Jugend bringen werde, und in einem längeren Gespräch, das unter den Bäumen des Waldes stattfand, äußerte er in zarter Denkungsart, um wie viel größere Pflichten ihm daraus erwüchsen, sie glücklich zu machen.

Clementina-Julia verglich jetzt unter einem Anflug von Geringschätzung Kays trotziges Werben mit der ehrerbietigen Höflichkeit seines Vaters.

Die Vertraulichkeit, die sich jener gegen sie erlaubt hatte, ärgerte sie, trotz seiner freimütigen Abbitte. Ihr durch Enttäuschungen und Einsamkeit nur noch mehr genährter, an Hochmut grenzender Stolz lehnte sich dagegen auf, daß er gewagt hatte, sich ihr in solcher Weise zu nähern.

Trotzdem war sie fortwährend mit ihren Gedanken bei ihm gewesen, sie konnte ihm, obschon sie sich dagegen kehrte, ihre Achtung nicht versagen, sie empfand, daß er ein seltener, ein echter und wahrer Mensch sei, und die letzten Vorgänge hatten sogar ein heißes Gefühl für ihn in ihr wachgerufen. Aber da sie einmal gewählt, hatte sie die Regungen, welche nur verderbliche Folgen haben konnten, rücksichtslos zurückgedrängt. Indem sie das Ersuchen an ihn richtete, niemals zurückzukehren, wollte sie sich vor sich selbst behüten.

Aber diese Bitte entsprang weniger aus sittlicher Überlegung, als aus – Selbstliebe.

Sie wünschte keine Unbequemlichkeiten aus neuen Begegnungen mit ihm zu haben, und so forderte sie, obgleich sie sich der Größe und Bedeutung ihres Anspruches für ihn bewußt war, daß er sie in Zukunft meiden solle.

Selbstverständlich regte sich unter den Einwohnern Schleswigs neben der Neugierde und der Befriedigung über einen so besonderen Zuwachs für die Gesellschaft allerlei Neid, Mißgunst und Berechnung. Von letzterer war namentlich ein Verwandter des Grafen, der in der Stadt sowohl wegen seiner Sonderbarkeiten, als auch wegen seines nicht eben soliden Lebenswandels nur zu oft den Gesprächsgegenstand bildete, nicht frei.

Im Grunde war Baron Hugo von Bomstorff ein Edelmann im besten Sinne. Aber seitdem durch den Verlust eines bedeutenden Vermögens eine Verschlechterung seiner Geldverhältnisse eingetreten war, hatte der angeborene Hang zu abenteuerlichen Affären neben einer nur durch große Ausgaben zu befriedigenden Eitelkeit den früheren Major der ungarischen Armee gegenwärtig in starken Verfall gebracht.

Seit drei Jahren war er in seine Heimat zurückgekehrt und lebte teils von einer kleinen, ihm von der österreichischen Regierung ausgesetzten Pension, teils aus den Geldbeuteln anderer Leute.

Die Wertuntersuchung von Medoc und Champagner war seine besondere Beschäftigung; aber wenn sie auch auf der einen Seite seinen natürlichen Esprit zu schärferem Ausdruck brachte, der sowohl etwas von dem bewußten Cynismus, wie von dem unbewußten Humor eines Rodenstein an sich hatte, so förderte doch diese Beschäftigung weder seine Gesundheit, noch verbesserte sie seine Verhältnisse und seinen Ruf.

Graf Felix war die Verwandtschaft mit dem Baron mehr als unbequem; aber mit kluger Ergebenheit fand er sich in die Umstände. Nach einigen Vorbesprechungen erklärte er seinem Vetter, er wolle ihm eine kleine Rente aussetzen, die an der Kasse der Kreditbank monatlich am ersten ausbezahlt werden solle. Dagegen verlangte er – im übrigen voll Achtung vor des Barons Vorzügen – hundert Schritt Entfernung. Graf Felix erörterte diesen seinen Standpunkt in folgender Weise:

»Wir sind« – erklärte er bei Gelegenheit einer Begegnung zu früher Stunde in den Parterreräumen der Ressource – »zu verschiedene Naturen, um uns zu assimilieren. Ich liebe die Ruhe. Alles Auffallende und Abweichende stört mich. Sie, Bomstorff, haben einen beweglichen Geist, sind, wie ich anerkenne, voll Genialität – dieses Zugeständnis machte Graf Felix seinem Verwandten mit der sicheren Berechnung, daß dadurch die Härten seiner Erklärung sich mildern würden –, aber der Zeit voraus oder noch in alten Anschauungen steckend; – ich vermag das zutreffend nicht zu entscheiden. So wollen wir uns denn lieber aus der Entfernung schätzen und werden zufolge unseres Arrangements wahrhaft gute Freunde bleiben. Ich mache Ihnen diesen Vorschlag um so mehr, als meine künftige Gattin unter Lehren und Beispielen auferzogen wurde, die von Ihren Lebensanschauungen wesentlich abweichen.«

Hugo von Bomstorff erwiderte auf diese Rede:

»Lieber Vetter! Ich verstehe Sie nicht nur, sondern ich schätze sogar ihre Offenheit. Die Freundschaft, die Weisheit nicht knüpfte, kann, wie Shakespeare sagt, die Thorheit leicht auflösen! Ich danke Ihnen und reiche Ihnen die Hand. Nur eine Bitte habe ich: Brauchen Sie einmal einen Menschen, dann wenden Sie sich an mich. Und nun ersuche ich Sie, mit mir eine Flasche Sekt zu trinken (Graf Felix fand diese Zeche auf seine Rechnung ebenso sonderbar, wie die Zeit, in der ihm das Anerbieten gemacht wurde – es war morgens zehn Uhr –), damit wir unsern Pakt besiegeln.

»He! Zweifüßiger Frack!« rief Bomstorff dem Kellner zu, »eilt in den Keller und holt die beste Flasche! Ich habe die Ehre, meinen Vetter, den Grafen von Witzdorff, heute zu bewirten.« –

Aber Graf Felix lehnte mit verbindlichem Dank ab, glättete die hirschledernen Handschuhe über den aristokratischen Händen und empfahl sich mit höflichem Kopfneigen.

Diesen Tag der Rentenüberweisung feierte Baron Hugo, ohne sich zu erheben, bis in die späte Nacht, und Eingeweihte wollten wissen, daß er in dem ehrlichen Drange, seiner Erkenntlichkeit Ausdruck zu geben, gleich die Hälfte der ersten Monatsrate auf das Wohl seines Verwandten verzecht habe.

*           *
*

Ein wundervoller Tag! – Vor der Kirche standen die Neugierigen zu Hunderten, und immer von neuem rollten die Wagen herbei. – Das Küsterhaus, die Schule und die Nebengebäude, welche den freien Platz umgaben, blitzten mit ihren Gemäuern und blumenbesetzten Fenstern im Sonnenschein.

Vom Domturme erklangen die Glocken in feierlichem Ernst. Teppiche waren ausgebreitet, Rosen, duftendes Grün und Blumen bis an den Altar gestreut. Und drinnen war's still und andächtig, wie es in einem Gotteshause sein soll.

Nun verstummten die Glocken. Das ungeduldig und neugierig erwartete Brautpaar war erschienen. Mächtig, herzerhebend, die Seele mit seltsamen Schauern erfüllend, brausten die Orgelklänge durch den Dom.

Jetzt strömte auch die Schar der Neugierigen ins Innere und besetzte die Kirchenstühle bis an den Altar hinauf. Gesang der Chorknaben erscholl. Ein Hauch aus den Grabgewölben mit ihren groß en, eisenbeschlagenen Thüren, der Duft alter Farbe und die Luft dumpfer Abgeschlossenheit erfüllten den gewaltigen, durch gotische Pfeiler gestützten Raum. Durch die Kirchenfenster warf die Sonne ihre Strahlen; sie glitt über die rokokoumrahmten Heiligenbilder und die Portraits der Patrizierfrauen mit den krausenbesetzten Hauben und den fromm gefalteten Händen, über die goldbemalten Spitzen am Chor, über die marmornen Epitaphien und die silberglitzernden Orgelpfeifen. Sie umfing auch mit ihrem Glanze die große vornehme Gesellschaft; die Männer in den bunten, mit Ordenssternen bedeckten Uniformen, die Frauen in ihren seidenen Kleidern und Schleppen, sie verklärte des Predigers Gestalt, der wartend dastand mit dem schwarzen Büchlein, auf dem ein goldenes Kreuz eingegraben war.

Sie beschien endlich das heute überaus bleiche, eingefallen kranke Gesicht des Bräutigams, des Grafen Felix von Witzdorff, Exzellenz. und die jugendfrohe Miene der Braut, die in wahrhaft gebietender Schönheit neben ihm stand.

Und nun schwiegen Orgeltöne und Gesang, und der Geistliche hub an. Aber als er kaum das Wort genommen, begann Graf Felix heftig zu zittern, so heftig, daß Graf Schlieben hastig und erschreckt forthumpelte, um aus der Umgebung, in der eine gewaltige Bewegung entstanden, einen Stuhl herbeizuholen. Eine große, unerwartete Schwäche zwang den Bräutigam, neben der Braut niederzusitzen und nach der kurzen Unterbrechung in dieser Stellung zu hören, was von Gottes heiligen Geboten, seiner Gnade und Weisheit und von der Schwäche der Menschheit über des Predigers Lippen floß.

Und als dann die Worte verklungen waren, als der Geistliche die Brautleute die Ringe zu wechseln bat, da faßte sich plötzlich der Graf, sichtlich von einem furchtbaren Schmerz gepackt, an die Brust, stöhnte noch einmal schwer auf und – verschied zum Grausen aller Anwesenden in den Armen derjenigen, die Gott nun doch nicht für ihn bestimmt hatte.

Kein Glockengeläute, kein Orgelklang kein Predigerwort mehr! Nur unheimliches Gemurmel unter den Zahlreichen, die sich jählings vermehrten, als seien sie aus dem Boden gewachsen.

Unruhiges Hin und Her auf den Stufen des Altars. Dann Leidtragende und Kirchendiener, die, nachdem der Küster den Ort geräumt hatte, des Abgeschiedenen Körper hier zunächst betteten.

Und die Geister der Toten in den Grabgewölben schienen wach geworden zu sein. Es war sobald sich die Thüren hinter dem Letzten geschlossen hatten, als ob ein unheimliches Geflüster durch den Raum ginge, an dem ein so unerwartetes, furchtbares Ereignis sich zugetragen.

Graf Felix von Witzdorff, Exzellenz, war gestorben, und sein einziger Erbe war Kay.

Wäre Graf Felix einige Sekunden länger am Leben geblieben, – schon hatte Clementina-Julia den Ring zum Umtausch von ihrem Finger abgestreift – der herrliche Besitz und ein Teil des großen Vermögens würden sicher ihr Eigentum geworden sein. Nun aber war Kay der gesamte Nachlaß zugefallen!

Graf Schlieben schien völlig fassungslos; der alte, hagere Kopf wackelte ihm mehr denn sonst zwischen den hohen Vatermördern, und die Pfeife flog haltlos zwischen den wenigen Zähnen hin und her.

Ihre Ruhe bewahrte allein die Gräfin, die nicht nur Clementina-Julia aus der sie aufregenden Umgebung fortbrachte, sondern auch verananlaßte, daß Kay noch in derselben Stunde telegraphisch von dem Ableben seines Vaters benachrichtigt wurde.

Derselbe traf auch so rasch ein, daß er Schliebens, die sowohl wegen Clementina-Julias Befinden, als auch wegen der Teilnahme an der Bestattung, Schleswig nicht verlassen hatten, noch anwesend fand.

»Graf Witzdorff ist da!« rief Mercedes Schlieben aufgeregt und stürmte mit geröteten Wangen in das gemeinsame Wohnzimmer des Hotels, in welches eben der Graf und die Gräfin eingetreten waren. Clementina-Julia saß am Fenster, starrte seit einer Stunde wie abwesend auf die Straße und ließ die einförmigen Bilder, die sich ihrem Auge auf der sonnenbeschienenen, menschenleeren Gasse des Städtchens boten, halb bewußt, halb mechanisch auf sich wirken. Von ihren vernichteten Hoffnungen gingen ihre Gedanken auf das furchtbare Ereignis, von diesem auf ihre Zukunft und dann in die Heimat, ins elterliche Haus, zurück. Die alte Einförmigkeit und Öde ihres Lebens, die völlige Aussichtslosigkeit einer Veränderung desselben traten vor ihre Seele. Und so viele Nebendinge, deren Erwägung unter den ersten Eindrücken der Trauer nicht aufgekommen war, beschäftigten gegenwärtig ihre Gedanken und beschwerten ihr Gemüt. Mit welchen Opfern war die einer Gräfin von Witzdorff würdige Aussteuer beschafft worden, welcher Sorgen und Mühen hatte sich ihre Stiefmutter unterzogen, wie war der alte Mann, ihr Vater, unter den frohen Erwartungen der Zukunft aufgelebt, und wie geknickt schlich er einher, da nun alles wieder zertrümmert war.

Und Graf Kay! Nun hatte sie ihn selbst gerufen, aber nicht um Zeuge ihres Glücks zu sein, sondern um es begraben zu helfen. Graf Kay! Gerade jetzt waren Clementina-Julias Gedanken ausschließlich auf ihn gerichtet –.

Er liebte sie, und auch für ihn war's so heiß in ihr emporgequollen, daß sie sich vor einer Wiederbegegnung gefürchtet, sie, rücksichtslos ihrer Eigenliebe folgend, für alle Zeiten abzuschneiden gesucht hatte. Und dennoch lehnte sich Clementina-Julia gegen eine etwaige Verbindung mit Kay auf. Alle Stimmen, die früher für ihn geflüsterr hatten, waren verstummt. Sein herrisches, kurzes, keinen Widerspruch duldendes Wesen reizten sie, ihr Hochmut und ihr Stolz empörten sich dagegen.

Liebe ohne Sympathie ist ein Schemen. Jene ist die alleinige Stütze zu ihrer Erhaltung. Ohne sie ist unsere Neigung für eine Frau nur eine kurz aufflackernde Flamme der Leidenschaft.

Unter solchen Gedanken und Empfindungen empfing Clementina-Julia den bewegt auf sie zueilenden Sohn des ihr durch des Schicksals Fügung so früh entrissenen Mannes, und suchte vergeblich nach der rechten Fassung. Er aber traf alle Anordnungen mit einer Ruhe, die sie geradezu störte.

Tiefes Leid hatte Kays Inneres auch nicht ergriffen, nur Gefühle der Pietät wirkten nach und Wehmut erfüllte seine Brust. Zudem vermochte er Clementina-Julia nicht zu beklagen. Da sie den Verstorbenen nicht geliebt hatte, empfand sie nur den Kummer einer materiellen Enttäuschung. Unter Enttäuschungen litten aber auch andere Menschen; jedes vernunftbegabte Geschöpf erfuhr sie täglich. Und die Zeit heilte alles.

Aber die Gefühle der Liebe wurden von neuem und stärker in Kay geweckt bei Clementina-Julias Anblick. Es stand auch fest in ihm; er wollte noch einmal um sie werben.

Und Clementina-Julia fühlte, was in ihm vorging und geriet in einen heftigen inneren Widerstreit. Sie vermochte, wenn sie ja sagte, also doch noch aus den alten Verhältnissen herauszutreten, konnte reich, gebietend, unabhängig werden! Ihr Herz schlug bei solchen Vorstellungen, aber freilich nur bei diesen!

Als Kay nach dieser ersten Begegnung in Begleitung des Grafen Schlieben Clementina-Julia verlassen hatte, die Gräfin aber ins Nebenzimmer getreten war, näherte sich Mercedes, die stumm, jedoch mit lebhaften Blicken alles beobachtet hatte, was um sie vorging, ihrer Schwester und sagte:

»Du, er ist nett! Nicht wahr? Wie natürlich, offen und gewinnend ist sein Wesen! – Das ist ein Mann, Julia!« – Sie nannte ihre Schwester stets bei diesem Namen. – »Ob er nun wohl sein prachtvolles Gut beziehen und ganz im Lande bleiben wird?«

Clementina-Julia ward in ihrem Sinnen gestört und blickte ihre Schwester zerstreut an: »Du sagtest, Cedes?«

Mercedes bewegte den Kopf und zuckte leichthin die Schultern.

»Ja, ich sagte etwas! Doch gleichviel. Es war nicht so wertvoll, um gedruckt zu werden.«

»Du sprachst vom Grafen Kay, ich hörte es wohl. Meine Frage entsprang einer Zerstreuung. Ja, Du hast Recht, er ist ein vortrefflicher Mensch«

»Kennt Ihr Euch denn?«

Clementina-Julia nickte. »Er war mit dem Grafen Felix damals zugleich in Hamburg.«

»A – ah – so!« rief Mercedes langgedehnt, erhob die langen, ungelenken Arme, lächelte überlegen und forschte in ihrer Schwester Augen.

»Laß doch die Thorheiten, Cedes« – herrschte Clementina-Julia zornig. »Werde doch überhaupt einmal etwas ernst, vernünftig und gesetzt und wetze Deinen vorwitzigen Mund nicht stets an allen Dingen.«

»Ah! Wie lieblos Du sein kannst!« stieß Mercedes mit vorwurfsvoller Trauer heraus.

»Lieblos? – Ich bin ernst und habe dazu Ursache. Deine Neckereien sind uupassend – heute wie immer. Du bist vorlaut, unbedacht und häufig recht albern. Nimm diese Mahnung an.«

Es zuckte in Mercedes' etwas langen, aber schneeweißen Fingern; unter ihrem faltigen Kleide hob sich die Brust, und ihre blauen Augen blitzten flammend auf unter dem bevormundenden Tadel ihrer Schwester.

»Du warst nie jung! Warst du nie jung, Julia?« fragte sie und stellte sich erhobenen Hauptes und nun mit trotziger Miene ihrer Schwester gegenüber.

In diesem Augenblick erschien die Gräfin.

»Was ist nun wieder?« drang's besorgt aus ihrem Munde.

»Hm!« spottete Mercedes noch unter der Nachwirkung der Erregung und zog ein paar Ringlein an den Fingern auf und ab. »Julia schulmeistert wie gewöhnlich, und der Anlaß war ein Nichts.«

»Unerträglich!« – flüsterte Clementina-Julia, deren hartes, verschlossenes Antlitz heute noch abstoßender erschien, zähneknirschend. In dem Trauergewande hob sich ihre Schönheit, aber ihre Erscheinung hatte unter dem zornverbissenen Ausdruck in diesem Augenblick etwas Unheimliches.

Im Grunde liebten sich Mutter und Tochter durchaus nicht. Sie respektierten sich ohne Zuneigung. Die Gräfin hatte deshalb auch Clementina-Julias Fortgang aus dem Hause als ein Glück betrachtet. Es war aber ihr Grundsatz, sich womöglich immer auf die Seite ihrer Stieftochter zu stellen. Ihr sanfter Sinn und ihre edle Denkungsart ließen sie lieber gegen ihr eigenes Kind zu streng erscheinen, als daß sie den Eindruck einer Parteinahme für sie hervorrufen wollte.

Auch diesmal verurteilte sie, ohne sich den Vorfall näher erklären zu lassen, Mercedes' vorlautes Wesen und bat sie mit eindringlichen Worten, nicht immer zu Uneinigkeiten Veranlassung zu geben.

In Mercedes' Augen traten Tränen; sie wandte sich ab. Ein hülfloser Ausdruck blieb in ihren Zügen haften, und auf ihrer Mutter Worte fand sie mit ihrem gepreßten Herzen keine Erwiderung.

»Zu allem auch noch Trotz statt Abbitte!« rief Clementina-Julia, indem sie absichtlich ihrer Schwester Verhalten mißdeutete, mit finsterem Ausdruck.

Mercedes hörte die Worte und fuhr empor.

»Nein, das ist zu viel. Mama! Zu viel – zu viel!« rief das heißblütige Geschöpf, und aus dem unschuldigen Mund drangen hastige Atemzüge. »Wenn ich schweige, ist's Trotz; wenn ich rede, ist's albernes Geschwätz. Bin ich fröhlich, schilt sie mich vorwitzig und thöricht; weine ich bei ihrer Lieblosigkeit, bin ich sentimental. Was gab denn Anlaß? Ich sprach von dem Grafen Kay und sang sein Lob. fragte, da ich 's nicht wußte, ob Julia ihn kenne, und als sie mit ja antwortete und so zerstreut dreinschaute, entfuhr mir ein ›Ah?‹ vielleicht ein neckisches ›Ah!‹ – War das ein Verbrechen?«

»Nein!« – sprühte Clementina-Julia, ohne ihre Mutter zu vermittelnden Worten kommen zu lassen, ingrimmig auf. – »Das war kein Verbrechen, aber es verrät entweder eine für Deine Jahre unbegreifliche Flüchtigkeit oder einen schweren Mangel an Zartgefühl, daß Du in einer Situation, wie diejenige ist, in welcher wir uns befinden, Deine vorlauten Neckereien nicht zu unterdrücken vermagst. Was ich in diesen Tagen erlebte, ist sehr ernst, und einen Anspruch auf Schonung darf ich wohl wenigstens von jemandem erwarten, der mir so nahe steht wie Du. Ich bin nicht herzlos und nicht lieblos. Was Gutes an Dir ist, schätze ich, auch kannst Du geschwisterliche Nachsicht für Dich in Anspruch nehmen. aber es kommt immer auf das Wann und Wie an. Das tadelte ich, und den Tadel solltest Du annehmen, statt mich mit ungerechten Anschuldigungen zu überschütten. Habe ich recht Mama?«

Abermals wollte die Gräfin antworten, aber Mercedes kam ihr zuvor. Was Clementina-Julia gesagt hatte, besänftigte, bekehrte sie keineswegs, reizte sie vielmehr zum äußersten. Es empörte sie, weil ihr Verstand ihr sagte. daß alle die Worte trotz des pathetischen Klanges eben doch nur Worte waren.

Etwas Heuchlerisches, Ungerechtes fand sie darin, weil sie absichtslos gehandelt, nicht hatte verletzen wollen, und die Sache für zu geringfügig erachtete, um sich in solcher Weise verdammen zu lassen.

Und unter diesem Eindruck schleuderte sie eine Entgegnung heraus, die Clementina-Julia erbleichen ließ, und die ihr ungelegener kam, als irgend ein Laut, den unbedachter Zorn hervorstoßen konnte.

»Mit anderen Worten: Du beschäftigtest Dich in dem von mir angenommenen Sinne mit Graf Kay, und fandest es sehr unbequem, daß ich Deinen geheimen Gedanken Ausdruck verlieh.«

Clementina-Julia schoß empor wie ein Raubtier. Sie flog gegen ihre Schwester auf, und ihr hinkender Gang erhöhte den Eindruck ihrer Empörung.

»Cedes!« – schrie sie und ballte die Hände. »Entweder Du oder ich! Hinaus!«

»Nein!« antwortete die Gräfin mit Würde. »Einem unbequemen Tier öffnet man die Thür, nicht seiner Schwester, die sich vergangen haben mag, die ihr Vergehen abbitten kann, aber nicht auf den Flur gehört! Wie ist es möglich, daß Ihr Euch in solcher Weise erregt? Ist das die ruhige, besonnene, vorurteilsfreie Clementina-Julia? Ist das meine gemütvolle Cedes, die schon weint, wenn ein Bettelkind um ein Almosen fleht? Wie weit treibt Euch Eure Leidenschaft! Clementina-Julia, ich begreife! Dein Herz ist zerrissen, Dein Denken in der Irre, Dein Gemüt getroffen, Deine Hoffnungen sind zerstört. Aber können Schmerz und Enttäuschung so verwirren? Ist die unbesonnene Neckerei ein Grund, daß Ihr Euer geschwisterliches Verhältnis vergeßt? Und kannst denn Du Dich nicht mäßigen, Cedes? Ist Dein Zorn so übergewaltig, daß Du sogar zu verwunden bestrebt bist? Ich bitte, einigt Euch! Gieb ein gutes Wort, Cedes! Reiche Deiner Schwester die Hand, Clementina-Julia!«

Mercedes war ins Sofa gesunken und weinte – noch ein Kind – wie ein Kind.

Dazu gesellte sich bei ihr ein durch die innere Erregung hervorgerufener, unheimlicher Husten, der die Gräfin heute wie stets mit größter Sorge erfüllte. Hohl klang's, als suche eine Schwerkranke röchelnd nach Atem.

Clementina-Julia aber stand abgewendet wie ein Steinbild. Ihre bessere Natur wollte sich regen, sie bereute vielleicht sogar, aber ein herrischer Trotz, der ihr so oft während ihrer Lebenszeit im Wege gestanden hatte, nahm von ihr Besitz und verhinderte eine zuvorkommende Bewegung oder gar eine versöhnende Sprache. –

Am folgenden Tage ward Graf Felix in die Gruft gesenkt. Auf einem stillen, von Buchen umgebenen Begräbnisplatz in dem Park von Dronninghof war die Erde geöffnet worden, und unter dem Sonnenschein, der durch die grünen Zweige irrte, unter dem Gezwitscher der Vögel ward er hinabgesenkt zur Ruhe, aus der es kein Erwachen giebt.

Zahlreich war die Schar der Leidtragenden, welche den Grabhügel umgaben, und ein Schauer flog durch Kays Inneres, als die Erdschollen polternd auf den Sarg fielen. In diesem Augenblick würde er vieles hingegeben haben, wenn er noch einmal in die lebenden Züge des Mannes hätte schauen können, dem er seine Geburt verdankte, und der ihn mit der ganzen Kraft geliebt hatte, deren er fähig war. Ängstlich wog Kay in seinen Gedanken, ob er dem Dahingeschiedenen gegeben, was dieser zu fordern berechtigt gewesen war, und suchte nach der rechten Antwort. Ja, er hatte ihm gerade das geboten, was in seinem Herzen für ihn ruhte, nicht mehr, nicht weniger, und das entsprach seiner unbedingt wahren und ehrlichen Natur. Indem er seiner Liebe zu Clementina-Julia entsagte, hatte er überdies durch Thaten an den Tag gelegt, daß er sich seiner Pflichten als Sohn bewußt war.

Nachdem alle von dannen gegangen waren, die seinem Vater die letzte Ehre hatten erweisen wollen, ließ er sich in der Nähe der Gruft nieder, und eine tiefe Schwermut bemächtigte sich des Mannes, der nach häuslichem Glück ausgelugt und es doch nur für so kurze Zeit in der Ehe mit seiner verstorbenen Frau gefunden hatte.

»Clementina-Julia!« flüsterte er in der Erinnerung, und »Clementina-Julia!« ging es bei dem neuen Bilde, das vor seinem Geiste aufstieg, über seine Lippen.

Eine brennende Sehnsucht ergriff Kay nach der zarten Hand und dem dunklen Auge der Verstorbenen, und eine übergewaltige Sehnsucht erfaßte ihn, zurückzugewinnen, was für ihn auf immer verloren war.

Noch einmal ließ er alles vor sich ansteigen, was sich ihm im Verkehr mit Clementina-Julia Schlieben aufgedrängt hatte. Er wog ihre Tugenden und ihre Fehler. Besaß sie Eigenschaften, die er zu tadeln Veranlassung hatte? Wenn sie auch eine stolze Natur war, und ihre Lebensauffassung eine ernste, so schien doch ihre Strenge nicht ohne Güte und ihre Handlungsweise nicht von Launen, sondern von Grundsätzen geleitet.

Das durch die Jahre gehobene Ebenmaß ihres Körpers, ihre wahrhaft imposante Schönheit, sowie die Ruhe und Vornehmheit ihres Wesens waren überdies mächtige Anziehungspunkte für Kays Entschlüsse. So begehrenswert erschien ihm der Gedanke, in dieser stillen Welt fortan mit Clementina-Julia zu leben, daß er am liebsten schon jetzt zu ihr geeilt wäre, um seinen Wünschen Worte zu verleihen.

Aber lange mußte er noch warten, bis er ihr seine Liebe würde von neuem gestehen können. Schicklicherweise noch sehr lange, und das schien ihm in dem gegenwärtigen heftigen Drange seiner Empfindungen unerträglich.

Auch war, wenn er ihr in seiner Vorstellung mit einem Antrage gegenübertrat, ein Punkt da, der vielleicht alle Pläne zu nichte machen konnte.

Noch wußte sie nicht, daß er verheiratet gewesen war, noch weniger, daß er ein Kind besaß. Und immer wieder erfaßte ihn ein zagendes Gefühl, bestürmten ihn Zweifel, ob sie auch die rechte Frau sei, der er auch sein kleines Mädchen anvertrauen könne. Sein Töchterchen Carmelita war Fremden schwer zugänglich, nur an ihm hing sie, als habe der Schöpfer ihr lediglich eine auf ihn allein gerichtete Seele gegeben, als pulsiere ihr Herzblut nur für ihren Papa.

Ihr ganzes Wesen war dem seinigen verwandt. Schon jetzt lag in ihrem Auge etwas Gebietendes, und mit ihrem Willen stand sie stets über ihren Gespielinnen.

Ihr Unterscheidungsvermögen war von besonderer Art, und ihre frühe Selbständigkeit verriet neben ungewöhnlichem Verstand auch einen ungewöhnlichen Charakter.

Trotz ihrer Gemütsweichheit, trat bisweilen in ihre großen Augen ein Ausdruck von Eigensinn und Auflehnung, vor der man erschrecken konnte, und nur einen Blick gab es, vor dem ihr trotziges Herz schmolz, der ihres Papas. Ganz wie die verstorbene Mutter, schlang sie voll heftiger Zärtlichkeit ihren Arm um Kays Nacken und vergrub ihr kleines, von dunklen Haaren umrahmtes Gesichtchen an seiner Brust. Töne des Jubels, die ihr überquellendes Empfinden verrieten, drangen dann aus ihrem Munde.

Kay faßte die leichte, schlanke Gestalt an den Händen, und im Nu saß sie hoch oben an seinem Halse. Sie lachte mit funkelnden Augen und ließ sich wie ein Eichhörnchen an seinem Riesenkörper wieder herabgleiten.

Wenn sie den biegsamen Oberkörper zurückbog, ruhte das Köpfchen ohne Anstrengung auf dem Erdboden, und ihre Finger legten sich, rückwärts gerichtet, schier auf die Handflächen.

Unzählige Male hatte Kay im Laufe der Jahre an ihrem Bettchen gesessen und sie im Schlafe beobachtet. Anders als andere Menschen ruhte sie. Die Glieder ihres Schlangenkörpers lagen selten ausgestreckt; vielmehr zog sie die Kniee an die Brust, neigte den Kopf und kreuzte die Arme.

Suchte er sie leise zu wecken, so wußte sie selbst im Schlafe, daß er in ihrer Nähe war. Mit geschlossenen Augen erhob sie sich, umfing ihn, preßte ihre Kinderarme mit inbrünstiger Zärtlichkeit um seinen Hals und ließ sich, von seinem Kusse berührt, wieder herabgleiten. Kay konnte es nicht erwarten, sie wiederzusehen, und nach den rätselhaften Schwankungen der menschlichen Seele stand ihm bei der Erinnerung an seine Carmelita plötzlich Clementina-Julia so fern, daß er eine Annäherung an sie sogar heftig von sich abwies.

Aber diese, aus einer bangen Ahnung hervorgehenden Vorstellungen wichen ebenso rasch wieder. Unter neuen Eindrücken trat auch Clementina-Julias blendendes Bild wieder vor Kays Seele, und bei den in den folgenden Tagen an ihn herantretenden Aufgaben, die teils die Erbschaftsangelegenheiten betrafen, teils sich auf den Verkehr mit den Gutsangehörigen bezogen, brachte er bereits alles, was geschah, oder was er für die Zukunft plante, mit ihr in Verbindung.

*           *
*

Schliebens hatten an dem Tage des Begräbnisses Schleswig verlassen. Der Abschied war kurz, aber bewegt gewesen, und Kays letztes Wort hatte das Versprechen enthalten, bei seiner Rückreise nach London einen Tag in Hamburg vorzusprechen.

»Und werden Sie nun Ihren Besitz im Stich lassen und gar nicht zurückkehren?« äußerte die Gräfin.

Mercedes horchte mit Spannung in den Mienen auf seine Antwort, während Clementina-Julia für diese Frage nur ein geringes Interesse zu haben schien.

Zu aller Überraschung erwiderte Kay: »Der Tod meines Vaters hat mich bestimmt, meine Geschäfte fortan meinen Socii zu übertragen, den größten Teil des Jahres in Dronninghof zuzubringen, vielleicht sogar ganz dorthin überzusiedeln und mich der Verwaltung meiner Besitzung zu widmen. Schon der Wunsch, in der Nähe einer Familie zu bleiben, welche mir so teuer geworden ist, bestimmt meine Entschlüsse!« fügte er in einem, von seiner sonstigen Redeweise abweichenden, besonders verbindlichen Tone hinzu.

Clementina-Julia erhob nach diesen Worten zwar das Auge, aber vergeblich suchte Kay nach einem Ausdruck in ihrem Angesicht, der verraten hätte, was in ihr vorging.

Mercedes' Mienen nahmen dagegen einen glücklich überraschten, fast triumphierenden Ausdruck an, dem freilich ebenso rasch eine ernste Miene folgte. Ihre Brust hob sich ungestüm unter Empfindungen, über deren Bedeutung sie vorläufig noch zu keinem klaren Nachdenken gelangte. –

Früher als Kay es gedacht, später aber als sein drängendes Herz es gewollt hatte, saß er Schliebens in deren Wohnung auf der Uhlenhorst in Hamburg gegenüber.

Der Todesfall hatte Veranlassung gegeben, daß Mercedes nicht wieder zu den Holsteinischen Freunden zurückgekehrt war. So fand sie denn Kay bei seinem Eintritt ins Haus anwesend, und ein zufälliger Umstand führte es mit sich, daß ihn das junge Mädchen zunächst allein empfing.

Sie fragte nach dem Gut, schwärmte für das Landleben, den Sommer und die goldene Freiheit, und gab ihrem Entzücken über Dronninghof Ausdruck.

»Ich würde gleich morgens in der Frühe in den Park eilen und womöglich erst am Mittag zurückkehren, im Walde, auf den Wiesen einsam umherstreifen, Gräser und Blumen pflücken, den Tieren nachspüren oder im Schatten der Buchen mich lagern und träumen. Das wäre mein Ideal!

»Wenn ich die Düfte des Landes und Feldes einatme, komme ich mir wie beseligt – wie ein besserer Mensch vor. Die Natur ist meine zweite Mutter; ich möchte mich an ihre Brust werfen und glückselig aufjauchzen.«

Kay hörte diese ungekünstelte, beredte Sprache und betrachtete voll Inbrunst das schlanke Geschöpf mit den begeisterten Augen.

»Sie sagen, was mich selbst durchdringt!« erwiderte er. »Ich beneide Sie, daß Sie Ihre Empfindungen in so zutreffende Worte zu kleiden vermögen.«

Mercedes machte ein verwundertes Gesicht. Niemand hatte noch je etwas an ihr gelobt. Nun kamen so gute, anerkennende Worte aus dem Munde eines Menschen, dem gegenüber sie sich wie ein Nichts vorkam. Aber sie faßte sich rasch.

»Danke, Herr Graf!« stieß sie mit drolliger Kürze hervor und lächelte lustig. Und beim Lächeln erschienen ihre hübschen, schneeweißen Zähne und verschönten ihr Angesicht.

»Sie danken?« fragte Kay und betrachtete mit zunehmendem Anteil die Schwester des Mädchens, das er liebte, und deren Erscheinen er kaum erwarten konnte. Gerade so – genau so hatte seine Frau gelächelt, so naiv, so unschuldig, so fröhlich, und doch mit so klugem Ausdruck.

»Ja, ich danke, weil mir nichts ein so großes Vergnügen machen kann, wie eine Anerkennung von Ihnen –«

Cedes stockte. Plötzlich drang eine Blutwelle in die Wangen ihres von blondem Haar umrahmten Gesichts.

»Das ist ein großes Kompliment,« erwiderte Kay, angenehm berührt. »Und das äußern Sie, ohne mich zu kennen?«

»Ich kenne Sie,« – gab Mercedes bestimmt zurück.

»So? So! – Und bei welcher Gelegenheit hatte ich die Ehre, Ihre ausgezeichnete Bekanntschaft zu machen?«

Mercedes zog die Schulter, dann sagte sie in einem ernsten Tone:

»Es giebt Menschen, deren Wesen man erkennt nach einem Blick, nach einem Wort. – Sie sind sicher ein ungewöhnlicher – ein selten guter – ein edler Mensch.«

Kay sah die Sprecherin überrascht an. Alles floß so sicher und doch so bescheiden zwischen ihren Lippen hervor. Aber während er sie noch anschaute, überfiel Mercedes ein böser Hustenanfall; das zarte Rot ihrer Wangen wich hektischen Farben, die Brust arbeitete heftig und der Kampf mit dem Reize, der ihre Lungen peinigte, machte sie für den Augenblick unschön und – im höchsten Grade bemitleidenswert.

»Ich bitte! Ich hole Ihnen Wasser. – Sie erschrecken mich, mein liebes Mädchen!«

Mein liebes Mädchen! Das klang Mercedes wie Musik. Unter dem Husten, der ihr Angsttränen in die Augen getrieben hatte, wurden diese zu funkelnden Diamanten, und in ihrem Angesicht erschien ein hinreißender Ausdruck.

Kay hatte sich rasch erhoben und war ihr näher getreten. Sie duldete es, daß er sie stützte und ihr auch sonst wie ein hilfreicher Freund seine Teilnahme an den Tag legte.

Der jungfräuliche, von allem Staub und aller Unreinheit des Lebens noch unentweihte Körper des Kindes blieb für Sekunden in seinen Armen ruhen, und er fühlte ihren unruhigen Atem und hörte das Klopfen ihres stürmischen Herzens.

Heiße Ströme gingen durch Kays Blut. – Waren denn diese Mädchen Zauberinnen? Die halbe Welt hatte er durchmessen. Die seidenweichen Haare der Blondinen, die üppige Schönheit der Brünetten, die trunkenen Lippen der Töchter des Südens und die gesunde Schönheitkraft der englischen Mädchen hatten sein Auge entzückt, aber unbewegt und unberührt war sein Herz seit dem Tode seiner Frau geblieben.

Nun jagten sich die Empfindungen in seinem Innern bei dem Anblick und in dem Verkehr mit den beiden Schliebens, die in ihrer nordischen und südlichen Mischung ihn unwiderstehlich anzogen.

Mercedes' blaue Augen glühten, und Blicke, kühn und sanft zugleich, schossen hervor unter den stark geschwungenen, dunklen Brauen.

Zitternd trat sie von ihm zurück.

Jetzt erschien Clementina-Julia. Ein schwarzes Gewand umschloß ihre Glieder und hob die wundervollen Formen ihres vollen, üppigen Körpers.

Als Clementina-Julia Kays ansichtig wurde, zuckten ihre Mundwinkel, und im nächsten Augenblick lag ihre Hand in der seinigen.

Mercedes war seitwärts getreten und zupfte an einem kleinen Tüchlein. Was sie that, war mechanisch; aber ihre forschenden Augen beobachteten jede Bewegung zwischen jenen.

»Sie kommen!« – hub Clementina-Julia nicht ohne starke Bewegung an. – »Sie kommen so bald!« – wiederholte sie mit starker Betonung.

Aber sie sagte nur das und schaute sich um, ob Horcher in der Nähe seien. Nun erblickte sie Mercedes, die rasch die Augen senkte und unbefangen dreinzuschauen suchte.

»Geh, Cedes, und sieh, wo die Eltern bleiben,« warf sie kurz hin.

Aber Cedes ging nicht. Sie zuckte die Achseln, als ob sie sagen wollte: Ich weiß sie nicht zu finden; auch will ich nicht fortgeschickt werden.

»Hörst Du nicht?« drängte Clementina-Julia. Mercedes ließ die Unterlippe hängen und wandte sich trotzig ab. Sie that auch jetzt nicht, was ihr geheißen ward.

»Sie sind schon benachrichtigt« – stieß sie endlich hervor.

Clementina-Julia wollte aufbrausen, aber vor Kay bezwang sie sich.

»Bitte, thun Sie es mir zu Liebe, Komtesse!« bat nun Kay, mehr mit Blicken als mit Worten.

Mercedes neigte entgegenkommend das Haupt und machte einige Schritte vorwärts. Als sie aber ihre Schwester streifte, zog sie ein trotziges Gesicht.

»Ein allerliebster Backfisch, Ihre kleine, große Schwester!« begann Kay, nachdem sich die Thür hinter jener geschlossen. Er sprach eigentlich nur, um etwas zu sagen.

»Ein vorlautes Mädchen, das in seinen Jahren etwas mehr Lebensart gelernt haben sollte!« gab Clementina-Julia, ihrer schlechten Laune mit wenig Klugheit folgend, zurück. »Doch sprechen wir von anderen Dingen. Sie sind wieder da, und ich freue mich – ich freue mich! –«

Aber die mit gehobener Stimme gesprochenen Worte verklangen, und was verheißungsvoll in ihren Augen aufgeblitzt war, erstarb eben so rasch.

»Sie vollenden den Satz nicht« – drängte Kay, dem Mädchen näher tretend und fast stürmisch ihre Hand ergreifend. »Erst der Schluß macht den Sinn Ihrer Rede – vollkommen – macht ihn – für mich – beglückend –.«

Clementina-Julia wich zurück. Sie war unberechenbar. Ihre Mienen hatten jeden Ausdruck von Wärme verloren.

»Komtesse Clementina!« bat Kay zärtlich und in gewinnender Offenheit zugleich. »Sie geben und nehmen in demselben Atem. Ist das Recht? Ist das edel? Ist's nicht grausam?«

»Ich gab?« erwiderte sie. Der langgezogene Satz klang kalt, und in Kay gärten Verdruß und Liebesqual.

Aber noch einmal schob er alle Zweifel beiseite und sprach in feuriger Rede:

»Ja, Sie gaben durch Blick und Wort, und eine Clementina-Julia kann nicht mit Gefühlen spielen. Ist nicht doch etwas Unausgesprochenes zwischen uns trotz Ihres einstigen Nein, Komtesse?«

»Nicht jetzt, ich beschwöre Sie, Herr Graf!« entgegnete Clementina-Julia hastig. »Man kommt! Zudem, noch decken kaum einige Wochen den Sarg des Mannes, dem ich mich zu eigen geben wollte.«

»Wohl, ich ehre Ihre Gefühle; ich teile sie. – Wie Sie es wünschen, soll es sein. Aber geben Sie mir wenigstens ein hoffnungsvolles Wort. Wollen Sie, Komtesse? Wollen Sie, Clementina-Julia?«

Nun sah sie ihn wieder mit jenen rätselhaften Blicken an, die ihm soeben das Blut zum Herzen gejagt hatten. Aber sie antwortete nicht, und im nächsten Augenblick trat Mercedes ins Zimmer zurück. –

Kays Reisepläne wurden durch Clementina-Julias Doppelwesen verändert. Über vierzehn Tage dehnte sich seine Gegenwart in Hamburg aus, und während dieser Zeit war er, wie vordem, ein täglicher Gast im Schliebenschen Hause.

Aber nur selten fand sich Gelegenheit zu einem Austausch zwischen ihnen ohne Zeugen, und wenn Kay einmal den Mund öffnen wollte, um von seinen geheimen Wünschen zu sprechen, wich Clementina-Julia ihm aus oder unterbrach die angefangenen Sätze mit Erwiderungen, die mehr eine Abweisung als eine Ermunterung enthielten.

Und doch! Wenn sie das Interesse bedachte, welches Kay Mercedes entgegentrug, ging es unruhig durch ihre Brust.

Ein Gefühl der Eifersucht erfaßte sie, von dem sie sich nicht zu befreien vermochte. Aber auch dieses äußerte sich bei ihr in besonderer Weise. Sie war dann kalt, in ihrer Rede wortkarg und in ihrem Benehmen gleichgiltig. Und obgleich sie sah, daß Kay darunter litt, obgleich sie an seinem suchenden Auge erkannte, wie sehr sein Herz bei ihr war, änderte sich nichts in ihrem Wesen, ja, es kam vor, daß sie plötzlich abbrach, sich mit einem Kopfweh entschuldigte, das Zimmer verließ und für die Dauer des Abends nicht mehr zurückkehrte.

Kay fand keinen Ersatz bei den Zurückbleibenden, saß vielmehr voller Zweifel und Unruhe da und ersehnte die Abschiedsstunde, um wenigstens mit seinen Gedanken allein zu sein.

Immer richtete sich Mercedes Auge voll schwermütigen Ernstes auf ihn, wenn sie ihm zuhörte. Sobald sie aber den Mund öffnete, erschien sie wie ein unbefangen plauderndes Kind, das ohne Nebengedanken war und sich nur den Eindrücken des Augenblicks hingab.

Einigemale versuchte Kay, sich den Fesseln Clementina-Julias gewaltsam zu entreißen. Er verurteilte das Mädchen, dessen Bild sein Inneres beschäftigte, und ein heftiges Gefühl der Auflehnung stieg in ihm empor. Aber diese Stimmungen verließen ihn eben so rasch wieder, wenn sie vor ihm erschien, wenn sie den Körper mit seiner imposanten Fülle bewegte, die kluge Rede über ihre Lippen ging, und sie ihre rätselhaften Augen, in denen Stolz und Hingebung blitzartig wechselten, zu ihm aufschlug.

Dennoch war Clementina-Julia nichts weniger als gefallsüchtig. Absichtliche Reizmittel wandte sie nicht an. Sie glich ihm selbst, nur mit dem Unterschiede, daß sie sich keinen Zwang aufzuerlegen vermochte, daß sie sich in dem Kampf, den Pietät und Rücksicht mit Zuneigung und Abneigung gegen Kay mit einander bestanden, ganz ihren wechselnden Stimmungen hingab, während die gleichmäßige Ruhe, welche Kay auszeichnete, das Ergebnis einer durch die Jahre und durch die Erfahrungen gefestigten Geistesreife war.

Als Kay eines Mittags vor dem Diner mit Mercedes durch den Garten schritt – Clementina-Julia war eben dem Rufe ihrer Mutter gefolgt – sprach jene in ihrer gewohnten, drollig geraden Weise auf den Gast ein.

»Ich denke, Sie wollen reisen, hatten Eile! Nun sind sie schon über zwei Wochen in Hamburg. Halten Sie noch Geschäfte oder etwas anderes?«

Da Kay nicht unbefangen war, forschte er raschen Blickes in den Gesichtszügen des Mädchens. Ein etwas spöttischer Zug, der um den geschlossenen Mund lag, nährte sein Mißtrauen, daß diese Frage nicht ohne Hintergedanken an ihn gerichtet sei. Von einem raschen Antriebe beherrscht, beschloß er, Mercedes auszuforschen und sich vielleicht ihrer Mithilfe zu bedienen.

»Ich bleibe, weil Sie mich fesseln, Komtesse Mercedes,« warf er neckisch hin.

»Natürlich!« bestätigte Mercedes ernsthaft.

Auf diese Antwort wußte Kay nicht gleich etwas zu erwidern. Aber das wortgewandte Mädchen nahm statt seiner das Gespräch wieder auf.

»Sie bleiben, Graf Witzdorff, weil Julia, meine Schwester, die Sonne scheinen und hinter den Kulissen auch einmal den Donner rollen läßt. Nun möchten Sie, natürlich nur aus Neugierde, wissen, ob Sonne oder Donner echt oder beide unecht sind? Wissen Sie, der Donner ist jedenfalls unecht. Es ist eben nur Kulissendonner.«

Voll höchster Überraschung sah Kay die Sprechende an. Aber ihre Mienen waren diesmal vollkommen ernst. Diese offene Sprache ohne Einleitung und Übergang erschwerte ihm abermals eine Entgegnung. Aber Mercedes fand wieder mit richtigem Takt das richtige Wort. Sie sagte:

»Graf Witzdorff! Ich bin ein unbedeutendes Mädchen, aber ein guter Kamerad, wenn ich einem Menschen zugethan bin. Fragen Sie mich! Ich weiß, Sie möchten sich jemandem anvertrauen.«

»Ja!« erwiderte Kay, rasch und dankbar das Gute und Offenherzige dieser Worte erfassend. »Sie sind ein vortreffliches, liebes Mädchen und ein kluges zudem. Ich nehme Ihren Vorschlag an. Was meinen Sie, wenn ich ihre Schwester heiratete?«

Mercedes erbleichte. Ihr war, als müsse ihr der Atem vergehen. Ihr gutes Herz, ein Spürchen Neugierde und ein kleiner Anhauch von unschuldigem Wichtigthun hatten zu ihren Worten Veranlassung gegeben. Aber als sie nun in dem, was sie für sich selbst hoffte, durch dieses unumwundene Bekenntnis so schroff betrogen ward. stiegen furchtbare Qualen der Enttäuschung in ihrem Innern auf.

Ein leiser Schrei erklang gegen ihren Willen und unwillkürlich drückte sie die Hand auf die Brust.

In Kays mildem Auge erschien ein sorgenvoll bewegter Ausdruck.

»Was ist Ihnen, Komtesse?« hub er an. »Glauben Sie, daß meine Neigung nicht erwidert wird, oder vermuten Sie, daß ich Ihre Schwester nicht glücklich zu machen im stande bin?«

»Sie – Sie, ja« – preßte das Mädchen heraus. »Sie können anderen Menschen gewiß einen Himmel auf Erden verschaffen. Aber – aber – Doch nein! Es ist nicht gut von mir, Graf Witzdorff. Verzeihen Sie, und entbinden Sie mich meines Anerbietens. Wie kann ich etwas richtig beurteilen? Ich! Mir fehlt die Erfahrung. Ich habe kein Recht –«

»Doch, Sie können, Sie sind für Ihre Jahre ungewöhnlich reif und haben ein klares Gefühl –«

»Nun denn; erklärte Mercedes entschlossen. »So sage ich Ihnen – so meine ich, daß meine Schwester einen sittenreinen Charakter besitzt und voll Pflichttreue ist. Aber Liebe? Pah! Das Wort Liebe kennt sie nur dem Namen nach.«

Kay stutzte. Mercedes unterstützte seine eigenen, geheimen Zweifel. Er trennte in diesem Augenblick – ein nur zu seltener Vorgang in dem leidenschaftlichen Taumel, in dem sich die Menschen befinden, so lange sie um den Gegenstand ihrer Neigung werben, – kühles Denken von den Regungen der Leidenschaft.

Carmelita, seine kleine, heißgeliebte Carmelita lag an seiner Brust und weinte, und er sah den kalten Ausdruck in den Mienen der Frau, die – wenn auch vielleicht nur infolge der widerfahrenen Enttäuschungen – doch nur ihr eigenes Ich kannte.

»Sie kann nicht lieben!« wiederholte sich Kay stumm. Ihm schien plötzlich, als stehe er vor einem Abgrund. – Und doch – doch zürnte er der Sprecherin!

Ewig bleibt das Rätsel, weshalb der Schöpfer uns Menschen den Drang zum Verkehrten mit so tiefen, unausreißbaren Wurzeln in das Innere grub.

Wir lockern sie bisweilen, mitunter reißen wir sie ganz heraus, aber meistens nähren wir ihr Wachstum noch durch unsere schmeichelnden Vorstellungen.

Und so ging es Kay auch, so ging es bei dieser Liebeswerbung demselben Manne, der sonst mit kühlem Wägen stets das Rechte zu treffen vermochte.

»Ich nehme ein früher gesprochenes Wort von Ihnen auf, Komtesse,« begann er, nachdem in raschem Fluge der Gedanken seine Leidenschaft doch wieder die Oberhand gewonnen hatte: »Sie sehen durch Ihren Spiegel! Ihr Empfinden ist lebhafter als das Ihrer Schwester. Es liegt in den Jahren. Was Sie äußerten, klang überaus hart! Urteilen Sie nicht zu streng?«

Mercedes bewegte die Achseln. Sie wollte sprechen und schlug doch nur die Augen zu Boden, und in ihnen perlten plötzlich Tränen. Aber es waren nicht die Zähren enttäuschter Liebe – diese gelangten erst später mit verdoppelter Kraft zum Ausdruck – es waren aus ihrem edlen Herzen hervorquellende Tränen der Reue.

Ihr war von Kays Bewegung nichts entgangen. Er liebte Ihre Schwester. Und nun hatte sie Funken des Mißtrauens zwischen sie geworfen und vernichtete vielleicht beider Hoffnungen!

»Sie sind bewegt?« hub Kay rasch mit gedämpfter Stimme an. »Ich bitte, weinen Sie nicht! Was ist's? Was bekümmert Sie?«

Keine Antwort.

In diesem Augenblick vernahm man das Geräusch nahender Schritte, und Kay sprach noch einmal rasch auf Mercedes ein.

»Ich war unbesonnen, ich war nicht gut. Sie haben Recht!« preßte das Mädchen heraus. »Vergessen Sie, – ich bitte, – was ich sagte.«

Und dann war sie zwischen den Bosketts verschwunden.


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