Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Dreizehntes Kapitel.

Der Herbst mit seinem klaren Himmel, seinem wechselfarbigen Laube und seiner reineren und frisch kühlen Luft neigte sich allmählich seinem Ende zu, und auch die Lebensweise auf Dronninghof ward eine andere.

Kay, der den Verkehr liebte, ließ wieder wöchentlich mehreremal Einladungen ergehen, und Clementina-Julia stimmte ohne Einreden zu und häufte in der Ecke ihres Schreibtisches die früher ersparten Summen.

Fast bei keiner dieser Gesellschaften fehlten die Verwandten aus der Stadt, aber Clementina-Julia schien sich in alles zu fügen, und selbst von Carmelitas Fortgang oder Bleiben war seit deren Rückkehr aus Italien noch nicht einmal die Rede gewesen.

So würde denn Kay ganz glücklich gewesen sein, wenn nicht Cedes fortwährend seine Gedanken beschäftigt hätte. Aber es war nicht das Wiedersehen mit einem stärkeren Erwachen seiner Gefühle für sie, das ihn nachdenklich machte und Unruhe in ihm schuf, sondern die Sorge um die Gesundheit seiner Schwägerin.

Als Schliebens einmal bei schlechtem Wetter die Nacht auf Dronninghof geblieben waren, und Kay mit Cedes am kommenden Vormittage nach einer längeren Wanderung durch den Park und den Wald auch das Unterholz beschritt, ließ sich das Mädchen auf der Bank neben dem Waldhäuschen nieder, stützte das Haupt und begann plötzlich zu weinen.

Ringsum im Walde regte sich nichts. Kein Schlaf, vielmehr der Tod schien eingezogen in die bisher lebendige Welt. Aus der absterbenden Natur löste sich ein feuchter Atem; ein aromatisch-dumpfer Geruch drang aus den verwelkten Blättern; und den schwarzen Hügeln, welche die Maulwürfe aufgeworfen hatten, entquoll der scharfe Hauch des humusreichen Bodens.

»Was ist, meine Cedes? Du weinst?«

»Alles stirbt – und auch ich muß sterben – bald – bald – –«

»Welche Gedanken, Cedes!«

»Und doch ist's Wahrheit, Kay. Der Süden that mir wohl, aber ich wußte, daß es nur ein Aufzucken sei. Wenn ich meiner Umgebung sagte, wenn ich Dir schrieb, ich fühle die Wiederkehr meiner Kräfte, so war's doch nur eine Selbstbeschönigung meiner Zweifel. Und auch heute wollte ich nicht reden. Aber einmal möchte man doch einem Menschen sich offenbaren, einmal sich aussprechen, sich ausweinen, den befreienden Schrei ausstoßen, in dem sich die ganze Qual zusammenfaßt. Vielleicht tröstet der Freund. So schön ist der Trost. Und wenn man selbst weiß: er spricht nur aus seinem guten Herzen – aus Mitleid – es klingt doch so süß! – Ohne Hoffnungen müßte man lebendig sterben. Ich hörte oft, daß im Frühjahr, wenn alles neu geboren wird, gerade die Brustkranken ihren letzten Atem aushauchen müssen. Ach Kay, – –« hier unterbrach verzehrendes Schluchzen der Sprechenden Worte – »und ich möchte doch noch so gern leben! Als ich jüngst die schönen Räume betrat, die Du mir hergerichtet hattest, leitete mich die namenlose Freude zu neuer Hoffnung. Ich war unbeschreiblich glücklich und glaubte, nun sei alles gewonnen. Ich liebe das Dasein, die Erde und vor allem – diese kleine Welt. Wenn ich Dronninghof besuchen soll, zittere ich in freudiger Erregung. Hier lebe ich immer mit meinen Gedanken, auch wenn ich noch so fern bin. Der Hof, der Wald, der Park, die Wiesen und Felder, – alles hat tausend schönere Farben als anderswo. Mitten in der Herrlichkeit des Südens, selbst in Neapel stellte ich Vergleiche an, und wenn ich verglich, brachen die Tränen der Sehnsucht aus meinen Augen. Und zu alledem. – nein, – nicht zu alledem – vor allem eins –«

Cedes brach ab. Sie verbarg ihr Gesicht, und zwischen den Fingern tropften die Tränen.

Kay war für Sekunden stumm. Er fand keine Worte. Endlich löste er sanft ihre Hände und wiederholte fragend: »Und vor allem eins, Cedes?«

Und gleichzeitig beugte er sich herab und suchte ihr Auge und sie strich sanft über sein Haar, ihm – sich selbst zum Trost. Plötzlich aber faßte sie seinen Kopf fester und drückte ihn in der stürmischen Aufwallung ihrer Gefühle für Sekunden schluchzend an sich.

Kay sprang empor. »Nein, nein! Du sollst, Du darfst nicht traurig sein, mein teures Mädchen! –« preßte er zitternd heraus, denn auch ihn übermannten Empfindungen, in die sich die Ahnungsschauer eines ewigen Abschieds mischten. – »Höre mich, Cedes! Man sagt, daß fortwährende Gedanken-Beschäftigung mit einer Krankheit sie verschlimmere, ja, daß eine bisher noch nicht vorhandene durch hypochondrische Vorstellungen entstehen könne. Und es mag wahr sein, denn wenn unsere Sinne abgelenkt werden, vergessen wir selbst die größte Pein. So verschlimmert sich auch bei Dir, was nur ein krankhafter Reiz ist, weil sich immer wieder Dein Denken auf Deinen Zustand richtet. Wirf endlich die grübelnde Sorge von Dir! Versuche die Krankheit zu überwinden. Glaube an einen glücklichen Ausgang!«

Sie schaute, während er sprach, zerstreut vor sich hin wie ein Wesen, das über den Dingen dieser Welt steht. Sie schien nichts zu hören, aber ihr Geist der Zeit vorauszueilen und das Dunkel der Zukunft zu durchdringen. Als er geendigt hatte, bewegte sie sanft das Haupt und sagte: »Du hast recht, Kay! Ein fester Wille und ein starker Glaube vermögen viel. Aber Du sprachst von einem glücklichen Ausgang. Ich werde nie glücklich sein, wenn auch mein Körper die Kräfte zurückgewinnt, niemals –«

So schwermütig klangen die Worte aus ihrem Munde.

»Laß uns genießen, was wir besitzen, Cedes!« erwiderte Kay, ihren geheimen Gedanken Antwort erteilend. »Die Zukunft birgt Dinge, von denen wir nicht einmal eine Ahnung haben. Hoffe und glaube!« – Ein Pause entstand.

»Ich will versuchen, was Du mir rätst,« entgegnete Cedes, und ein Anflug hoher Zuversicht leuchtete jetzt in ihren Augen auf. »Und verzeih' und vergiß alles, was mein Mund sprach. Mir war heute einmal wieder so traurig zu Mute – so unendlich – traurig –«

»Sind wir nicht beisammen und vereint?« fragte Kay, seinen Arm in den ihrigen legend und mit ihr vorwärts schreitend. »Ist das nicht ein Glück, das ganze Glück, das uns überhaupt zur Zeit werden kann?«

»Ja, ja, Kay!« flüsterte das Mädchen, und rosige Farben glühten empor auf ihren Wangen. »Alles ist Balsam für mein Herz und Musik für mein Ohr, was Du sprichst! Und ich war undankbar gegen das Schicksal und die Menschen! Mir ist etwas geworden, dessen Tausende sich nicht rühmen dürfen – die Liebe und die Freundschaft des edelsten, des besten Mannes, den die Erde trägt. – Sieh, sieh, wie schön! Wie wunderbar schön!« unterbrach sie sich, als sie einen Waldpfad zur Linken erreichten, und Kay unwillkürlich seine Schritte hemmte. »Wie herrlich ist die Natur!«

Ein verlassener, grasbewachsener, von dichten Baumgruppen mit tief herabhängenden Zweigen umgebener Weg lag vor ihnen. Grünes, rotes, braunes und gelbes Laub, wohin man blickte, und die Herbstsonne durchstrahlte alles, als ob Flammen unter jedem Blättchen leuchteten. Aber schöner als diese Umgebung. die doch nur den eigenartigen Rahmen bildete, war die Decke der Erde: Lauteres Gold schien herabgeschwebt zu sein. Wohin das Auge sich wendete, glitzerte, glühte und leuchtete es, und tiefrote Stengel und ebenso scharf gefärbte, in diesem Golde verstreute Blätter erschienen wie Blut, das dem funkelnden Metall entquollen war.

Ein einsames Zauberfleckchen, umzingelt von den gesättigten Farben des Herbstes und am Ausgang begrenzt durch die matt verschwommene, blaue Ferne.

Als sie etwa die Mitte des Waldpfades erreicht hatten. schossen ein paar Rothirsche mit vorgestreckten Läufen über den Weg an ihnen vorüber. Cedes stand still und schaute ihnen neugierig nach wie ein Kind. Am Ausgang des Weges aber flatterte eine Schar Krähen von einem gepflügten Felde empor, und einige, die sich mit ihren schwarzen, unheimlichen Leibern auf die kränkelnden Zweige eines entlaubten Baumes niederließen, erfüllten die Luft mit einem häßlichen Geschrei.

Cedes schrak in bösen Ahnungen zusammen, und Kay fühlte, was sie bewegte.

»Komm!« sagte er. »Drüben ist eine große Wiese; der Sonnenschein liegt darüber, und Sonnenschein soll heute auch in unseren Herzen wohnen.«

*           *
*

Gleichwie die Natur dem fortdauernden Wechsel unterworfen ist, so sind's auch ihre Geschöpfe. Der tote Stein, so wenig er beeinflußt scheint, strömt aus und nimmt an, was sich um ihn bewegen muß, und ebenso vollziehen sich im menschlichen Körper und Geist stündlich Veränderungen. Und so brachte auch den Bewohnern von Dronninghof jeder Tag ein neues, wechselndes Bild, und was geschah, übte seine Wirkung auf Denken und Handeln.

Vornehmlich aber regten sich in Clementina-Julia die alten eifersüchtigen Gefühle der früheren Jahre. Cedes und Carmelita – es zeigte sich nur zu deutlich – nahmen Kays Interesse ausschließlich in Anspruch, auf sie richteten sich seine vornehmsten Gedanken, während sie selbst und ihre Kinder in den Hintergrund traten. So lange jene beiden Clementina-Julias Kreise nicht gestört hatten, war alles gut gegangen, aber nun gab mitunter jeder Tag Anlaß zu irgend einer Verstimmung.

Wenn Besuch kam, beachtete man auch wohl Kay und Julia, aller Augen aber richteten sich dauernd auf Carmelita. Man rühmte ihre Schönheit, ihr liebenswürdiges, bald bescheiden zurückhaltendes, bald anschmiegendes Wesen, und nicht minder erregten ihre Talente Bewunderung.

Und Kay legte nur allzu deutlich an den Tag, wie sehr gerade diese Tochter seinem Herzen nahe stand. Sie mußte in den Gesellschaften vorspielen und mit ihrer ausdrucksvollen Stimme singen. Ihre eigenen kleinen Reimereien, die sie ohne Anregung bei irgend einer Gelegenheit aufs Papier warf, las er Fremden vor, und als sie gar einmal eine kurze Melodie komponiert hatte, weckte er durch allzu starkes Lob nicht nur Carmelitas Eitelkeit, sondern auch leisen Spott in seiner Umgebung.

Als Carmelitas Geburtstag nahte, kaufte er unter Clementia-Julias stummem Kopfschütteln für Carmelita, was immer nur an Wünschen von ihrer Seite laut geworden war, auch überraschte er sie an diesem Tage mit einem kleinen, feurigen Fuchs, der den Neid der anderen Geschwister erregte. Wie Kay Carmelita vorher die Pferde zu lenken gelehrt hatte, so leitete er nun auch voll Geduld den Reitunterricht. An schönen Wintertagen ritt er mit ihr und Bomstorff spazieren, und Clementina-Julia blieb zurück und sah ihnen mit feindseligen Blicken nach. Kay und Julia waren in den vier Jahren kräftig emporgeschossen, ihr Antlitz zeigte die feineren Züge bevorzugter Menschen, aber es waren doch keine besonders anziehenden Kinder; sie besaßen weder etwas von der eigenartigen Schönheit der Mutter noch von der natürlichen Vornehmheit des Vaters.

Wenn die drei Geschwister beisammen standen, erschien Carmelita unter ihnen als eine Fremde. Ihre Haltung, die Farben ihres Angesichts, ihre schlanke Körperbildung, insbesondere aber ihr anmutiges Wesen ließen sie wie ein seiner Schönheit unbewußtes Königskind erscheinen, eines das sich den im Stande unter ihr stehenden Gespielen mit gutherziger Liebenswürdigkeit zugesellt hatte.

Und Clementina-Julia verglich und verglich jeden Tag, und immer heißer quoll's in ihr auf, wenn sie sich gestehen mußte, daß ihre Kinder sich durch wenig oder nichts von den Unzähligen unterschieden, die sich allmählich in ihrem Wachstum entwickeln.

Eines Morgens schritt sie kurz nach der Unterrichtsstunde an dem Lektionszimmer vorüber und hörte ein heftiges Schreien. Als sie die Thür öffnete, stand Carmelita mit funkelnden Augen vor ihrem Bruder und zerrte ihn an den Armen.

»Was ist?« rief die Frau zornig und trat mit raschen Schritten näher.

Carmelita wich zurück.

»Er schlug mich mit der Peitsche ohne Grund – hier ins Gesicht.«

»Nun, und was thatest Du?«

»Ich wehrte mich.«

»Gegen ein kleines Männchen, auf diese Weise? Du großes Mädchen! Schämen solltest Du Dich!«

In das Gesicht Carmelitas trat zunächst ein hilfloser Ausdruck, dann aber eine Miene stolzer Festigkeit.

»Nun sprich!« rief Clementina-Julia herrisch und nur noch mehr gereizt durch eine mit diesem Stolz gepaarte trotzige Würde, die das Kind ihr gegenüber bewahrte.

Aber Carmelita antwortete nicht.

Da faßte die Frau den Arm des Kindes und preßte ihn so erbarmungslos, daß Carmelita aufschrie, und ihr die Tränen aus den Augen schossen. Aber auch ein unbändiger Eigensinn trat in ihre Züge und entstellte ihr sonst so liebliches Angesicht.

»Ich verbiete Dir, jemals Deine Geschwister zu berühren, oder ich werde Dich aufs härteste bestrafen!« rief Clementina-Julia.

»Er schlug doch zuerst!« gab Carmelita rasch und unerschrocken zurück. »Und ich nahm ihn nur beim Arm. Was soll ich denn thun, wenn er mich plötzlich ohne Anlaß mit der Peitsche ins Gesicht schlägt? Er war so unartig, daß Fräulein Charlotte schon nichts mit ihm anzufangen wußte!«

Clementina-Julia sah auf ihre Kinder. Julia stand am Fenster mit einem Ausdruck gefühlloser Gleichgültigkeit, Kay aber redete eine stumme Gegensprache und appellierte durch allerlei Bewegungen an den ferneren Beistand seiner Mutter. Die Unterlippe war breit herabgezogen, in den Augen stand noch das Naß der Erregung, und das Näschen über dem weinerlich verzogenen Mund bedurfte des Schnupftuches. Er bot das Bild eines ungezogenen und verzogenen Bürschchens, dem eine Züchtigung sehr not that.

Als Carmelita nach solcher Erklärung ihrem Bruder freundlich näher trat und ihn durch zuredende Worte zu einem ehrlichen Eingeständnis zu bewegen suchte, stieß er heftig mit den Händen und Füßen nach ihr. Diese Ungezogenheit erweckte nun wiederum in Carmelita einen solchen Grad von Zorn, daß sie sogar die Anwesenheit ihrer Mutter vergaß und Kay mit einem kräftigen Stoß von sich und dabei unglücklicherweise auf die Erde schleuderte.

Der Junge schrie, als ob ein Mordanfall auf ihn gemacht sei. Clementina-Julia aber sprang wie ein Panther auf Carmelita zu und griff ihr in die Haare.

»Boshaftes Geschöpf!« rief sie und schleifte sie hin und her. Carmelita aber riß sich gewaltsam los, und während die Spuren der Gewaltthätigkeiten in Clementina-Julias Händen blieben, schrie sie fußstampfend und vor Wut keuchend:

»Ich bin kein Tier – ich bin kein Tier – und ich wehre mich, wenn Du mich noch einmal anfassest!«

Aus ihren Augen blitzten Flammen; ihre Leidenschaft kannte keine Grenzen, und Mutter und Kind würden sicherlich einen furchtbaren Kampf aufgenommen haben, wenn nicht in diesem Augenblicke Charlotte die Thür geöffnet hätte.

Und das alles geschah in Gegenwart der Kleinen und durch die Hand einer Frau, die selbst Kindern das Leben gegeben hatte und wußte, was ihre Seele bewegt.

Das Bedenklichste aber blieb, daß die Frau diese Szene ihrem Manne, und das Kind den Vorgang seinem Vater verschwieg. Und weil infolgedessen kein Richter über dem jungen Geschöpf stand, der es ermahnte und leitete, ihm vorhielt, nicht zu vergessen, was es seiner Mutter schuldig war, bildete sich in ihm ein falsches Gefühl von der Rechtmäßigkeit seiner Handlungsweise.

Selbst Cedes machte Carmelita diesmal nicht zu ihrer Vertrauten, aber ihren Bruder ließ sie die Folgen seiner Unart, die Schmach, die ihr angethan war, büßen und ihrer Mutter begegnete sie fortan wie einer völlig Fremden.

Wo dagegen sonst eine Veranlassung vorlag, flüchtete sie zu ihrer Tante, und hier weinte sie sich aus und bereute unter deren immer gleich bleibenden sanften Mahnungen ihre kleinen Vergehen. –

In der natürlichen Folge seiner Zuneigung für Carmelita hatte sich Bomstorff Kay und Cedes angeschlossen und bildete ein Glied der Partei, die gegen Clementina-Julia Stellung nahm. Er war höflich gegen seine Cousine, aber mied sie möglichst. So stand denn Clementina-Julia nach Verlauf eines halben Jahres wieder ganz allein, aber auch gegen Bomstorff wagte sie ihrem Haß keinen Ausdruck zu geben, weil sich mit Frühjahrs Anfang ein Ereignis zutrug, das Kay fester an seinen Verwandten kettete als jemals.

An einem Sonntag Morgen, an dem Carmelita eben aus dem Hause des Verwalters herausgetreten war, – sie hatte mit Anna über den von beiden gemeinsam in der Stadt genommenen Tanzunterricht und allerlei unschuldige Heimlichkeiten geschwatzt – sah Bomstorff, der gerade über den Hof schreiten wollte, um sich in den Pferdestall zu begeben, die Dogge des Grafen mit eingezogenem Schwanze und lang heraushängender Zunge von dem Herrenhause herbeischleichen, bei Carmelitas Anblick aber ihre Gangart unter ungewöhnlichen Bewegungen beschleunigen.

Mit fletschendem Gebiß wandte sie sich links und rechts; die Augen glühten wie Feuer, zugleich schien der Körper von einer fieberhaften Erschlaffung ergriffen zu sein.

Das Tier machte den Eindruck, als sei es von der Tollwut befallen.

Teils einem unwillkürlichen Gefühl, teils einer plötzlich auftauchenden Besorgnis folgend, eilte Bomstorff, alle Vorsicht gegen sich selbst außer Acht lassend, nur von dem Gedanken geleitet, Carmelita, wenn erforderlich, zu schützen, rasch vorwärts. Näher gekommen, rief er ihr mit erhobener Stimme zu:

»Laufen Sie! Retten Sie sich, Komtesse! Die Bestie ist tollwütig! Kehren Sie um zu Behmers!«

Doch schon war's zu spät! Die Dogge war nur noch einige Schritte entfernt. Weißer und gelber Geifer schoß aus ihrem Munde, die Augen funkelten, die Zähne schlugen knirschend aufeinander, und ein heiseres Heulen begleitete ihren wütenden Anlauf.

Aber nun war auch schon Bomstorff blitzschnell an Carmelitas Seite und parierte den todesgefährlichen Angriff, indem er mit der Reitpeitsche ausholte und die Schläge wie Hagel auf den Kopf der Dogge fallen ließ. Erst wich sie, von Schmerzen übermannt, fletschend zurück, dann aber sprang sie ebenso rasend wieder vor und stürzte sich von neuem gerade auf das vor Schrecken wie gelähmte junge Mädchen.

Allein jetzt sausten im Nu die Hiebe abermals herab, und wild heiseres Rachegeheul aus der Kehle des Tieres erfüllte die Luft. Und nun ein Sprung – Bomstorff wandte sich, Carmelita mit seinem Leibe deckend zur Seite – und dann noch einer! Aber auch ein Griff von seiten des Bedrohten, der Griff einer eisernen Faust an die Gurgel der Dogge, daß deren Augen fast aus den Höhlen quollen.

Der Mann hielt das Tier wie einst Herkules den Wurm, und schüttelte es wie eine Katze. Aber die Kraft der Bestie war auch eine furchtbare. Sie zerrte hin und her und wand sich vor- und rückwärts. Die Hinterbeine kratzten und arbeiteten in wilder Auflehnung gegen den Erdboden, und jetzt – jetzt zog sie ihn vor sich her und schleifte den gewaltig Ringenden, trotz seiner verzweifelten Gegenwehr, ein Stück vorwärts.

»Holen Sie Hilfe!« keuchte Bomstorff. Und Hil–fe! Hil–fe! Hilfe! schrie er selbst mit heiser gellender Stimme. Der Ton drang über den Pachthof, in die Scheunen, Ställe und Häuser und die Gutsinsassen flogen herbei.

»Lauft zum Grafen!« – ergänzte Bomstorff, den die Kräfte zu verlassen drohten, »Eine geladene Flinte!«

Gerade in diesem Augenblick erschien Kay.

Er eilte über den Hof, aber noch bevor er anlangte, hatte der kräftig entschlossene Behmer sich bereits ermannt und mit einem Jagdmesser die Kehle des Hundes durchstoßen.

Ein Röcheln, – abermals ein Geifer, gleich einem Blutstrom, – dann ein wirklicher roter Blutsturz – und der Hund fiel aus der gelösten Hand Bomstorffs, rauchend, mit erstarrten Augen, auf die Erde. Bei näherer Besichtigung fand sich, daß das Tier von einer frevelnden Hand mit ätzender Flüssigkeit begossen war. Vermutlich waren Gier und Wutausbrüche dadurch hervorgerufen worden. Völlig ward die Sache nie aufgeklärt.

Als Bomstorff sich frei fühlte, galt sein erster Gedanke Carmelita. Er schaute sich um und suchte sie. Sie stand noch immer unbeweglich da, – die Augen halb geschlossen, mit zitternden Gliedern, – während Totenblässe ihr Gesicht bedeckte. Jetzt aber sank sie ohnmächtig in die Arme der herbeigeeilten Frauen.

»Ah! Mein Held, mein Freund, mein Bruder!« rief Kay stürmisch. Er umarmt Bomstorff und drückte ihn wiederholt an seine Brust. Aber dieser war zunächst noch sprachlos.

Die Kniee schwankten, die Brust hob und senkte sich, und aus dem halbgeöffneten Munde drang ein schwer arbeitender, keuchender Atem.

Nachdem er sich endlich mit einem gewaltigen Ruck emporgeschnellt und seinen Körper wieder ins Gleichgewicht gebracht hatte, lachte er in seiner gewohnten überlegenen Weise und hauchte:

»Ja, ja, Vetter! Fast hätte die Canaille mir den bereits angenagten Lebensfaden völlig zerschnitten. Alle Achtung! Leben war darin – schade um das herrliche Vieh! – Sapristi! Hat mir die Bestie zu schaffen gemacht! –«

Eben begossen die Knechte den toten Körper mit Wasser, um ihn von dem Blut zu reinigen, breiteten ein Leinen aus und schleppten den Leichnam abseits an einen versteckten Platz, um ihn sogleich zu begraben.

Als Clementina-Julia, die in großer Aufregung auf den Treppenausbau des Herrenhauses getreten war, Kays Bericht hörte, sagte sie, ihren Blick auf Carmelita richtend: »Hoffentlich hat's keine schlimmen Folgen, Kay! Ich werde gleich für sie sorgen. Beunruhige Dich nicht! –«

In ihrem Innern aber ging's auf und ab. Das Schicksal hatte also nicht gewollt, daß Kays Tochter bei dieser Gelegenheit das Leben einbüßen sollte – –

Die Vorsehung hatte das Kind behütet.

*           *
*

Für Carmelita traf es sich ungünstig, daß Kay fast unmittelbar nach diesem Vorfall eine Geschäftsreise nach London unternehmen mußte.

Bald nachdem sie es erfuhr, wußte sie unter einem Vorwand in die Stadt zu gelangen und bat Mercedes, sie für diese Zeit zu sich einzuladen. Am folgenden Tage hatte sie dann ein Gespräch mit ihrem Vater, dessen Inhalt Kay nur allzusehr zu denken gab.

Es war die Zeit kurz vor dem Essen; Kay saß in seinem Arbeitszimmer und sah die eben eingetroffene, durch einen reitenden Boten herbeigeholt Post durch, als sich die Thür öffnete und Carmelita vor ihm erschien.

Sie trug ein neues Kleid mit einem enganschließenden, dunklen Seidenmieder und einen Rock von schottischem Stoff in lebhaften Farben und in demselben Gewebe, das ihr überraschend gut stand. Ihrer jetzigen Größe entsprechend, fiel es bis auf die Füße herab, so daß Kay im ersten Augenblick bei ihrem Anblick wie von etwas Ungewohntem, ja, Fremdem berührt ward.

Nun war's also kein Kind mehr, das vor ihm stand, sondern ein erwachsenes Mädchen. Ohnehin hatte Kay überlegt, ob er Carmelita nicht bereits in dem nächsten Jahre konfirmieren lassen solle. Jetzt ward seine Absicht verstärkt.

»Nun, Carmelita? Du wünschest mich zu sprechen? Ei, wie hübsch Du heute bist! – Ein neues Kleid?«

Carmelita betrachtete ihre Gestalt mit einem anmutig verlegenen Ausdruck in dem großen Spiegel und nickte mit liebenswürdiger Wichtigkeit. Sie gab dadurch eine Antwort auf beide Fragen zugleich. Alsdann trat sie an ihren Papa heran und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter.

»Lieber Papa! Ich möchte –«

»Nun? sprich nur!«

»Du willst doch fortreisen, Kay« – häufig nannte sie ihren Papa bei seinem Vornamen, besonders wenn sie sah, daß er bei guter Laune war.

»Ja, – allerdings! – Und ich kann's mir schon denken. Ich kenne Dich, Schmeichelkatze. Dein Taschengeld ist wieder zu Ende.«

Carmelita schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe eine andere Bitte. Cedes hat mich eingeladen, acht Tage bei ihr zuzubringen, – so lange, wie Du fort sein wirst, Papa – –«

Kay schaute betroffen empor und zog für Augenblicke den Arm, den er liebkosend um Carmelitas Leib geschlungen hatte, zurück.

»So lange ich fort bin? Weshalb? Ich verstehe nicht. Weiß Mama schon darum? Hast Du sie gebeten?«

»Nein.«

Kay sah vorerst von seiner eigentlichen Frage ab und fuhr fort:

»Du wirst dann den Unterricht unterbrechen, das ist nicht gut. Und ich sehe wirklich keinen rechten Grund.«

Carmelita blickte vorsichtig um sich, wie jemand, der Lauscher in der Nähe vermutet. schmiegte sich dann dicht an ihren Vater, schob sich auf seinen Schoß und flüsterte: »Bitte, erlaube es! Ich fürchte mich!«

»Du – fürch–test – Dich? Vor wem?«

Kay suchte sein Kind sanft von sich zu lösen, aber es blieb, umhalste ihn fest und zärtlich und sagte, seinem auf sie gerichteten Auge ausweichend:

»Sag' es Mama nicht, bitte! Neulich hat sie mich so lange am Kopfe gezaust, bis die Haare in ihrer Hand blieben. Ich dachte, sie wolle mich totschlagen, und ich wehrte mich. Seitdem habe ich so große Angst, mit ihr allein zu sein, und wenn Du nun fortgehst – – Lieber Papa! Laß mich zu Cedes, oder nimm mich mit nach London.«

Kay erschrak in einer Weise, daß er erblaßte.

Die Gedanken lösten sich blitzschnell in ihm ab, und so sehr erregten ihn Carmelitas Mitteilungen, daß er sie fast unsanft aus seinen Armen löste, emporsprang und mit langen Schritten im Zimmer auf- und abwanderte. Sollte er, nachdem seine Frau eingelenkt und neuerdings alles nach Wunsch sich vollzogen hatte, wegen eines einzigen Falles Stellung gegen sie und Partei für Carmelita nehmen? Er war empört, daß jene es gewagt hatte, das Kind – ja, es war ja nicht einmal ein Kind in diesem Sinne mehr – abermals in einer so rohen Weise zu züchtigen! Er teilte auch Carmelitas Befürchtungen; er fand es begreiflich, daß sie in seiner Abwesenheit sich zu Cedes flüchten wollte. Bevor er aber eine Entscheidung traf, drängte es ihn, mehr zu hören.

Vielleicht hatte sich Carmelita stark vergangen, und wenn auch eine solche Strafe unter allen Umständen von ihm verboten war, mochte doch vielleicht etwas vorgefallen sein, was Clementina-Julias Vorgehen eher entschuldigte.

Kay fragte deshalb nach allen Einzelheiten, und Carmelita gab, genau der Wahrheit entsprechend, Antwort. Sie verschwieg nichts. Aber kaum hatte sie geendet, als auch schon wieder eine angstvolle Reue in ihrem Angesicht emporstieg. Sie fürchtete, daß durch ihre Eröffnungen die Dinge sich nur noch schlimmer gestalten würden.

»Sprich nicht mit Mama davon, mein lieber Papa – bitte!« flehte sie. »Es war schon vor Wochen! Niemand weiß es. Nur Baron Bomstorff, der bald darauf meine verweinten Augen sah, fragte mich, und ich erzählte ihm, aber nicht alles.«

»Es ist gut –« erwiderte Kay, kurz abbrechend. »Ich will mir überlegen, ob ich Deinen Wunsch erfüllen kann. Aber nun höre, mein Kind: Deine Mutter will stets Dein Bestes; halte das fest. Findet sie nicht immer den Ton, der Dir gefällt, so ist das eben ihre Art, wie Du die Deinige hast. Du brauchtest Deinen Bruder nicht in den Arm zu kneifen, Du konntest ihm seine Unart mit Worten verbieten, oder besser, dies Fräulein Charlotte anzeigen.«

»Sie wußte ja selbst nichts mit ihm anzufangen, Papa!« unterbrach Carmelita eifrig ihres Vaters Rede. »Er schrie schon vorher und sagte, er wolle sie bei Mama verklagen.«

»Wohl, – es mag sein! In allen Fällen aber verdienst Du den allergrößten Tadel, daß Du Deiner Mutter getrotzt hast. Ich fasse nicht, daß Du Dich so vergessen konntest, und beklage tief, daß Du die Ehrerbietung gegen sie außer Acht ließest. Versprich mir, Carmelita, daß Du Dich beherrschen wirst, daß dergleichen niemals wieder vorkommen soll!«

Er zog sie an sich und erwartete ihre Antwort. Aber über des Kindes Lippen kam kein Ton.

»Nun, Carmelita?«

»Ach, ich habe Dich lieb, so lieb, mein Papa!«

Und gleichzeitig drängte sie sich enger an ihn und preßte in leidenschaftlicher Zärtlichkeit ihre Lippen auf seinen Mund.

Kay überlegte, ob er auf einem Gelöbnis bestehen sollte, aber unter den Ausbrüchen ihrer stürmischen Liebesbeweise stand er davon ab. Was er ihr sagen mußte, hatte sein Mund gesprochen, und wenn er sich prüfte, mußte er sich zugestehen, daß er als Kind in gleichem Falle sicher nichts anders gehandelt haben würde.

Infolgedessen entließ er sie mit nochmaliger Mahnung. und versprach ihre Wünsche mit Clementina-Julia in Überlegung zu ziehen.

Als er seiner Frau am Nachmittage mitteilte, daß Cedes gebeten habe, Carmelita möge sie besuchen, blickte Clementina-Julia trotzig auf.

»Weshalb denn das nun wieder?« fragte sie schroff. »Schon der Tanzunterricht, den ich sehr ungern zugegeben habe, weil er doch nur ein Amüsement ist, zerstreut Carmelita und lenkt sie ab. Das Fräulein hat bereits wiederholt gebeten, daß wir ihr nicht zu oft Ausnahmen gestatten möchten. Hat denn Cedes so Wichtiges vor, daß sie des Kindes Hilfe bedarf? Oder ist's einer ihrer gewöhnlichen, sentimentalen Einfälle?«

Clementina-Julias Einrede bewies Kay hinreichend, daß seine Frau sich über die wirklichen Gründe nicht täuschte, aber er ersah auch aus diesem einen Satz, daß ihre bisherige Gelassenheit lediglich Verstellung gewesen war. Sie sprach ganz in dem alten Tone der früheren Jahre.

Er gab auch nicht gleich eine Erwiderung. Plötzlich türmten sich alle die alten Gegensätze und nicht minder deren Folgen wieder vor ihm auf. Sein Sinn ward trübe, und seine Gedanken wendeten sich voll Sorge in die Zukunft.

Wenn er in dem vorliegenden Falle auf seinen Wünschen bestand, wenn er Carmelita nachgab, würde sicher seine Frau das Kind für diese Entscheidung büßen lassen, und der alte Kampf begann von neuem. Fügte er sich aber ihren an sich durchaus verständigen Einwänden, würde sie es Carmelita nicht minder nachtragen, daß sie hinter ihrem Rücken mit Cedes solcherlei Pläne geschmiedet hatte.

Wie unnatürlich war doch alles, und welchen verabscheuungswürdigen Charakter besaß Clementina-Julia, wenn er ihr in solcher Weise zu mißtrauen Veranlassung hatte!

Während sie noch sprachen, ward ein Brief vom Grafen Schlieben gebracht, der unter anderem die Mitteilung enthielt, daß Cedes sich schlecht befinde, im Bett sei und ihnen wieder viel Sorge einflöße.

»Nun,« – rief Clementina-Julia – »dann ist ja schon dadurch ausgeschlossen, daß Carmelita die Einladung ihrer Tante annehmen kann.«

»Nein, umgekehrt; gerade deshalb! –« wandte Kay, in dem nun auch seinerseits der alte Widerspruch sich regte, ein. »Sie kann Cedes pflegen. Deine Schwester wird es hoch aufnehmen, wenn wir ihr Carmelita schicken, die sie so sehr liebt.«

Die Frau zog die Unterlippe. Sie sah gerade heute gealtert und wenig gut aus. Ihre Züge waren scharf, und die Augen blickten kalt. Ein Unbehagen überlief Kay. Fast hätte er die Londoner Reise aufgeben mögen, und doch sehnte er sich fort. Clementina-Julia war ihm in diesem Augenblick über alle Maßen zuwider.

Jetzt steckte Carmelita den Kopf in die Thür und that eine Frage, die Clementina-Julia kurz und unfreundlich beantwortete. Dadurch ward Kay wieder an seine Tochter erinnert, und er faßte nach seiner entschiedenen Art einen raschen und unabänderlichen Entschluß.

»Carmelita soll Cedes auf acht Tage besuchen. Jetzt um so mehr! Sie kann bereits morgen früh mit mir in die Stadt fahren,« entschied er, neigte kaum merklich den Kopf und begab sich hinaus auf den Pachthof.

Eine ungezügelte Leidenschaft stieg nach diesen Worten in der Frau auf. Sie kämpfte mit aller Kraft, aber sie vermochte der sie bestürmenden Empfindungen nicht Herr zu werden. Wenn doch diese verabscheuungswürdige Kreatur nicht mehr auf der Welt wäre! Wie gut würde dann alles sein! – Ein solcher Haß stieg in ihr auf, daß sie fühlte, wie das Herz pulsierte, wie ihre Handflächen sich feuchteten, wie das Blut ihr in die Schläfen schoß. Von diesem Tage an wälzte die Frau ernstlich den Gedanken in ihrer Seele, wie sie sich des Kindes ein für allemal entledigen könne – – –

Und der Gedanke ließ sie nicht wieder. Er verfolgte sie bei Tag und bei Nacht. Sie mußte an sich halten, daß sie Carmelita nicht packe und würge. Jede Bewegung, jeder Ton, und zwar je mehr des Kindes Wesen und Thun ihr im Grunde Bewunderung einflößten, reizten ihren Ingrimm, gaben ihr Anlaß zum Tadel und zur abfälligen Beurteilung.

Sie erfuhr auch, daß Kay sich an demselben Tage zu Bomstorff in den Turm begeben und ihn zum Abendessen eingeladen habe. Sicher geschah's, damit Clementina-Julia die Gelegenheit zu einer näheren Erörterung über den Gegenstand am heutigen Tage genommen werde. Und gewiß trug Kay jenem alles zu! Bomstorff war ja auch einer der begeisterten Bewunderer dieses unerträglichen Geschöpfes! Sie haßte auch ihn! Sie richtete überhaupt in der Folge auf alle Carmelita zugeneigten Personen ihren Haß. In den Gesprächen mit ihrer Umgebung brachte sie fortan häufiger die Rede auf das Kind, entlockte in geschickter Weise ein Urteil, und indem sie dem Ungünstigen über Carmelita unter gleißnerischem Bedauern zu ausführlichen Worten verhalf, suchte sie sowohl für die Berechtigung ihrer Abneigung weitere Nahrung zu finden, als auch ihrer Leidenschaft Reizmittel zu verschaffen.

Carmelita war überglücklich, als ihr Kay mitteilte, daß sie bereits am folgenden Morgen mit ihm in die Stadt fahren solle.

»Nun, vergiß aber auch nicht, Deiner Mutter für die Erlaubnis zu danken,« hub er an, »und versprich ihr, nach diesem Vergnügen Dich Deiner Pflichten um so eifriger annehmen zu wollen. Ich denke, Du drückst ihr dies morgen beim Lebewohl mit einigen herzlichen Worten aus. Hörst Du?«

Carmelita kämpfte. Ihrer Mutter irgend ein gutes Wort zu geben, schien ihr unmöglich. Die Forderung kam ihr unnatürlich und grausam vor. Kay aber hatte nicht ohne Überlegung gesprochen. Sollte nicht alles wieder werden wie ehedem, so mußte die Jüngere sich fügen.

Der Wagen mit den ungeduldigen Schwarzen hielt vor der Thür. Die Koffer waren aufgeladen, die Dienerschaft, der letzten Befehle harrend, stand in ehrerbietiger Haltung daneben, und Kay und Carmelita schritten die Treppe zum Einsteigen hinab. Noch einmal winkte Clementina-Julia, die ihnen gefolgt war, mit der Hand.

»Hast Du Mama gedankt?« fragte Kay, der sich, durch Clementina-Julias Haltung an diesem Morgen versöhnlicher gestimmt, nun an das erinnerte, was er Carmelita befohlen hatte. Carmelita flüsterte ein aufsätziges Nein und machte auch keine Bewegung, das Versäumte nachzuholen.

»Fehlt noch etwas, Kay?« fragte Clementina-Julia mit zuvorkommendem Ton in der Stimme, schritt mit ihrem schleppenden Gange die Stufen hinab und richtete einen fragenden Blick auf beide.

»Geh, ich will's!« entschied Kay rauh, zu Carmelita gewendet, während er Clementina-Julias Frage verneinte.

Und da trat das Kind, die Zähne zusammenbeißend und der Gewalt, die es sich anthun mußte, nur allzu deutlichen Ausdruck gebend, auf seine Mutter zu und sprach, als ob es eine Lektion hersage:

»Ich wollte Dir auch noch für die Erlaubnis danken, Mama, und werde das Versäum– –«

Clementina-Julia unterbrach ihre Tochter mit einem kalten Blick und einer Bewegung, in der ausgedrückt war: »Es ist schon gut. Lassen wir die Reden, bei denen unser Herz doch nichts fühlt.« Sie achtete auch ihrer nicht weiter, reichte aber Kay nochmals freundlich die Hand.

Und dann flog der Wagen davon. – Die Zeit erlaubte, daß Kay noch einen Augenblick bei den Schwiegereltern und Cedes vorsprach. Der alte Graf mit seinem wackelnden Kopf und der unvermeidlichen Pfeife, ohne Kravatte und Kragen, in einem weit ausgeschnittenen Hausrock, der den mageren, mit grauen Härchen bewachsenen Hals unvorteilhaft preisgab, stand bei seiner Ankunft bereits vor der geöffneten Thür im Korridor.

»Nun, wie geht's Cedes, Papa?« fragte Kay sogleich besorgt. »Steht's etwas besser heute?«

Die Frage ward zu seiner Freude bejaht.

Auch die Gräfin erschien mit ihrem sanften Blick und geleitete die Ankömmlinge in Cedes' Gemächer. Eine Umschau in denselben genügte, um für die Bewohnerin Interesse zu gewinnen. Blumen, Vögel, Bücher, Bilder und zierliche Handarbeiten überall! Hier in diesen reichen und sorgsam geordneten Räumen hatte sie sich wie ein Winterschläfer eingenistet und lebte ein Leben für sich. Die Gesellschaften, die ihre Eltern besuchten, mied Cedes fast gänzlich. Sie las, zeichnete, malte, beschäftigte sich mit ihren Blumen und Tieren, musizierte, machte einsame Spaziergänge und war außerdem noch bedacht, Menschen, die sie schätzte, durch kleine und größere selbstgemachte Arbeiten oder durch andere Aufmerksamkeiten zu erfreuen.

Ein paar fröhliche Jugendjahre mit kleinen Abwechselungen, Amüsements und unschuldigen Heimlichkeiten hatte auch ihr das Schicksal gewährt, aber als dann Kay nach Dronninghof zog, war aus dem sorglos-heiteren Geschöpf ein ernstes Mädchen geworden, das nicht einmal den Versuch gemacht hatte, sich besondere Zerstreuungen zu verschaffen oder sich Männern zu nähern, die es hätte fesseln können.

All ihr Denken wandte sich auf Kay. Wenn sie hätte auf Dronninghof leben dürfen. täglich um ihn sein, würde sie alles gehabt haben, was sich an Wünschen in ihr regte.

An einer Heirat hinderte sie ihr Brustleiden, das wohl vorübergehend weniger heftig aufgetreten war, im Grunde aber sich nicht gebessert, sondern einen immer ängstlicheren Charakter angenommen hatte. Immer war Cedes sanft, liebenswürdig und zuvorkommend im Verkehr, und nicht selten kam wie früher ihr schalkhaftes Wesen zum Vorschein, dann überraschte sie durch treffende Bemerkungen.

Die Zimmer waren sämtlich angenehm erwärmt. Der Sonnenschein fiel durch die Fenster; ringsum blitzten die vielen hübschen Gegenstände; die blankgeputzten Rokokomöbel, Bilder, Nippes und Kunstsachen. Und im mittleren Gemach lag auf dem mit einem zartgeblümten Stoffe bezogenen Sofa Cedes, unbeschreiblich schön.

Bei Kays Eintritt schossen ihr die Blutwellen bis an die Stirn, aber schon im nächsten Augenblick wichen sie, und eine zarte Blässe, die Blässe seelischer Erregung, legte sich auf ihr Angesicht. Wie ein überirdisches Wesen erschien sie Kay in diesem Augenblick.

In der kurzen Spanne Zeit, in der er mit Cedes allein war, berichtete er rasch über die Sachlage, erzählte von Clementina-Julias Verstimmung und gab die Gründe seiner Reise an.

»Also in acht Tagen bist Du sicher zurück?« fragte sie mit einem Blick, als sei Gefahr, er werde sie sonst nicht mehr wiedersehen.

Da er sie auch heute in ihrer stummen Sprache verstand, schalt und tröstete er sie mit zärtlichen Worten.

»Was soll ich Dir aus London mitbringen?« fragte er scherzend.

»Du weißt es!«

»Ich weiß es? Nein!«

»Dein altes Herz –«

»Du hast es immer unverändert. Es geht nie fort von Dir –«

Ein Glücksschimmer flog über ihr Angesicht. »Du bist mir also noch immer gut?« Ohne Antwort zu geben, beugte sich Kay herab und berührte mit seinen Lippen Cedes' Stirn. Und noch einmal! Und sie faßte und hielt ihn; in ihrem Herzen flutete es auf und ab, als könne es keinen seligeren Augenblick geben.

»Lebe wohl, meine teure Cedes!«

»Kay!«

»Cedes?«

Noch einmal streckte sie die durchsichtig kranke Hand aus, und er hielt sie lange, der Reiseunruhe nicht achtend.

»Bleib nicht länger aus.« –

»Nein! Gewiß nicht! Adieu – –«

»Adieu« –

Nun neigte er noch einmal mit zärtlichem Ausdruck das Haupt, sah sie mit einem Blicke an, in dem sich sein ganzes Inneres wiederspiegelte, und verließ eilig das Gemach.


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