Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

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Neuntes Kapitel.

In dem geräumigen Kinderzimmer, im oberen Stockwerk – mit dem Blick auf den Park – saßen Mercedes und Carmelita.

Letztere hatte einige Schreibhefte aus der Tischschublade herausgeholt, guckte mit prüfendem Auge hinein, wählte aus, glättete einige Eselsohren, raffte endlich alles wieder ziemlich ungeordnet zusammen und legte es ihrer Tante in den Schoß.

»Zwei Hefte liegen auf dem Kopf! Hier ist ein großer Tintenfleck. In solchem Durcheinander muß man nichts aus der Hand geben, Lita!«

Und die sanfte Lehrerin wies das Kind an, wie sie es machen müsse.

Nun begann Cedes den Inhalt der Hefte zu prüfen, und Carmelita ließ sich knieend neben ihr nieder.

Das ist nicht hübsch, Lita! Und hier hast Du falsch abgekürzt, – und, was ist das? ›Ganz unbrauchbar! Noch einmal!‹ steht darunter!«

»Ich fehlte doch,« – hub Lita mit geschwätziger Zunge an, – »als unsere Lehrerin den Aufsatz mündlich durchnahm und – und –«

»Und da schriebst Du allerlei Thörichtes, statt Fräulein Charlotte zu bitten, das Thema mit Dir durchzugehen?«

»Charlotte war ja grade beim Zahnarzt in Schleswig. Ich hatte die Arbeit vergessen und mußte sie rasch machen.«

»Ja, immer hast Du eine Ausrede bei der Hand. Konntest Du denn Deine Mama nicht bitten. – Deinen Papa?«

Das Kind horchte auf.

»Papa, – ja –« erwiderte sie nachdrücklich – »Mama?« –Das Wort verklang, und ein Kopfschütteln ergänzte das Nein.

»Weshalb nicht Mama?«

Statt eine Antwort zu geben, rückte Carmelita näher zu ihrer Tante und schmiegte sich fest an sie. In dieser Bewegung lag eine stumme, aber beredte Sprache.

»In Zukunft wirst Du also Mama fragen, und nicht wieder so schlechte Aufsätze machen, sonst giebt es Tadel im Schulzeugnis, und Du bleibst im nächsten Quartal in der Klasse sitzen.«

»Ich werde doch gar nicht versetzt!« rief Carmelita mit stolzem Besserwissen.

»Ich verstehe Dich nicht.«

»Ich soll doch –« und nun umhalste sie Cedes mit stürmischer Zärtlichkeit – »mit Euch nach Italien. Ich gehe gar nicht mehr in die Schule – Ah! wird Anna Augen machen!« unterbrach sie sich.

»Anna? Wer ist Anna?«

»Anna Behmer, drüben auf dem Pachthofe.«

»Ist das die Kleine, mit der Du auf dem Heuboden gewesen bist?«

Carmelita nickte. Aber rasch fügte sie hinzu: »Soll ich Dir nun etwas vorspielen?« Fragen über jenen Vorfall wünschte sie lieber auszuweichen.

Cedes aber nahm sie auf den Schoß und sprach liebevoll auf sie ein. Das Kind hörte ihren Worten aufmerksam zu, und es ward ihm mit einmal so ernst und feierlich zu Mute, als säße es in der Kirche, hörte brausenden Orgelklang und die Worte des Predigers.

Und in dem Gemach war's so anheimelnd kühl, und draußen flutete der Sonnenschein über den Rasen und blumenbesetzten Beete. Einen scharfen Duft von Buchsbaum trug die Luft hinauf und weckte Erinnerungen und schuf eine plötzliche drängende Sehnsucht, ins Freie zu eilen.

»Bitte!« rief das Kind ungestüm, »laß uns in den Park, ins Gehölz. Bitte – komm!«

»Erst mußt Du mir noch ein Stück vorspielen, Lita.«

»Welches?«

»Nun, das letzte, von dem wir gestern sprachen.«

Im Nu war das Kind am Piano, hob den Deckel empor, schob den Sessel zurecht und begann. Der Oberkörper saß unbeweglich, aber die Füße folgten dem Takt. In vollendeter Weise entledigte sie sich ihrer Aufgabe, ja, es konnte sogar ein Lächeln erwecken, das kleine Geschöpf mit solchem Ausdruck und solcher Sicherheit eine Sonate spielen zu hören. Und dann wandte sie sich auf dem Sessel, dessen Sitz sich gefügig drehte, herum und guckte ihre Tante an. Das Haar lag ihr tief über Stirn und Wangen. Das von der Krankheit blasse Gesichtchen, umrahmt von der schwarzen Fülle, schien sich nach dem Leiden in Schnitt und Ausdruck noch veredelt zu haben.

»Komm her!« rief Cedes, hingerissen von dem fremdartigen Anblick ihrer Schönheit. »Komm! Das hast Du gut gemacht!«

Und mit einem Sprunge lag das zärtliche kleine Wesen wieder an ihrem Halse.

In diesem Augenblicke öffnete Clementina-Julia die Thür. Sie neigte ohne Ausdruck den Kopf: »Wollt ihr zum Frühstück kommen?«

Mit einer verlegenen Bewegung erhoben sich die Angeredeten. Sie waren beide befangen. Die Nähe der Frau wirkte auf sie wie ein atembeengender Geruch, wie etwas Fremdes, das man je eher, desto lieber von sich abstoßen möchte.

Nach dem Frühstück machten Cedes und Carmelita einen Spaziergang ins Gehölz, und Kay begleitete sie. Clementina-Julia hatte ihre Eltern aufgefordert, einige neue Einrichtungen im Hause in Augenschein zu nehmen. Wie früher eilte Carmelita voraus, oder hing sich an Cedes' Arm. Als sie an die Höhe kamen, die auf der linken Seite den Park von dem Walde trennte, wollte Kay aus Rücksicht für seine Schwägerin einen Seitenpfad einschlagen, aber Cedes bestand auf dem Wege trotz seiner Bitten.

»So nimm wenigstens meinen Arm. – Lauf voraus, Lita!«

Während Cedes das Kleid aufraffte, betrachtete Kay ihre äußere Erscheinung. Ein Stoff in kleinem, weiß und braun karriertem Muster ließ vorn eine schlank geschnittene, weiße Weste frei, die mit seidenen Knöpfen besetzt war. Den Hals umgab ein aufrecht stehender kleiner Leinwandkragen, der durch einen Diamantknopf gehalten wurde. Auf den Schultern lag ein leichtes Sommertuch, und von einem braunen Hute fielen breite, weiße Seidenbänder herab, die hoch an der linken Wange mit großen Schleifen geknotet waren.

Alles war schön und eigenartig an ihr. Das widerspenstig krause Haar, das an den Stirnseiten hervorschoß, schien ein unruhiges Volk von Seidenraupen gesponnen zu haben. Kleine zartfädige Härchen drängten sich vorn am Scheitel hervor, und die über den Nacken fallende, in der Mitte ausgenommene reiche Haarfülle reizte den Schönheitssinn und ließ den Wunsch aufsteigen, diesen wunderbaren Frauenkopf einmal in seinem vollen, natürlichen Schmuck unbedeckt vor sich zu sehen. Dazu traten die unnachahmlichen Farben ihres Angesichts.

»Siehst Du, nun hustest Du! Ich hätte Dir nicht nachgeben sollen,« hub Kay beim Emporsteigen an.

Allerdings war Cedes ganz atemlos und so erschöpft, daß Kay rasch den Berg hinabschritt um eine Bank herbeizuholen, die sonst hier stand und offenbar von den Kindern fortgeschleppt war.

Drunten fand er Carmelita nach einem vierblätterigen Kleeblatt eifrig suchend. Sie wußte keine Auskunft über die Bank zu geben.

Als Kay die Anhöhe wieder hinaufsteigen wollte und emporschaute, stand Cedes seitlich an einen Baum gelehnt und streckte sehnsüchtig verlangend die Arme aus. Sie hatte den Hut von der erhitzten Stirn genommen und auf einen der Büsche gelegt. Auf ihrem Haupte spielten die Reflexe der durch die Bäume dringenden Sonnenstrahlen. Sie sah in diesem Augenblicke unbeschreiblich schön aus. Und nun rief er ihren Namen, und ihre Arme sanken herab.

»Nein! Erhebe sie noch einmal und zu mir, Cedes!« – rief er bittend.

»Nur einmal!« wiederholte er und hielt in seiner Wanderung inne.

»Ich darf doch nicht!«

»Du darfst nicht? Du nahmst von Dronninghof Abschied. Willst Du der Natur mehr gewähren als mir?«

Jetzt war er fast an ihrer Seite.

»Ich muß weise sein, da Du es nicht bist.«

»Bin ich es nicht?«

Sie gab keine Antwort.

»Sprich Cedes!«

»Frage mich nicht, Kay! Du weißt ja alles,« flehte Cedes, und ihre Augen gingen unruhig hin und her. »Wüßte ich Dich nicht stark, vertraute ich Dir nicht, wie hätte ich wieder nach Dronninghof kommen dürfen!«

»Gewiß! Aber weil ich Dir stets nahte, wie es geschah, deshalb hat meine Bitte auch nichts Unrechtes. – Eine gute, ehrliche Liebe verbindet uns!«

»Ja, wir ziehen allerlei künstliche Kreise um uns!« erwiderte das Mädchen sinnend. »Die Kinder singen auch in der Dunkelheit, um ihrer Furcht Herr zu werden.«

»Wie bist Du so klug, so edel, so zartgesinnt, Cedes!« hub Kay an und wollte sie umfassen. Aber sie wehrte ihm sanft und wandte sich ab. Eine Pause entstand. Niemand sprach. Beide kämpften einen schweren Kampf.

»Ich will die Bank holen. Ich sehe sie dort unter dem Gebüsch,« brach Kay endlich das Schweigen.

»Nein! Ich bitte! Mir ist wieder ganz wohl! Gehen wir! Gehen wir!«

Kay zögerte. Finstere Schatten irrten auf seiner Stirn.

»Willst Du mir nicht wieder Deinen Arm reichen, Kay?«

Sie sah ihn an mit ihren schönen, kranken Augen, die alles zu gewähren schienen und doch alles verweigerten, legte den Arm in den seinigen und machte einige Schritte vorwärts.

In diesem Augenblicke knackten seitwärts die Zweige, und Carmelita schaute mit ihren schwarzen, funkelnden Augen durch das zurückgeschobene Laub.

»Ah! Ah! Ihr habt nichts bemerkt,« lachte sie frohlockend, trat näher und schob mit einem glücklichen »Für Dich!« ein vierblätteriges Kleeblatt in Cedes' Hand.

Als Kay und Cedes den Fuß der Anhöhe wieder erreicht hatten, rief Lita. die, mit dem Binden ihres Schuhbandes beschäftigt, zurückgeblieben war: »Tante, fange mich auf!«

Und als diese nickte, huschte das Kind wie ein Sonnenstrahl den Berg hinab in die ausgebreiteten Arme ihrer Tante.

»Das gehört mir! Das ist so gut mein Eigentum wie Deines, Kay!« flüsterte Cedes, Carmelita in heftiger Bewegung an sich pressend. »Und das laß mir, so lange ich lebe. Willst Du?« fügte sie hinzu, und Tränen fielen auf den dunklen Kopf des Kindes.


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