Hermann Heiberg
Menschen untereinander
Hermann Heiberg

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Wieder war ein Jahr vergangen. Die Zeit hatte inzwischen entwirrt, was unlösbar erschienen, und ausgelöscht, was als wildes Feuer emporgelodert war.

Die Natur legt in das Herz der Menschen Vergessen. Ohne dieses wäre das Leben der meisten ein unerträgliches Dasein voll Qual. Was Zorn und Leidenschaft aus ihren Abgründen herausstoßen, ist oft nur das Unreine, das sich um die Seele geballt hat; der Kern wird wieder gesund und kräftig.

Die nächste Wirkung des geschilderten Vorfalls war zwar eine bedeutsame gewesen, später aber hatte sich eine Besänftigung der Herzen und Gemüter eingestellt, durch die der innere und äußere Friede in Dronninghof wiederhergestellt worden war. Jeder der Beteiligten faßte sich an die Brust und hielt Einkehr in sich, und weil keiner sich ohne Schuld fühlte, fand sich der Weg zur Versöhnung.

Beide Frauen lagen einige Zeit krank darnieder. An Clementina-Julias Bette stand noch in derselben Nacht der Arzt, und Mercedes brach am folgenden Morgen zusammen und kämpfte mit Bluthusten.

Und Kay wanderte in den Nächten durch den Park mit seinen hohen, schweigsamen Bäumen und schaute über die großen Parkwiesen, durch die das Wasser seine mondbeschienenen Silberstreifen zog, auf das einsam liegende Haus, in dem die beiden Leidenden ruhten, und in dem jetzt nur wenige erleuchtete Fenster sichtbar waren.

Und als Clementina-Julia das Krankenlager wieder verließ, sprach laut ihr Mund, was ihr wiederholter, heftiger Händedruck stumm erbeten hatte, wenn Kay an ihrem Bette gesessen hatte: Verzeihung und Versöhnung!

»Laß Cedes nach Hamburg zurückkehren, Kay!« flehte sie mit weicher Stimme, und Kay bewegte das Haupt, aber nicht mehr im Widerstreit mit sich, sondern unter der Erinnerung dessen, was sich zugetragen hatte.

In gegenseitiger Rücksicht ward des Kindes, ward jetzt Carmelitas nicht einmal gedacht. Jeden Tag eilte sie zu ihrer Tante und hing an deren Hals, tröstete sie und suchte auf jede Weise ihr Mitgefühl an den Tag zu legen, und jeden Tag ward das Kind zu seiner Mutter geführt, reichte ihr wortlos die Hand und blieb scheu sitzen, bis es wieder entlassen wurde.

Kay war immer von neuem mit sich zu Rate gegangen. Was seine Frau in der leidenschaftlichen Erregung hervorgestoßen hatte, vermochte er bei ehrlicher Erwägung nicht als ganz unzutreffend zu bezeichnen. Nicht die Sorge um Carmelita allein hatte seine Entschlüsse geleitet.

Freilich drängte es Kay, Mercedes Genugthuung zu verschaffen; auch schoß der Zorn, den er an jenem Abend gewaltsam in sich niedergekämpft hatte, noch einmal wieder empor.

Er sollte auf die Buße verzichten, welche er seiner Frau nach ihren beleidigenden Worten auferlegt hatte? Nimmermehr! Würde Mercedes ihm vergeben, daß er nicht auf einer Abbitte bestand? Und wie ungewiß gestaltete sich nun wieder Carmelitas Zukunft!

Jetzt kam ihm von neuem sein Töchterchen ins Gedächtnis. Die kalte Frau und das liebebedürftige Geschöpf!

Aber all das scheinbar Unentwirrbare löste Clementina-Julia durch ihr Verhalten. Sie redete auf Kay ein; sie stellte ihr Unrecht nicht ganz in Abrede; sie gelobte ihm, sich zu bemühen, seiner Tochter sanft und nachsichtig zu begegnen, und er gelangte nicht einmal dazu, ein Wort für Mercedes einzulegen, da Clementina-Julia zwar nicht Abbitte leistete, sich jedoch ihrer Schwester aus eigenem Antriebe näherte und ihr mit kluger Berechnung die Wahl ließ, in Dronninghof zu bleiben oder zurückzukehren.

Mercedes schüttelte den Kopf: »Ich danke Dir für die Erlaubnis, Deine Gastfreundschaft ferner in Anspruch zu nehmen, Julia,« erwiderte sie, »aber ich hatte schon in Deinem Sinne entschieden, bevor Du mir mit so grausamen und ungerechten Worten begegnetest. Ich schwankte bei Kays Antrag überhaupt nur für Augenblicke, weil ich Carmelita so sehr liebe. Du magst aber recht haben, daß meine Hand zu milde, und daß Dein Einfluß auf ihre Entwickelung von größerem Nutzen ist. Ich werde überhaupt wohl niemals wieder nach Dronninghof zurückkehren! Ich vermag zu verzeihen, aber nicht zu vergessen, und so würde sich in meine Freude doch immer ein befangenes Gefühl mischen.«

Clementina-Julia war viel zu sehr Verstandesmensch, um diesen Worten einen Widerstand entgegenzusetzen. Ihre Entgegnung enthielt, entsprechend ihren geheimen Wünschen, nur eine Artigkeit, aber durchaus keine Bitte, den gefaßten Entschluß zu ändern.

Bevor Mercedes Dronninghof verließ, fand zwischen ihr und Kay noch eine Unterredung statt.

»Geh heute nach dem Frühstück in das Unterholz hinter dem Park. Wir treffen uns vor dem kleinen Waldhäuschen, Du weißt, dort, wo die Bank steht!«

Mercedes verneinte anfangs mit sanftem Kopfschütteln, aber als sein bittender Blick sie wiederholt traf, erschien sie doch zu der angegebenen Stunde. Nun sie von Kay scheiden sollte, drängte es sie auch selbst, noch einmal gute Worte zu hören, noch einmal in seinen Augen zu lesen, was in seinem Herzen für sie ruhte.

Kay erhob sich bei ihrem Kommen rasch und mit allen Anzeichen überglücklicher Freude. Er schritt ihr entgegen, bot ihr den Arm und führte sie an eine Bank.

»Ah! Du kommst, Cedes!« – betonte er zärtlich und suchte ihr Auge.

»Nein, ich bitte, Kay!« – bat sie, tief Atem holend und unruhig: »Laß uns nicht in den alten Ton verfallen. Allzu bedeutsam ist, was hinter uns und vor uns liegt. Ich folgte Deinem Ruf, weil ich Dich noch einmal ohne Zeugen, – nicht sprechen – was könnten wir uns zu sagen haben! – aber vor dem Abschied sehen wollte. Ich möchte noch einmal fühlen, daß Du mir gut bist. Ich wollte Dich bitten, mir die alten Gesinnungen zu bewahren.«

Nach diesen Worten erhob sie sich, kämpfte gegen die sie fast erstickenden Tränen und streckte ihm die Hand zum Abschied entgegen.

»Nein, bleibe! Geh nicht so von mir, Cedes!« flehte Kay, legte seinen Arm eng um ihren Leib und versuchte sie von neuem auf die Bank herabzuziehen. Sie aber schüttelte, zitternd abwehrend, das Haupt, löste sich mit rascher, sanfter Bewegung von ihm los, und war, bevor er noch zur Besinnung zu gelangen, bevor er es zu verhindern vermochte, unter den Bäumen des Waldes verschwunden.

Die Angelegenheiten, welche Carmelita betrafen, nahmen durch Mercedes' Fortgang schon deshalb einen günstigeren Verlauf, als Kay gedacht hatte, weil durch die Schule, welche die Kleine in Schleswig besuchte, und durch Nachhilfeunterricht im Hause, der einer jungen Dame übertragen ward, eine Regelmäßigkeit in ihrer Thätigkeit eintrat und eine Aufsicht herbeigeführt wurde, durch die ein besonderer Eingriff von seiten der Mutter ausgeschlossen wurde. Auch gab Clementina-Julia dem Kinde wenigstens einen Teil seiner früheren Freiheit wieder. Eine eigentliche Annäherung zwischen Stiefmutter und Tochter fand freilich in keiner Weise statt. Das warmblütige und leidenschaftlich geartete Kind suchte keine Liebe, wo es nun einmal keine finden konnte. Aber Carmelita wandte ihr Herz auch in der Entfernung zu ihrer Tante, und keine Woche verging, in der sie nicht einen Brief an Cedes absandte. Diese Anhänglichkeit gab nach längerer Zeit wieder den Anlaß zu einer erregten Szene zwischen Kay und Clementina-Julia und allmählich zu einer immer mehr zunehmenden Entfremdung zwischen beiden. Carmelita hatte in der Schule einen Tadel empfangen. Hieraus entstand eine scharfe Rüge und ein schroffes Verbieten des vielen Briefschreibens.

Nun geschah versteckt, was früher offen geschehen war, und als Kay einmal unversehens das Arbeitszimmer betrat, griff Carmelita erschrocken nach dem Briefpapier und suchte es unter dem Löschblatt zu verbergen.

Es erfolgte nun Frage und Antwort.

»Weshalb versteckst Du den Brief?«

»Ich glaubte, es sei Mama.«

»Nun? Und weiter?«

»Sie hatte verboten –« setzte das Kind schüchtern an und erhob seine großen, dunklen Augen.

»Und Du thust es doch?«

Carmelita erwiderte nichts; sie preßte den Arm ihres Papas und küßte seine Hand.

»Hast Du denn Tante Cedes lieb?«

Das Kind bewegte stürmisch den Kopf. »Wie lieb!« stand darin geschrieben.

Kay nahm den Brief und schob ihn in die Seitentasche seines Rockes. Er beschloß, mit seiner Frau über die Angelegenheit zu sprechen. Aber er gab den Gedanken doch wieder auf.

Das Kind würde darunter zu leiden haben.

Auf diese Weise bildeten sich allerlei Heimlichkeiten bei Carmelita heraus.

Während sie früher arglos in den Garten gelaufen war und Obst gepflückt hatte, that sie's jetzt heimlich. Sie fürchtete den scharfen Tadel ihrer Mutter.

Wenn sie vordem etwas vergessen hatte, was man ihr aufgetragen, gestand sie es ehrlich ein. Nun machte sie Umschreibungen oder griff zur Unwahrheit, weil sie den rauhen Ton und die harte Hand Clementina-Julias fürchtete. Diese schlug sie auch einmal, und die Züchtigung blieb wie ein Brandmal an dem Kinde haften.

»Geh, binde eine andere Schürze vor,« herrschte sie sie an einem Sonntag Morgen mit einem vergleichenden Blick auf ihre Kleinen an.

Carmelita entfernte sich. Auf dem Flur erfuhr sie von dem Kutscher, daß die Stute Lotte im Herrenstall ein Füllen geworfen habe. Das beschäftigte sie dermaßen, daß sie, statt sich ins Ankleidezimmer hinaus zu begeben, in den Stall lief. Von dem Geschehenen allzu benommen, vergaß sie im Augenblick, was ihr anbefohlen worden war, stürmte zunächst wieder in die offen stehende Thür des Frühstückszimmers und gab ihrem Papa, der inzwischen eingetreten war, in lebhaften Worten Bericht.

»Ja, ich weiß, Carmelita. Nun, hat's Dir gefallen? Ist das Füllen hübsch?« Carmelita nickte. Jetzt sah Clementina-Julia empor, und Kay wurde abgerufen.

»Und die Schürze? Du solltest doch eine andere Schürze umbinden,« begann Clementina-Julia. »Deshalb sandte ich Dich fort. Wo warst Du?«

»Bei dem Füllen,« zitterte es zaghaft aus dem Munde des Kindes.

»Und Du gedachtest gar nicht meines Befehls?« Clementina-Julia heftete ihre zornfunkelnden Augen auf die Kleine. »Antworte!«

Aber Carmelita erwiderte nichts. Sie stand abgewendet und ihre Zähne berührten die Fingernägel.

»Wie oft habe ich Dir diese abscheuliche Gewohnheit schon –« Der Satz wurde durch hastige Schläge auf die Hände unterbrochen.

Carmelita floh, reckte sich empor und rief:

»Du sollst mich nicht schlagen!«

Ihre Augen glühten; Zorn und Trotz flammten über ihr Angesicht.

»Ich soll Dich nicht schlagen?« brach's ans dem Munde der Frau. »Nun, ich will Dich lehren!«

Sie packte das Kind, züchtigte es mit blinden Schlägen auf die Hände, auf den Arm und den Kopf; sie stieß es in den Rücken und trieb es unter Mißhandlungen in eine Ecke.

Und Carmelita wehrte nach Kräften ab, und dann warf sie sich, laut schreiend, nach Kinderart auf die Erde. Da trat Kay wieder ins Gemach. Ihm folgte die Erzieherin, von den Tönen, die durch das Haus gedrungen waren, herbeigezogen.

»Was ist? Was ist geschehen?« rief Kay in höchster Unruhe, forschte in den blassen Zügen seiner Frau und hob die Kleine mitleidig empor. »Nun, was war's?« wiederholte er, nunmehr herrisch und drohend zu seiner Frau gewendet.

»Sie war ungehorsam, hatte ihre alten schlechten Gewohnheiten, lehnte sich sogar gegen mich auf und erhielt ihre Strafe.«

Kay sah die roten Flecken auf den Armen und schaute in das zuckende Gesicht seines Kindes. Wilde Empörung schlug durch seine Brust.

»Und deshalb – Und deshalb?« wiederholte er, »mißhandelst Du das Kind in solcher Weise? Ist das Strafe oder Rohheit?«

»Ich bitte, daß Du Deine Ausdrücke mäßigst und nicht eher urteilst. bis ich Dir den Sachverhalt mitgeteilt habe.«

»Ich will nichts hören!« erwiderte Kay heftig. »Ich weiß, daß Carmelita eine solche Behandlung nicht verdient hat. Und wenn wirklich ihr Vergehen noch so groß, – keines meiner Kinder soll geschlagen werden, hörst Du. Tiere züchtigt man.«

»O, dieses Kind!« stieß Clementina Julia heraus und wandte sich ab.

»Ja, dieses Kind!« wiederholte Kay. »Ein Kind! Und Du forderst von ihm die Tugenden eines Erwachsenen. Dieses Kind – und Du hast nicht Nachsicht mit kindlichen Schwächen. Wie hart, wie rauh, wie unversöhnlich bist Du! Wirst Du Dich denn niemals ändern? Die Strafen, die Du der Unmündigen erteilst, verdientest Du selbst wegen Deines Mangels an Selbstbeherrschung!«

»Was schrieb ich Dir damals nach London, als Du um mich warbst?« stieß Clementina-Julia heraus.

»Was Du mir schriebst? Du wolltest gerecht sein. Aber ich fragte Dich, ob Du fühltest, daß Du eine milde Hand und ein gutes Herz für Carmelita haben würdest. Von Deinen Zusagen hast Du wenig oder nichts gehalten. Zuckt es denn nicht mitleidig in Dir auf, wenn Du in Deiner Übermacht das wehrlose kleine Wesen vor Dir siehst?«

»Wehrlos? Sie widersetzte sich, sie trotzte gegen mich auf. – Ich sagte es Dir bereits!«

»Ich würde es auch gethan haben, wenn meine Eltern mich wegen eines Nichts geschlagen hätten!«

»Es war kein Nichts! Ich sage es Dir nochmals!« brauste Clementina-Julia auf und stampfte mit dem Fuße. Sie sah Kay mit stechenden Blicken an, und die Worte drangen hastig, sich überstürzend aus ihrem Munde. »Wie oft soll ich mich wegen dieser verwöhnten und verzogenen Kreatur schulmeistern lassen!«

»Kreatur! Jawohl! Das ist die Bezeichnung, die Du für Carmelita hast!« bestätigte Kay, das Haupt langsam bewegend. »Ah! Du solltest Dich schämen. Und ich sehe es jetzt auch, alles ist vergeblich! Wer erwartet Wärme, wo Eis ist! Du bist kalt wie Eis, und wo bei anderen der göttliche Funke sanftmütiger Liebe glüht, da hat nur Deine Eigenliebe brennendes Feuer!«

Clementina-Julia hatte dem allen mit verbissenem Grimme zugehört. Ihre Zähne bohrten sich in die Lippen. Und da sie nichts erwiderte, sich vielmehr abwandte und abermals ungeduldig mit den Fußspitzen den Erdboden stampfte, wuchs Kays Zorn.

»Wenn ich bedenke,« fuhr er fort, »daß Du sogar dem Kinde verboten hast, an Cedes zu schreiben, daß Du so grausam sein konntest, ihr selbst diese Nahrung für ihr Herz zu nehmen.«

»Wer sagt das?« rief Clementina-Julia, mit flammenden Blicken sich zurückwendend.

»Ich sage es, und wenn Du leugnen willst, so gesellt sich zu Deinen Grausamkeiten die Lüge.«

»Kay!« drohte die Frau, und ihre Glieder flogen. »Ich frage Dich nochmals, wer Dir das berichtet hat?«

»Nun, das Kind selbst! Ich fand sie an ihrem Arbeitstisch oben, und als mir ihr unsicheres Wesen auffiel, und ich sie befragte, begründete sie es durch die Worte: ›Mama hat es mir verboten, an Tante zu schreiben.‹«

Clementina-Julia knirschte mit den Zähnen. »Immer, immer dieses Geschöpf!« ging es über ihre Lippen.

»Du räumst es also ein? Du gestehst Deine herzlose Handlungsweise zu! Es wird durch Dein Zugeständnis erhärtet, daß Du, statt gerecht zu sein, wie Du versprachst, Dich von boshaften Launen hinreißen läßt.«

Kay hielt inne und erwartete, daß seine Frau das Wort nehmen werde, aber zu seiner Überraschung stieß sie die Fenster auf, holte in tiefen Atemzügen Luft und starrte mit abwesendem Blick hinaus auf die Parkwiesen.

»Clementina-Julia!« hub Kay nach einer Pause an und trat seiner Frau näher. »Ich sehe. Du überlegst, meine Worte haben Eindruck auf Dich gemacht! Wir sind jetzt beide weniger erregt, wir wollen einmal ruhig und leidenschaftslos die Dinge besprechen. Vor Jahresfrist gelobtest Du mir, daß Du dem Kinde eine gute Mutter sein wolltest. Du gelobtest es nicht nur aus besserer Einsicht, aus Liebe zu mir, sondern auch als Dank für mein Nachgeben bezüglich Deiner Schwester. Einen solchen verdiente ich nicht in dem Umfange, weil ich in meiner Parteinahme für Mercedes zu weit gegangen war und auch meinerseits gut zu machen hatte, wo ich fehlte. Nun lebten wir seither glücklicher miteinander. Daß Du manches durch Deine Kälte auch in mir erkalten ließest, ist leider Wahrheit, aber ich will Dir die Schuld nicht beimessen. Ich wußte, wie Du warst. Du decktest mir einst offen Dein Inneres auf, ehe wir an den Altar traten. Ich sage: ich bin ganz zufrieden und ganz glücklich, denn vollkommen ist nichts auf dieser Welt, und Du hast ja auch meine Schwächen zu tragen. Ich bitte Dich nur inständigst, beherrsche Dich in dem einen Punkt. Laß Dich nicht so leicht von Deiner Heftigkeit hinreißen! Sei auch ferner gerecht! Denke, daß unser Kay, unsere Julia ihre Mutter verloren hätten. Würde Dein Herz nicht zittern, wenn Du dächtest, daß ihnen nicht die Liebe würde, deren ein Kind bedarf? Wie rührend ist ein Kind! Noch frei von dem Staube des Lebens, nimmt es voll gläubigen Vertrauens die Dinge in sich auf, wie sie ihm erscheinen, fügt sich in alles. Welch ein Gedanke, daß es wirklich noch Geschöpfe giebt, die in einer Welt idealer Vorstellungen leben, dieser entsprechend fühlen, empfinden und handeln. Und das Fehlerhafte, dem Guten Abgewandte! Ist es nicht auch nur ein Ergebnis des Beispiels ringsum, oder ein Erbteil unseres eigenen Blutes? Sollte uns das Nachdenken darüber nicht immer mild und nachsichtig stimmen, auch wenn wir Kummer, Enttäuschung und Herzeleid an unsern Kindern erleben? Welche Grausamkeit liegt in der Forderung, daß ein Kind Eigenschaften an den Tag legen soll, deren Vorhandensein wir bei vorurteilsfreier Prüfung an uns selbst täglich vermissen? Nur unsere Erfahrung, die Klugheit der Not, nur eine stärkere Läuterung unserer Seelen und Herzen in späteren Jahren lassen uns besonnener, besser und weiser handeln. Und nun höre meinen Vorschlag: Wenn Du fühlst, daß ich recht habe, Du aber die Kraft und Stärke nicht zu besitzen glaubst, die nötig sind, um andere Wege einzuschlagen, überlegen wir nochmals. ob es dann nicht doch besser ist, daß wir die Kleine wieder zu Cedes geben?«

Bei dem Namen Cedes zuckte die Frau zusammen. Alles, was Kay geäußert hatte, fand in ihrem Herzen Widerhall. Seine Worte überzeugten, besänftigten, versöhnten sie. Von neuem stiegen gute Entschlüsse in ihr auf, milder selbst gedachte sie des Kindes, um das sich der Streit erhoben hatte. Aber bei Nennung des verhaßten Namens wirbelte alles wieder in ihrem Innern empor: die Eifersucht auf ihre Schwester, die Furcht, Kay werde ihr wieder näher gerückt werden. Sie sah Cedes' triumphierende Miene, und die alte Leidenschaft ergriff sie.

Zudem barg jede Annäherung an jene auch noch die Gefahr in sich, daß ihren Kindern etwas entzogen werden könnte. Sie kannte Kays hochherzige Gesinnung. Clementina-Julia war mit jedem Jahr sparsamer geworden, der Geiz hatte sie erfaßt, und auf ihre beiden Kinder richteten sich allein ihre Gedanken.

Sie schwieg deshalb auch nach Kays Rede.

»Nun? Habe ich recht?« fügte der Mann hinzu. Er wußte nicht, wie es in ihr aussah.

»Ich glaube,« – erwiderte sie langsam gedehnt, doch ohne sich zu ihm zu wenden.

»Aber Du bist doch dagegen?«

»Ja, – ich bins!«

»Und weshalb, nachdem Du jüngst selbst diese Forderung stelltest?« Die Frage klang schon wieder kürzer, ungeduldiger, und Clementina-Julia fühlte, daß sie einlenken müsse.

»Ich bitte, laß uns die Sache ein andermal. nicht heute schon entscheiden. Vielleicht finden wir noch einen anderen guten Weg. Ich glaube, ich weiß einen solchen, aber noch ist's nicht ganz klar in mir. Ich bitte Dich, Kay –«

Nun sah sie ihn mit jenen Blicken an, denen er noch niemals zu widerstehen vermocht hatte, und als sie nun plötzlich zu ihm trat und ihre Arme um seinen Nacken legte, da verschloß er selbst ihren Mund mit einem Kuß und schalt sie mit neckischen Worten, die ihr bewiesen, daß sie ihn versöhnt und sein Herz wiedergewonnen hatte.

*           *
*

In den folgenden Tagen nach diesem Vorfall ereignete sich etwas, das Clementina-Julias Entschlüsse bezüglich Carmelitas noch mehr befestigte.

Als sie am Nachmittage mit Kay das Klavierzimmer betrat, fand sie zu ihrer Überraschung die kleine, fast gleichaltrige Tochter des Verwalters anwesend.

Das Kind saß mit übergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl, zog einer Puppe das Kleidchen an und horchte neugierig und belebt auf Carmelitas rasch aufeinander folgend hervorsprudelnde, übermütige und laute Reden.

Diese letztere stand mit geröteten Wangen, den Kopf mit den lebhaft blitzenden Augen der Freundin halb zugewandt, aufrecht vor dem Piano und spielte während des Schwatzens, ohne auf die Tasten zu sehen, in raschem, sicherem Tempo die lustige Melodie einer bekannten Operette. Die breite Schleife einer ihr weißes, gesticktes Kleid umschließenden dunkelroten Seidenschärpe hatte sich gelöst, und die Enden hingen in ungleicher Länge auf den Fußboden herab.

Beim Eintritt ihrer Mutter schrak Carmelita heftig zusammen und hielt mitten im Spiel inne. Da die Verwalterstochter nicht ohne Erlaubnis in ihrer Gesellschaft sein und das Haus betreten durfte, Carmelita außerdem auch sorgfältiges Üben anbefohlen war, so fürchtete sie diesmal mehr als einen bloßen Verweis.

Clementina-Julia zog ein finsteres Gesicht und machte eine bezeichnende Bewegung gegen Kay, der mit ihr ins Zimmer getreten war. Es stand darin geschrieben: »Da siehst Du wieder, wie sie es treibt. Die Verwalterstochter bringt sie zur Arbeitsstunde ins Haus, und statt zu üben, treibt sie Allotria.«

Kay aber sagte, ohne auf den deutlichen Hinweis Rücksicht zu nehmen: »Spiels noch einmal, Carmelita. Was war's?«

Halb erfreut, halb ängstlich irrten Carmelitas große Augen hin und her, während die kleine Gespielin, furchtsam durchs Zimmer schleichend, die Hand auf den Thürdrücker legte.

»Bleib, kleine Anna!« ergänzte Kay, sich zu dem Kinde wendend.

Carmelitas Züge hellten sich auf; sie vergaß, was eben geschehen war, und gab sich ganz dem glücklichen Eindrucke hin, daß ihre Gespielin bleiben durfte, und sie nicht gescholten werden würde.

Aber der Fremden Instinkt war stärker als die Wirkung der ermunternden Worte. Sie sagte sich, daß alles, was nun folgen würde, doch nur künstlicher Natur sein werde.

»Mutter sagte, ich sollte gleich wiederkommen,« kam's zaghaft aus ihrem Munde.

»Gut, meine Kleine, dann geh« – erwiderte Kay, scheinbar durch die Gegenrede bestimmt.

Nun entfernte sich das Kind mit ungelenken Knixen, und Carmelita forschte gespannt in den Mienen ihres Papas.

»Also spiele, Lita!«

Carmelita zog gehorsam den Klaviersessel an das Instrument, fand rasch den rechten Sitzpunkt und begann sofort. Mit großer Sicherheit beendete sie den ganzen Satz und drehte sich sodann, glücklich über das Gelingen, schnell auf dem Sessel herum.

Mit vorgestrecktem Oberkörper blieb sie sitzen, und ihre Blicke wandten sich zu ihrem Papa. Unter den schwarzen Brauen blitzten die Augen, als tauchten kleine Sonnen aus tiefem Dunkel hervor; zwischen den halb geöffneten Lippen erschien ein fragendes Lächeln, und so anmutsvoll wirkte ihre Erscheinung, während sie in ihrer natürlichen Grazie dasaß, den Kopf vorbeugte, und dabei die dunkelschwarzen Haare in feinen Strähnen die Wangen beschatteten, daß Kay von ihrem Anblick ganz benommen wurde.

»Ich gehe voraus, mich umzukleiden –« erklärte Clementina-Julia nach beendetem Spiel. »Laß mir sagen, wenn der Wagen vorgefahren ist.« Sie sprach's, ohne das Kind eines Blickes zu würdigen, und wandte sich zur Thür.

Kay neigte zerstreut beipflichtend den Kopf, näherte sich Carmelita, der er zunächst die Schärpenschleife knotete. Dann nahm er sie liebkosend in die Arme.

»Du solltest ja aber üben, Du böser Taugenichts!« drohte er. »Nun wirst Du doch ernsthaft daran gehen, Carmelita?«

Das Kind nickte; sie sagte nichts, aber unter einer raschen Aufforderung, sie emporzuheben, flog sie an Kays Hals empor und liebkoste ihn zärtlich.

Clementina-Julia hörte noch beim Fortgehen das jauchzende Lachen des Kindes und biß sich auf die Lippen. Zum erstenmal stieg auch der Neid in ihr empor. Carmelita war schön, zum Lieben geschaffen, während ihre Kleinen durch nichts Besonderes ansprachen. Sie überraschten höchstens durch die in ihren Kindergesichtern unsympathisch wirkenden, kalten Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatten. Haß und Neid machten zusammen sich ein Bett in dem Herzen der Frau; sie nisteten sich immer fester ein, und nur mit schwachem Willen wehrte sich ihre bessere Natur, derselben Herr zu werden.

Während der Ausfahrt entwickelte sie ihrem Manne den von ihr gefaßten Plan. Sie stellte ihm vor, ob es nicht, da sie sich nun einmal nicht über die Erziehung Carmelitas zu einigen vermöchten, und auch das heute Vorgefallene beweise, wie wenig wirksam alle Ermahnungen und Gebote seien, zur Erhaltung ihres Glücks besser wäre, das Kind jetzt gleich in eine Pension, vielleicht nach der französischen Schweiz zu geben.

»Ich schlug Dir doch vor, Carmelita wieder zu den Eltern und Mercedes zu thun. Weshalb denn nicht dorthin? Weshalb zu Fremden?«

»Ich bin thöricht in dieser Sache, Kay,« schmeichelte Clementina-Julia. »Ich gestehe es zu. Aber ich bin eifersüchtig auf Cedes. Ich war es von jeher. Nun gieb mir wenigstens als Beweis Deiner Liebe darin nach!«

Diese Sätze verfehlten ihre Wirkung nicht, sie besänftigten Kay, der nur mit Mühe ein aufkeimendes Mißbehagen unterdrückt hatte. Dennoch gab er seine Zustimmung nicht gleich. Er kannte sich; ein rasches Ja konnte ihn gereuen. Die Folge war, daß die Dinge einstweilen blieben, wie sie gewesen.

Aber als Carmelita einige Monate später, nicht aus boshafter Laune, vielmehr aus einem übermütigen Nachahmungsdrange in Gegenwart einer ihrer Mitschülerinnen Clementina-Julias hinkenden Gang nachgemacht hatte, und dies durch Schwatzereien in starker Übertreibung der Frau zu Ohren kam, nahmen nicht nur Zorn und Empörung völlig von ihr Besitz, sondern es schien ihr auch der rechte Augenblick gekommen, noch einmal mit Kay zu sprechen.

Im übrigen war das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter immer unhaltbarer geworden. In Carmelitas Auge erschien niemals ein warmer Ausdruck, wenn sie jener gegenüberstand, nichts ein einzigesmal legte sie das Bedürfnis an den Tag, sie zu ihrer Vertrauten zu machen oder bei einem kindlichen Kummer an ihrer Brust Trost zu suchen. Sie küßte ihre Mutter nie freiwillig und redete sie auch niemals unaufgefordert an. Wohl aber zeigte sich in ihrem Gesicht ein Ausdruck von starrem Trotz. Noch waren diese Regungen halb bewußt. Noch gab es für sie eine Autorität, wirkten die Lehren der Erziehung des Hauses und der Schule, noch hatte nicht der ›bewußte‹ Gedanke sich ihrer bemächtigt, man könne auch einen Menschen, gar die eigene Mutter, hassen.

Neben dem erwähnten Vorfall gab eine Begegnung mit Bomstorff Anlaß zu Unzuträglichkeiten. Er war Carmelita mehreremal auf dem Schulwege begegnet und hatte sich wiederholt mit ihr beschäftigt. Der Mann, der sonst nur ein ganz oberflächliches Interesse für die Menschen zu haben schien, lediglich im Wirtshaus mit anderen in Berührung kam und sich hier in der Wiederholung Shakespearescher Weltweisheit gefiel, schloß das lebhafte und kluge Kind in sein Herz ein und gab seiner Zuneigung für sie bei jeder Gelegenheit Ausdruck.

Clementina-Julia aber hatte ihrer Tochter strengstens anbefohlen, niemals in der Stadt mit Erwachsenen zu sprechen, keine Geschenke anzunehmen und sich unter keinen Umständen nach Schluß der Schule aus derselben zu entfernen, sondern das Eintreffen des Dronninghofer Wagens, mit dem sie täglich abgeholt ward, abzuwarten. Von ihrer jugendlichen Lebendigkeit hingerissen, durch die verbotene Frucht gereizt, aber auch durch Zureden ihrer Mitschülerinnen beeinflußt, hatte sie diesen Befehl einigemal überschritten und war entweder dem Wagen entgegengeeilt, oder hatte dem Kutscher zu warten befohlen, wenn Bomstorff sie in eine Konditorei geführt und sie hier verhätschelt hatte.

Clementina-Julia hatte nun, Vorfällen nachspürend, die eine Veranlassung zur Rüge geben konnten, den Kutscher vorgenommen und ihn ausgeforscht, ob die Kleine jedesmal in dem Schulhause auf ihn gewartet habe.

»Gewiß, Frau Gräfin,« bestätigte der Mann in einem entschiedenen Tone, jedoch eine gewisse Verlegenheit in den Mienen an den Tag legend.

Da alle Gutsangehörigen wußten, daß Carmelita unter der unnatürlichen Strenge ihrer Mutter litt, trat jeder für sie ein, und auch des Kutschers Herz sprach stärker als sein Pflichtgefühl.

»Friedrich Theißen!« betonte Clementina-Julia dem Alten, der mit Frau und zwei Kindern auf dem Gute wohnte, und dem es heftig unter der roten Kutscherweste klopfte. »Sie wissen, daß Ihre Herrschaft vor ihnen steht, und daß Unwahrheiten zur Folge haben können, daß Sie Ihre Stellung verlieren. Ich frage Sie noch einmal, ob Lita meinen Befehl stets genau befolgt hat?«

»Ja – ja, – ganz gewiß, Frau Gräfin! Bloß der Herr Baron, der hat sie mitunter angesprochen und mitgenommen –«

Der Kutscher war glücklich, diesen Ausweg gefunden zu haben, und machte ein so einfältiges Gesicht, als sei ihm gar nicht bewußt, daß er von der Wahrheit abgewichen sei. Er beschloß auch, Carmelita zu verständigen, damit sie Bomstorff einen Wink geben könne.

»Gut, ich weiß genug!« beendete Clementina-Julia das Gespräch, neigte in ihrer kurzen, wenig freundlichen Weise den Kopf und entfernte sich.

Am Spätnachmittag erschien Bomstorff, um mit Kay in einer der Parklauben eine Partie Schach zu spielen.

Mit stets gleichbleibendem Widerstreben gab Clementina-Julia in solchen Fallen den Befehl, daß eine von dem Gast besonders geschätzte Bowle bereitet wurde.

Als er ins Haus trat und in seiner kavaliermäßig artigen Weise Clementina-Julia entgegenschritt, zog sie ihn diesmal etwas freundlicher, als es sonst ihrer sehr kühlen Art entsprach, ins Freie und sagte nach den ersten einleitenden Worten:

»Ich bitte Sie, Herr von Bomstorff, unsere Carmelita mittags niemals aufzuhalten. Natürlich weiß ich Ihre Liebenswürdigkeit zu schätzen und stellte das Kind sehr gern unter Ihren Schutz, aber es handelt sich hier um bestimmte Befehle, die nicht überschritten werden dürfen.«

In Bomstorffs Gesicht zeigte sich – zu Clementina-Julias Enttäuschung – nach ihren Worten durchaus nicht die gewohnte Unterwürfigkeit. Er schlug nicht, wie sonst, in ehrerbietiger Haltung die Stiefelhacken zusammen und machte keine seiner theatralischen Verbeugungen. sondern strich in sichtbarem Unmut den Bart und bewegte die langgeschnittenen, schnurrbärtigen Lippen, als ob er etwas eifrig zwischen den Zähnen zermalme.

Aber noch mehr, und das erregte in Clementina-Julia lebhaften Ärger; er antwortete gar nicht.

»Also, ich darf auf Sie rechnen?« drängte sie, durch eine Bewegung Bomstorff zum Weiterschreiten auffordernd, fast trotzig. Kay zeigte sich eben auf dem Balkon, und sie wünschte sowohl eine Antwort wie die Beendigung des Gesprächs vor dessen Nähertreten.

»Ich meine, ein Kind muß Freiheit und Bewegung haben! Aber nach Ihren Befehlen, meine Gnädige!« erwiderte Bomstorff schroff. Er sah ein, daß er etwas erwidern müsse, aber seinem Mißfallen wünschte er einen deutlichen Ausdruck zu verleihen.

Clementina-Julias Selbstgefühl ward empfindlich getroffen, doch unterdrückte sie ihren Unmut um der Befriedigung willen, die sie empfand. Durch Bomstorffs Antwort empfing sie die Bestätigung einer Voraussetzung, deren Kenntnis sie Kay gegenüber nicht dem Kutscher verdanken wollte. Und um diese Bestätigung war's ihr allein zu thun gewesen. Sie besaß nun eine weitere Waffe gegen Carmelita.

Bei späterer Überlegung beschloß sie sogar, auch das Kind noch zu befragen. Da sie gewiß wußte, daß Carmelita leugnen werde, erhielt sie noch einen Anhaltspunkt mehr für die letzten Angriffe, die sie auf Kay machen wollte.

Aber bevor Clementina-Julia den Augenblick für die Ausführung ihrer Pläne fand, traf ein Schreiben ihres Vaters ein, welches ihre Gedanken ablenkte. Er teilte ihr mit, daß der Besitzer der Villa sein Grundstück verkauft und ihnen gekündigt habe. Es sei nun in ihm der Entschluß aufgetaucht, Hamburg zu verlassen, nach Schleswig zu ziehen und so den Rest seiner Tage in ihrer und seiner Enkel Nähe zu verleben.

Nachdem Clementina-Julia gelesen hatte, ließ sie den Brief fallen, stützte das Haupt und starrte zerstreut vor sich hin.

Die Ausführung dieses Vorhabens, das Kay sicherlich in jeder Weise unterstützen würde, bedeutete zugleich die Wiederkehr ihrer Schwester. Mercedes! Also doch! Ein Mittel hatte diese endlich doch gefunden, in Kays Nähe zu gelangen! In Clementina-Julia brodelte es auf. Sie sann nach – Sich widersetzen? Das war unmöglich. Ihre Füße berührten ungeduldig den Fußboden; vergeblich suchte sie nach einem Ausweg.

Endlich las sie weiter, und jetzt atmete sie wieder auf, ja, am Schluß erhellten sich ihre Züge. Ihr Vater schrieb:

»In der letzten Zeit haben wir uns um Cedes sehr gesorgt. Sie hustet stärker als früher, sieht meist sehr leidend aus und fühlt sich matt und angegriffen. Unser früher stets so fröhliches Vögelchen läßt immer mehr die Flügel hängen. Ich habe nun eine große Bitte, meine teure Clementina-Julia, und ich trage sie Dir ohne Wissen Deiner Mutter und Cedes' vor, zumal Deine Schwester gelegentlich einer früheren, in demselben Sinne geäußerten Absicht, mir – sicherlich aus übertriebenem Zartgefühl – einen starken Widerstand entgegengestellt hat.

Sie muß, wenn sie uns erhalten bleiben soll, nach dem Süden. Der Arzt rät dringend dazu, und zwar auf längere Zeit, vielleicht auf ein ganzes Jahr. Aber die Mittel zur Bestreitung der Kosten habe ich nicht; das weißt Du. Willst Du nun mit Deinem Manne sprechen, ob er ihr behilflich sein will? Ich weiß, er hält viel von Mercedes und wird hoffentlich unter so schwer wiegenden Umständen uns diese Bitte nicht abschlagen.«

Clementina-Julia zog nun ihre Schlüsse. Wenn Schliebens nach Schleswig zogen, fiel die Frage wegen einer Rückkehr Carmelitas nach Hamburg von selbst fort. Wenn sie Mercedes das Geld für längere Reise auswirkte, so war diese zuvörderst aus Kays Nähe gebracht! Ja, so sollte es sein! Und Zeit gewonnen, alles gewonnen!

*           *
*

Bomstorff blieb an diesem Tage länger in Dronninghof als sonst. Nach Beendigung der Schachpartie, bei welcher der Gast, wie meistens, auch heute Sieger geblieben war, folgte er einer Aufforderung Kays, einmal das ganze Gut in Augenschein zu nehmen. Nachdem sie den prachtvollen Park und das anschließende Gehölz, in dem zahlreiche Vögel, Goldammern und Pirole durch die sonnendurchwirkten Zweige huschten, durchschritten hatten, führte Kay Bomstorff auf die Vorwerke und zuletzt wieder auf den eigentlichen Gutshof.

Sie guckten in die Ställe und Scheunen, erwiderten den ehrerbietigen Gruß der nach der Tagesarbeit vor dem Hofthor schwatzend und rauchend nebeneinander stehenden Knechte, sprachen bei der Meierei vor und machten auch einen Besuch in der Wohnung des Verwalters.

Über dem Hof lag die gesättigte Ruhe des Abends. Die Sonne war hinabgesunken. Ein Nachglanz ihrer Schönheit durchfunkelte die Gebüsche und umspielte die Scheunen mit ihren hohen Giebeln.

Als sie über den sorgfältig geharkten, mit Rasen und Blumenbeeten besetzten Vorplatz des Herrenhauses schritten, blieb Bomstorff stehen, und indem er den Rest seiner Zigarre in eine große Meerschaumspitze steckte, auf der eine ruhende Nymphe geschnitzt war, sagte er:

»Summasummarum, lieber Vetter! Ein Staatshof ist's! Wer hier nicht glücklich sein kann, der hat die in ihren zarten Seidenschuhen vorsichtig trippelnde Dame Glück nicht verdient.«

Kay nickte, ohne etwas zu erwidern. Bomstorff aber fuhr fort:

»Sapristi! In einer solchen Welt, glaube ich, könnte ich noch einmal den Zauber des Daseins empfinden und in der Entäußerung von Bedürfnissen die wahre Insel der Seligkeit entdecken. Die Natur giebt Nahrung für alles. Sie erfreut, besänftigt, macht duldsam und weckt gute Regungen, verscheucht die Grillen und hilft unsere Leidenschaften bekämpfen.«

»Was der Mensch nicht hat, erscheint ihm stets als eine Sonne am Himmel,« entgegnete Kay. »Besitzt er es, so umgiebt ihn doch die alte Dunkelheit des Unbefriedigtseins. Nein, Freund, die äußeren Dinge sind die geringsten Bedingungen zum Glück. Wir müssen den leuchtenden Stern der Zufriedenheit in uns haben. Aber freilich, das ist selten.«

»Das sagen Sie, Vetter, und mit so starker Betonung?« gab Bomstorff mit einem eigentümlichen Ausdruck zurück. Fast schien's, als ob es ihn freue, daß alles Wohlleben und aller Reichtum doch recht nebensächlich seien.

»Nun ja, weil's die Wahrheit ist!« erwiderte Kay kurz. »Aber kommen Sie! Wir gehen noch eine Weile in mein Zimmer. Vielleicht gefällt Ihnen eine Pfeife Tabak vor dem Abendbrot?«

Als sie sich rauchend gegenübersaßen, Kay nach seiner Gewohnheit mit übergeschlagenen Beinen, Bomstorff mit aufgeknöpftem Schnürrock, unter dem ein seinen Leib umschließender breiter Lederriemen hervorschaute, brach letzterer ein längeres Schweigen und sagte:

»Nichts für ungut, Vetter, wenn ich heute eine fatale Sache berühre. Und um kurz zu sein: Morgen werde ich mit dem letzten Kanarienvogel gepfändet, wenn ich nicht zweihundert Thaler herbeischaffe. Wollen Sie mir noch einmal helfen?«

»Ich denke, Sie waren nun in Ordnung und sicher vor dergleichen Affairen, Bomstorff? Als ich vor drei Monaten eine erhebliche Summe hergab, versicherten Sie mich, es sei nun wirklich das letzte Mal.«

»Ganz recht,« erwiderte der Gast und strich den langen schwarzen Schnurrbart. »Aber ich muß mit dem Dichter sagen: Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen. Ich hoffte und glaubte, daß ein alter geldhungeriger Gauner besänftigt sei und alle Angriffe auf meine Oleanderbäume und den seidenbezogenen Sessel aufgegeben habe. Aber es muß ans Licht gekommen sein, daß ich noch Kassenscheine zwischen den Fußbodenritzen versteckt halte, und da hat er den alten, verblichenen Wechsel wieder hervorgezogen.«

»Hm!« machte Kay. »Ich will Ihnen etwas sagen, Bomstorff. So ohne weiteres kann ich auf Ihren Wunsch nicht eingehen. Ich will Ihnen aber einen anderen Vorschlag machen. Schreiben Sie mir einmal auf, was immer sie noch schuldig sind – auf Ehrenwort nicht mehr und nicht minder.«

»Eine verdammt zeitraubende Beschäftigung!« murmelte der Gast, und in seinem Gesicht erschien ein zynischer Ausdruck.

»Nun, gleichviel, ob's wenig oder eine große Summe ist! Ich will nur helfen, wenn Sie gründlich herauskommen, und dann habe ich auch noch eine Bedingung: Sie fangen ein anderes Leben an.«

Bomstorff zog ein langes Gesicht und rief etwas plump lachend und mit scharfem Kehllaut in der Stimme: »Nein, Gevatter, das wird nicht möglich sein! Einen Steeplechase Renner kann man nicht plötzlich vor einen Wagen spannen!«

Kays Mienen blieben bei dieser offenen Erklärung auch nicht ernsthaft. Er lachte mit und sah seinem Verwandten neugierig und mit unverstelltem Beifall ins Gesicht.

»Ist es Ihnen denn ein solcher Hochgenuß, immerfort in Verlegenheit zu sein, heute nicht zu wissen, ob Sie morgen zu leben haben, sich mit Gerichtspersonen herumzuschlagen und sich dem Gerede der Menge auszusetzen? Lieber Bomstorff! Einen Edelmann zieren andere Eigenschaften. Den sorglosen Leichtsinn verzeiht man dem jungen Fähnrich, dem Studenten, aber der Major Baron Hugo von Bomstorff könnte in anderen, besseren Dingen den Zweck seines Daseins erkennen. Sie sprachen vorher von meinem Besitz, von dem Aufenthalt auf dem Lande. Sie priesen das Leben hier. Wohlan! Ziehen Sie heraus! Ich will Ihnen die hinter dem Hofe liegenden Turmzimmer einräumen und Sie sorgenfrei machen. Aber das Kneipen mit Gevatter Schuster und Schneider sollen Sie aufgeben; statt Medoc können Sie Bier trinken, und die Nächte sollen nicht mehr zum Tage gemacht werden. Und nun ernsthaft. Sagen Sie einmal, wie viele Schulden haben Sie eigentlich?«

»Das mag der Teufel wissen!« erwiderte Bomstorff, der das Naß der Rührung, welches seine Augen feuchtete, durch eine Grimasse zu verstecken suchte.

»Ist's sehr viel? Sagen wir: Fünftausend Thaler?« warf Kay, dem die Bewegung seines Verwandten nicht entgangen war, tastend hin.

»Mehr!«

»Mehr? Mensch, wie muß Ihr Magen aussehen! Alles Medoc?«

»Nein, Gevatter! Auch Hochheimer, rubinroter Burgunder und ungeduldig sprudelnder Sekt haben – in dankbarer Anerkennung meines guten Geschmackes – Anteil daran. Es war nicht recht vom Schöpfer, die Trauben so spärlich wachsen zu lassen und sie so teuer zu machen, so lange ich auf der Welt einher gehe. Nein! Gebt's Bezahlen und Regulieren auf, Vetter; die Summe ist zu groß. Ein gut gelaunter Rothschild selbst würde den Kopf schütteln und sich mit zugeknöpften Taschen vor den Tresor stellen.«

»Sagen wir also, daß Sie zehntausend Thaler Schulden haben. Reicht das?«

»Nun, ganz so viel wird's wohl nicht sein, Vetter.«

»Um so besser. Sagen wir aber einmal zehntausend Thaler. Darauf biete ich Ihren Gläubigern fünfzig Prozent oder ein Nachsehen für alle Zeiten.«

»Das wäre eine rosenfarbene Idee!« lachte Bomstorff und bewegte den Kopf. »Fünfzig Prozent!« wiederholte er und strich den Bart. »Das macht fünftausend Thaler. Eigentlich schade um das prächtige Stück Geld.«

»Nein, nicht schade, und alles, was Sie sprechen, ist ja doch nicht Ihre Meinung. Wäre es nicht der wonnevollste Tag Ihres Lebens, an dem Sie sagen könnten, daß Sie niemandem mehr verpflichtet seien?«

»Natürlich, sans doute, Vetter! Sehen Sie! Ich habe gegen fünf und zwanzig Tausend Gulden von Kameraden in Österreich zu fordern. Also ohne ein gewisses, wenn auch fadenscheiniges Aktivum habe ich die Angriffe auf die Wirtshauskellereien der guten Stadt Schleswig nicht gemacht. Ich glaube sogar, daß, wenn jemand die Schuldscheine und Wechsel in Bewegung setzte – sagen wir, wenn ich die Beträge einem Anwalt zum Inkasso zedierte – ein hübscher Barren Gold herauskommen würde. Aber zu leid thun mir die lieben, braven Kerle! So nachträglich noch Geld mit Schuldenbezahlen vergeuden macht wenigen Vergnügen. Ich gab, so lange ich hatte, und nun muß ich schon nehmen, weil ich nichts besitze und zum Verdienen keine Lunge mehr habe.«

»Wieder nur eine Phrase. Es quält Sie doch, daß Sie mehr gebrauchen, als Sie haben. Aber Sie sitzen im Sumpf und denken: ertrinken muß ich doch!«

»Sagen wir: Trinken muß ich doch!»lachte Bomstorff, erhob sich aber plötzlich, legte seine große Hand auf Kays breite Schulter und sah ihn mit zuckenden Augen ins Angesicht.

»Ehrlich gestanden,« hub er an, und seine Stimme zitterte, »ich ließ schon oft den Glauben an die Menschheit über die Klinge springen. Alles wird vom niedrigsten Egoismus regiert, und einen Menschen, dem wirklich Geld in der Freundschaft nicht mehr ist, als irgend etwas anderes, was sich Zweibeinige unter einander zu bieten vermögen, den fand ich bisher noch nicht. Ja, Geld! Geld! Das ist ein Flügelroß, das in keinen Stall gehört! Wo das in Frage kommt, hört alle christliche Nachsicht auf, da feiert das Pharisäertum allezeit seine höchsten Triumphe! Wahrlich! Sie sind ein seltener Mensch, Gevatter. Nichts mit der Unduldsamkeit, die immer die Splitter in anderer Augen entdeckt, während die Balken seine eigenen verdunkeln, treten Sie Ihren Nebenmenschen gegenüber, sondern mit jener Vorurteilsfreiheit und jener wahrhaft adeligen Gesinnung, die sich jederzeit erinnert, daß uns alle ein Schöpfer geschaffen hat, und daß keiner ihm mit seinen Schwächen minder wert ist!«

»Na, lassen Sie's gut sein, Vetter!« wehrte Kay ab. »Viel Spaß macht's mir gerade nicht, Geld zu verlieren. Aber für einen guten Kerl, und wenn er auch unerlaubt leichtsinnig wär, thut man schon ein übriges. Wir wollen also nächstens an die Arbeit gehen; und – und was den morgen fälligen Wechsel betrifft, schicken Sie mir den Menschen her. Ich werde schon mit ihm fertig werden. Und bitte, darauf noch Ihr Wort! Sie lassen die Sache unter uns bleiben, und vor allen Dingen soll die Gräfin, meine Frau –« Kay hielt inne und holte Bomstorffs Zustimmung durch seine Blicke ein. »Und dann denken Sie auch einmal über meinen Vorschlag nach, Vetter –« schloß er. »Ich meine wegen Ihrer Übersiedelung nach Dronninghof. Selbstverständlich wollen wir uns gegenseitig nicht genieren. Wir bleiben wie bisher, durch gelegentlichen Umgang verbunden, gute Freunde. Fortwährend zusammenhaken, heiraten wollen wir uns nicht.«

Mit einem gutmütigen Lächeln brach Kay ab. Bomstorff aber reckte seine hohe Gestalt empor, und in der Abenddämmerung erschien er wie eine Hünengestalt aus vergangenen Zeiten.

Die Augen in seinem Gesicht leuchteten sprühend auf, und plötzlich trat er auf Kay zu und drückte ihn mit rascher, stummer Umarmung an die Brust.


 << zurück weiter >>