Ulrich Hegner
Saly's Revolutionstage
Ulrich Hegner

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Als wir an dem letzten Morgen unsers Hierseyns am Fenster saßen, und nur noch auf den Abschied vom Oheim warteten, der oben auf seinem Zimmer war, rief uns ein Junge von der Straße zu: Der alte Klaus kömmt! – Wir achteten wenig darauf; bald aber trat ein stattlicher Greis im Bettlergewande mit einem Kahlkopf und eisgrauen langen Barte in die Stube, in dessen Augen noch das Feuer und die Fröhlichkeit der Jugend zu leben schien. Gott grüß Euch, Kinder! sprach er, und setzte sich mit einer Freyheit zum Ofen hin, wie sie vorgestern der Gesandte von Bern selbst nicht größer genommen hatte.

Das Ungewöhnliche war uns aber in diesem Hause nicht mehr neu. Das ist gewiß der alte Mann, von dem wir auf dem Berge gehört haben, sagte Klare.

Er antwortete nichts hierauf, sondern zog einige Stücke Brot und kleine Münze aus der Tasche hervor und sagte: das tägliche Brot hab ich jetzt, Gottlob. Aber neben demselben sollte in dem Vaterunser der alten Leute auch ein warmer Ofen stehen, that er hinzu, und umarmte den unsrigen, der nur noch die Wärme von gestern hatte; wir leiden viel von der Kälte.

Da ist wohl zu helfen, versetzte Klare, und ging hinaus um Feuer nachzulegen. Wir beyde blieben 234 unterdessen stillschweigend sitzen; er rieb sich seine Beine, und ich sagte nichts, weil ich noch nicht einsah, ob dieses alles Natur oder Kunst an dem Alten sey.

Bald kam Klare wieder herein und stellte ihm etwas abgetragenes Fleisch von gestern vor. Ich darf nicht, sagte er, schob es weit von sich weg und fing an ein Stück Brot zu kauen.

Mir hatte gleich anfangs geahndet, daß dieß einer der seltsamen Bekannten meines Oheims seyn möchte, daher antwortete ich ihm auf seine Frage, ob ich der Herr des Hauses sey, er werde das Gegentheil wohl so gut wissen als ich. – Nun ja, sagte er, nehmt mir's nicht übel; man lernt die Leute erst kennen, wenn man sie fragt. – Er stand auf; Klare in der Meinung, er wolle fortgehen, nahte sich ihm: Ihr müßt doch nicht mit leeren Händen aus unserm Hause wegziehen, guten Alter! und wollte ihm ein Stück Geld geben. – O ich bin noch nicht weg, versetzte er lachend; behalte aber dein Geld, mein Kind; wer einem Bettler vom Handwerke, wie ich bin, gibt ehe er fordert, der macht sich einer Thorheit schuldig.

Einer Thorheit? rief sie, gäbe es keine schädlichere!

Es ist die Thorheit der Empfindsamkeit, die Waizen auf Mistbeeten säet.

Laß ihn machen, sagte ich. – Wir hörten ihn die Treppe hinaufgehen; und ohne Umstände zu dem 235 Oheim hineintreten, wo er fast eine Stunde blieb. Als sie wieder zu uns Menschenkindern herabstiegen, setzte sich der unbefangene Greis an seinen vorigen Platz zum Ofen und kaute an seinem Brot.

Nun alter Junge, sagte der Oheim zu ihm, willst du uns nicht erzählen, was du Neues in der Welt gesehen, seit du hier warst? – Aus dieser Frage schloß ich, daß sie oben nichts von weltlichen Angelegenheiten gesprochen. – Es gibt wenig Neues mehr für alte Leute, gab er zur Antwort; ich habe mich wieder einmahl in der ganzen Schweiz herumgebettelt, und gefunden, daß die Mildthätigkeit mit der Schwäche überhand nimmt; die Leute geben, um den peinlichen Anblick der Dürftigkeit bald los zu werden; oft ehe ich noch an drey Thüren geklopft, hatte ich schon, was ich für den ganzen Tag brauchte. Ich könnte in meinen alten Tagen wieder reich werden, wenn ich wollte, und bin oft genöthigt, den Reichen die Lehre, welche ich heute schon der Jungfer da gegeben, zu hinterlassen: Gebt den Armen was ihr habt, aber keinem Bettler mehr als das gewöhnliche Almosen!

Folgen Euch aber die Leute? fragte Klare.

Ungefähr wie du mir folgen wirst, versetzte er. Wessen Rath sollte man aber im Grunde eher befolgen, als dessen, der in seiner Kunst bewandert ist? Ich treibe sie nun schon fünf und zwanzig Jahre, und kenne alle meine Zunftgenossen weit und breit, und widerspreche dem nie, der uns ein liederliches Volk 236 nennt; die Eitelkeit der Menschen macht uns frech, und ihre Empfindsamkeit leichtsinnig, denn Almosen sind bequemer als Arbeit, und Freygebigkeit macht dem Reichen weniger Mühe als die Pflichten der Gerechtigkeit.

Wiewohl Gerechtigkeit über die Liebe gehen sollte! sagte der Oheim; allein wo ist der Gerechte? – Indessen ist doch ein leidendes Gerechtigkeitsgefühl unter den Menschen, das nicht sowohl Hand anlegt, als durch Worte wirkt; hast du das nicht auch gefunden?

Kann seyn, war die Antwort des Alten! allein ich mag der Quelle menschlicher Handlungen nicht mehr gerne nachspüren, sie löscht den Durst nicht und macht trübe Augen. Im Bayerlande schenkte mir einst ein Kapuziner ein Bild, welches ein offenes Herz vorstellte, wo Schlangen Kröten und Ungeziefer aller Art in den Winkeln sitzen, der Heiland kömmt mit einem Besen und wischt sie weg . . . .

Lache nicht, Kind! rief er der Klare zu, die wahrscheinlich mehr den salbungslosen Ton, womit er sprach, als die Sache selbst lächerlich fand. Mich hat das Bild lange Zeit erschreckt, und endlich der mit dem Besen getröstet; seitdem begnüge ich mich, jeder guten That, die ich sehe, mich einfältiglich zu freuen, wie über einen Bissen Brot, den man mir des Morgens reicht, unbekümmert, ob das heilige Brot aus einem goldnen oder hölzernen Schranke herkomme.

So kommt man freylich am beßten durch die 237 Welt, sagte ich; aber man müßte oft keine Augen haben, um den Staub und Wurmstich nicht zu sehen, der die Schränke verunreinigt.

Das empfehle ich dann jenem, der alles zu seiner Zeit auszukehren weiß, antwortete er, und strich sich freudig den Bart; – der auch mir geholfen hat . . .

Der gesprächige Alte schien noch etwas von seiner eignen Geschichte beyfügen zu wollen, aber der Oheim unterbrach ihn absichtlich. Habt Ihr, fragte er, auch etwas von Bewegungen der Unzufriedenheit unter dem Volke vernommen?

Mehr als genug, erwiederte er und blickte auf mich, als wenn er fragen wollte: Weißt du auch was? – Ich nickte mit dem Kopf. – Es steht der Schweiz ein großes Gericht bevor, fuhr er ernsthafter fort als er bisher gesprochen hatte, von innen und von aussen. Fremde Heere sind bereit uns zu überziehen, und werden einbrechen, wie eine reißende Fluth, und im Innern sehe ich nichts als Gährung. Die lange Ruhe und der erworbene Reichthum haben das Lebensblut unsrer Verfassungen verdorben; der Mächtige erlaubte sich zu viel, und der Schwache sann nur auf Kleinigkeiten.

Jene Harmonie des Gemeinsinnes ist gewichen, fuhr mein Oheim fort, die mehr in dunkelm Gefühle wirkt, wie bey unsern Vorvätern, als in plaudernder Erkenntniß, wie zum Beyspiel bey den Genfern die sich zu Tode räsonnirten – Ohne welche 238 Liebesharmonie doch kein Staat bestehen kann, es sey denn durch Zwang.

Der Alte sagte: Eben weil dieses geistige Band sich aufgelöst, sind alle gesellschaftlichen Stände aus ihren Schranken getreten, und wir geworden wie die übrigen Menschenkinder. Bey den Obern veränderte sich die trauliche Derbheit in kalten Hochmuth, bey den Untern die Ehrerbietung in Furcht.

Und Gehorsam in Untreue, fiel ich ein.

Knechtischer Sinn nunmehr in Empörung, that der Oheim hinzu. – Und so löste einer den andern ab, wie folget:

Freyheitslust in Prozeßsucht.

Regierung der Bessern in Familienherrschaft.

Vorzüge in Vorrechte.

Gesetzlichkeit in Willkühr.

Ehrenstellen sah ich erkaufen oder erkriechen.

Ich war da, wo die Gerechtigkeit einen hohen Thron hat; sie brauchte ihre Wage für das Gold der Parteyen, und ihre Binde gegen das Licht der Wahrheit.

Gottesfurcht verwandelte sich in Spottesfurcht.

Glauben in Moral.

Moral in Schein.

Weisheit in Klugheit.

Klugheit in List.

Die Liebe des Nächsten in Gelüsten nach dem Fernen.

239 Apostolischer Wandel in geistliche Trägheit.

Manchem Pfarrer liegt sein Zehntenbuch näher als die Bibel.

Und seine Heiligen hat er im Rauchfang.

Der Klostermann hat sie zwar in der Kirche, aber seinen Trost im Speicher und Keller.

Unsers Kriegswesens spotten die Ausländer.

Prächtige Zeughäuser, sagen sie, und keine Soldaten.

Schätze und keine Hüther.

So ging es noch eine Zeitlang fort. – Weißt du denn nichts? fragte der Alte die Klare, die zu allem geschwiegen hatte.

Und die Weiber waren und sind immer die Gleichen, rief sie, so wie im Grunde die Männer auch, Ihr mögt auf die Jetztlebenden schimpfen, so viel Ihr wollt! Ihr seyd unbillig; wo ist ein Land, dem man so ein Sündenregister nicht ebenfalls aufzählen könnte?

Du hast Recht, Kind, erwiederte der Oheim, und wir hatten Unrecht, dieß Wechsellied anzustimmen, wenn wir auch schon nicht zu schimpfen glaubten. Wer das letzte Wort haben will, sagt eben leicht zu viel! Die Menschen kommen und gehen, und treiben immer das Gleiche, Gutes und Böses, bald hier bald dort. Die Tugenden wandeln wie gute Geister über die Erde, oft räumen sie in einem Lande, wie in einem einzelnen menschlichen Herzen, den Platz, und es 240 entsteht ein kurzes Zwischenreich der Schwachheit, wo es dann hohe Zeit ist, zu wachen, daß die Geister der Finsterniß nicht einrücken, und mit ihnen Laster und Verderben. Vielleicht sind wir jetzt eben in jener Zwischenzeit.

Der Alte, der auch nicht geschimpft haben wollte, sagte: Wir mißkennen die Vorzüge der Schweizer nicht, man hört sie ja allenthalben preisen. Aber wo der Warnungsfinger des Unglücks einem Volke droht, ist es Zeit, daß es seine Fehler erkenne, um, wenn auch nicht das Unglück abzuwenden, doch besser aus demselben hervorzugehen.

Die beyden Alten traten nun in eine Unterhaltung ein über die von ihnen bezweifelte Vervollkommnung des Menschengeschlechts, wovon aber die Erzählung nicht hieher gehört. Was der Oheim aus der Geschichte bewies, belegte der Bettler aus seiner Erfahrung; wobey ich nach und nach so viel vom dem alten Klaus erfuhr, daß er schon vor langen Jahren aus einem reichen ungenügsamen Verschwender ein zufriedner und fröhlicher Bettler geworden, aus einem Kranken ein Gesunder; daß er, um große Sünden zu büßen, das Gelübde freywilliger Armuth, die sich nur mit wenigem Brot und Wein begnügt, auf sich genommen, wobey ihm nach seiner Versicherung die Lehrjahre sehr sauer zu stehen gekommen; daß er jetzt aber mit keinem Fürsten mehr tauschen würde, indem er sich, seine ihm nunmehr leichte Beschränkung in Speise 241 und Trank ausgenommen, alles erlauben dürfe, was mit einem reinen Herzen bestehen kann. – Wer die Schamröthe überstanden hat, sagte er, werde ein Bettler, wenn er ein wahrhaft freyes Leben führen will! – Daß er sich wenigstens wohl dabey befinde, sah ich, und daß er mit weltüberwindender Weisheit, die er unter seiner schlichten Offenheit verbarg, viel Gutes im Verborgenen wirke, ahndete ich; woher käme ihm sonst diese reine Fröhlichkeit?

Auch er blieb von der Unruhe im Lande nicht unangefochten, – wer kann sich also für ausgenommen halten! – nicht, daß er sich groß darum bekümmerte, wer Meister würde; das, sagte er, gehe einen Bettelmann nichts an, der habe nur Einen weltlichen Herrn, seinen Magen; aber die Leute theilen sich in Sekten und Parteyen, welches der Tod aller Wahrheit und Liebe sey. Schon jetzt gebe es solche, sonst ganz rechtliche Menschen, die ihm aus Mißtrauen oder Haß kein Almosen mehr reichen, wenn sie sehen, daß er von andern freundlich aufgenommen werde, oder vertraulich mit ihnen spreche. Schon vor geraumer Zeit sey er im Wadtlande zu einer Gesellschaft berufen worden, die ihn unter Geldversprechungen mit Briefen und heimlichen Aufträgen beladen wollen; natürlich habe er das nicht nur ausgeschlagen, sondern sie noch gewarnt vor verderblichem Einfluß von Außen und Ehrgeiz von Innen, wodurch sie sich am Ende doch nur das Schicksal von Simsons Füchsen zuziehen werden, 242 welche zusammengekuppelt das Korn der Philister verbrennen mußten, und um die sich hernach keine Seele mehr bekümmerte. Das habe die Gesellschaft aufgebracht, man habe ihn fortgewiesen und ihm gedroht, wenn er diese Gegend wieder betreten würde, die Hunde auf ihn zu hetzen. – Hingegen habe ihn ein Landvogt aus einem andern Gebiethe, bey dem er sonst wohl gelitten gewesen und zuweilen ein Glas Wein getrunken, überreden wollen, ihm zu hinterbringen, was die Bauern sagen, und als er sich das verbethen, habe der Landvogt es ihm mit großem Ernst als Obliegenheit vorgestellt; auf seine wiederhohlte Antwort aber, das stehe nicht in seinen Bettlerpflichten, über die er nicht hinausgehen dürfe, habe ihn der Herr zuletzt einen Tagdieb gescholten und ihm das Land verbothen.

Bei einer solchen Freymüthigkeit nahm mich beydes nicht wunder. Mein Oheim aber sagte: Aehnliches wird noch vielen begegnen; denn wenn Gott ein Land strafen will, mögen ihm auch die Unparteyischen nicht entgehen.



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