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XVII.

Bescheiden wie erster Frühling begann nach der Gründung des Bades, als der engadinische Sommer wieder kam, etwas Kurleben in St. Moritz.

Der Sammelpunkt desselben war das Gasthaus des Dichters Konradin von Flugi und seiner sonnigen Hauswirtin Menja. »Mütterchen Menja« nannten die Gäste die junge blonde Frau.

Die ersten Gäste waren der Seidenhändler Näf von Aarau, seine Frau, seine Tochter und zwei Söhne, eine wohlhabende Familie, die gekommen war, den Retter des Vaters zu begrüßen. Dazu gesellten sich einige Bürger von Chur, die der alte Ruhm der Wasser und die Neugier, das Bad von St. Moritz zu sehen, angelockt hatte, und etliche Tiroler Bauern, die die Sitte, nach der Heuernte eine Reise zum Brunnen von St. Moritz zu machen, nicht vergessen hatten. Weitab von den Ereignissen der Welt, oft wochenlang ohne jede Nachricht, was in den Ländern der Tiefe geschah, lebte der kleine Kreis, auf sich selber angewiesen, wie eine einzige Familie, bei Veltlinerwein, luftgedörrtem Fleisch oder dem Gemsbraten, den Markus Paltram, das Pfund um wenige Kreuzer, lieferte.

Eine reizende Kleine begleitete manchmal die alte Frau, die das Fleisch brachte – Jolande! Sie glich, das sagten alle Einheimischen, der milden Pia, sie war schmal und kraftvoll wie eine Gemse; aber es war doch nicht sie. Unter dem schönen Ansatz des dunklen weichen Haars glänzte eine freie reine Stirn und in den leuchtenden kirschschwarzen Augen war nichts Raubtierartiges.

Ein herbinniges, verschlossenes Kind war Jolande, schon mit ihren wenigen Jahren eine Schweigerin, aber ihre Augen prüften und ihre Ohren horchten, sie horchten, was man von ihrem Vater spreche.

Sie hatte einen brennenden, ja krankhaften Stolz auf ihn, sie bebte, wenn man von ihm sprach.

Diese heiße, leidenschaftliche Art des Mädchens, das sich doch schon selber zügelte, war überaus reizvoll.

Sie widersprach nicht, wenn sie etwas, was ihr nicht gefiel, von ihrem Vater hörte, aber die feinen schmalen Lippen schürzten sich – zuerst rührend schmerzlich – und dann zu einer Verächtlichst, wie man sie selten an einem Kinde gesehen. Wenn sie aber sprach, geschah es mit einem lieblichen Zauber der Stimme.

Und immer ging sie den Gästen Konradins zu früh.

»Jolande, willst du mit dem Vater auch einmal zur Jagd gehen?« fragte der Wirt.

»Gewiß, an meinem zwölften Geburtstag darf ich die erste Gemse schießen!«

Im Sprechen zeigte sie die schönen weißen Zähne, und die kirschschwarzen Augen leuchteten.

»Hast du schon auf ein Ziel geschossen?«

»Ja, aber nur mit dem Vogelrohr habe ich es versucht.«

Nicht häufig sprach sie so viel Worte, nie nahm sie das kleinste Geschenk an; nicht verletzend, sondern mit einem herb standhaften Lächeln wies sie es zurück.

»Das Eisenköpfchen!« grollte Adam Näf, der stattliche Händler, der die schwere goldene Uhrkette über die Brust gespannt hatte. »Heillos vornehm ist sie.«

»Schaut ihr nur auf das simple Kleid – ist ein Mängelchen daran?« versetzte Menja, »und wie sie Kopf und Hütchen trägt! Paltram will eine Prinzeß aus ihr erziehen!«

Ludwig Georgy, der burschikose Maler aber, der das Engadin auch wieder aufgesucht hatte, war vernarrt in Jolande.

»Sie muß mir auf die Leinwand!«

In den ersten Septembertagen zogen die Gäste fort. Ein Saumpferd trug die Staffelei, die fertigen und angefangenen Bilder und die Skizzen des Künstlers. Er pfiff und sang vor Fröhlichkeit, denn ein Bild, das Adam Näf gekauft, hatte seine schmale Börse gefüllt.

Und seine Hoffnungen waren groß.

»Das sind keine hundertmal gemalten Schlösser, das ist frisches, keusches Hochgebirge – die werden staunen im lieben Deutschland! Da hat ja keine gute Seele eine Ahnung vom Morteratsch, vom St. Moritzersee!«

»Und von den lumpigen Bergamasken, die Eure besondere Liebe haben,« fiel Adam Näf lachend ein.

So ritten sie durch den Sonnenschein.

In St. Moritz aber saßen die »Geldverlocher« und rechneten aus, daß das Bad ein Moloch sei, an dem sie vollends verarmen müßten.

»Man darf es keinem Menschen verraten, wie wir stehen!« sagte Lorsa.

»Das Bad kommt schon noch in die Höhe!« tröstete vertrauensvoll Herr Konradin.

Es kam aber auch im nächsten Jahr und im dritten nicht; was an neuen Gästen zu den alten stieß, war nicht der Rede wert.

Aber auch die alte Partei hatte allen Grund, über den Mißerfolg der Jungen nicht zu lachen.

In tiefer Stille war die Abordnung aus Wien zurückgekehrt, und der Landammann sprach nicht gern von der Sendung. Mit Hofbescheiden, mit Versprechungen, die doch keine bestimmten Verpflichtungen enthielten, mit einer Menge Verschiebungen der Audienzen und kränkenden Verschleppungen waren die zähen, unbequemen Bündner Gesandten hingehalten worden. Dann endlich erklärten die österreichischen Räte, daß sie die Verhandlungen nicht weiter führen könnten, ein längeres Bleiben der Gesandtschaft überflüssig sei: Österreich halte an den bestehenden Verhältnissen fest. Und um den Bündnern den Abzug zu erleichtern, versprach man ihnen dreißigtausend Gulden als Entschädigung für die von den Franzosen eingezogenen Privatgüter. Die Summe war aber so mit Bedingungen verklausuliert, daß niemand zu hoffen wagte, sie würde je ausbezahlt werden.

Der Ausgang der Gesandtschaft war der größte Schmerz im Leben des Landammanns von Flugi, des treuen Anhängers der bündnerischen Freundschaft zu Oesterreich.

»Sie haben in Wien einen Nagel zu meinem Sarg geschlagen!«

So klagte der greise würdige Herr.

Ein liebliches Enkelkind zog aber den Nagel aus dem Sarg, und im Gasthaus des Herrn Konradin saßen die alten, früher so streitbaren Herren, der Landammann und Driosch, schlürften am Nachmittag den Kaffee, spielten Karten und überließen die Politik den Jungen.

Wenn doch ein Gewitter drohte, war der gemeinsame Enkel ein lustiger Friedensstifter.

Und jeden Sommer einmal ritt der alte Landammann zu Cilgia Premont nach Puschlav.

»Sie ist wohl eine hinterhältige Teufelin gewesen, aber auf der Welt versteht mich niemand besser als sie,« pflegte er zu sagen.

Jeden Sommer rückte auch Ludwig Georgy, der Maler, mit der Sicherheit eines Zugvogels wieder ein.

Und er malte – malte – bald in St. Moritz, bald in Pontresina, bald in Puschlav.

Dabei qualmte er aus der Pfeife, daß er in der Arbeit innehalten mußte, bis sich der Dampf über den Farben der Landschaft verzogen hatte.

»Kein Stück ist noch verkauft,« erzählte er, »aber einen Händler habe ich zu Frankfurt entdeckt, der ist Goldes wert. Er legt die Bilder auf den Speicher und leiht mir das Notwendige zum Leben. Er sagt: ›Die Gemälde kommen schon ins Ziehen! – malt zu!‹ Jetzt eben geht er mit einer Ladung ›Engadin‹ nach London – er hofft ein paar Engländer zu erwischen!«

Das trug der Prachtmensch so in einem Tone der Selbstverspottung vor, daß auch niemand im Engadin seine Kunst sehr ernst nahm – nur eine: Cilgia.

Um so größer war das Erstaunen, als eines Tages eine malerische Karawane englischer Touristen, wie vom Himmel geschneit, im Engadin erschien und mit einem » Good morning« zu St. Moritz nach dem Maler Ludwig Georgy fragte. In London waren seine Bilder aus dem Engadin zum Ziehen gekommen.

Im nächsten Jahre kamen hinter den Engländern neugierige Franzosen und Deutsche ins Engadin, und die Landsleute des Malers, den sie zuerst für einen farbenbegabten Phantasten gehalten hatten, jubelten am lautesten.

Die sturmgepeitschten Arven, die sich im Gefelse drängenden Herden der Bergamasken, das Idyll der äsenden Gemsen, das Schneeleuchten der Gipfel, der Traum der Seen, der innige Zauber des Lichtes – alles, was Ludwig Georgy gemalt – das war nicht der Traum eines phantasievollen Arkadiers, das war herrlich beobachtete Natur!

Im Engadin gab es wirklich so grüne Wiesen, wie er sie malte, es gab die leuchtenden Blumenteppiche, die Seen, die wie ein Kinderlächeln prangen, die Berge, die wie silberne Flammen in einen dunkelblauen Himmel steigen, und jene überirdisch schönen Sonnenuntergänge, wo aus den Schneespitzen das Feuer bricht, während sich ein magisches Dämmerblau um die Dörfer breitet.

In diesen Dörfern gab es die Gestalten, die er malte, ein hartes, zähes, in einer eigenartigen Würde dahinlebendes stolzes Volk.

In St. Moritz gab es eine Sauerquelle, deren vielhundertjähriger Ruhm in Vergessenheit geraten war, doch jetzt wieder auflebte. An ihr sammelten sich die Leidenden; sie stiegen im Juni an Krücken aus den Sänften, sie blieben bis im September dort und schritten auf der Heimreise jauchzend über die Berge.

Die Namen Engadin und St. Moritz begannen in der weiten Welt und besonders in den großen Städten zu klingen.

Man lebte in der poesievollen Zeit der ersten Schweizerreisen. Jede Fahrt war noch eine Entdeckung, und die über die Berge zogen, waren Leute von Geist und Gemüt, mit einer gewissen Schwärmerei bereit, das Schöne auszuspüren, das Unvollkommene zu übersehen, es kam die gebildete Aristokratie der Länder. Und St. Moritz wurde das Sommerlager der Vornehmsten.

Die Reisenden ritten noch eine Weile über die Pässe; eines Tages aber kam – ein unerhörtes Wunder! – die erste Kutsche von Chur, später die Postwagen mit dem bunten Sommervolk.

Die Säumer, die mit untergeschlagenen Armen vor ihren Häusern gesessen, wurden Fuhrleute und Postillone, und der alte Tuons knallte mit der Peitsche, wenn er durch das Dorf Pontresina fuhr, daß es die Toten von Santa Maria hätte wecken mögen.

Ein großes Aufatmen ging durchs Engadin, die verderbliche Auswanderung stockte, die Dörfer, die durch den Sommerverkehr auf den Straßen Verdienst fanden, schmückten sich und da und dort entstanden schlichte bürgerliche Gasthäuser.

Langsam hob sich das Thal.

Und die Dankbarkeit des Volkes wandte sich zwei Namen zu: Ludwig Georgy – Markus Paltram. – Es erschien ihm wie eine höhere Fügung, daß der Künstler, der den Ruhm des Engadins durch seine Bilder in die Welt verbreitete, ein Geretteter des grauen Jägers sei, und Ludwig Georgy war der erste, der das Verdienst auf Markus Paltram schob.

»Die verfluchte Lawine,« scherzte er burschikos, »war für uns alle ein Glück! Ich säße ohne sie irgendwo, ein Genremaler unter tausend deutschen Genremalern, nun aber hat mir das Glück die frische, wunderherrliche Stoffwelt des Engadins zugewiesen und ich male sie, weil ich dabei mein Leben finde und ein bißchen Ehre in der Welt – ich male sie im Grund heillos eigennützig!«

Dazu schlug Ludwig Georgy sein hellstes Lachen an, das Lachen eines goldigen, harmlosen Menschen.

Nein, sein ganzes Wesen widersprach der Rolle des rettenden Helden.

Aber Markus Paltram, der geheimnisvolle!

Er wachte an den Passen, und Winter um Winter, Jahr um Jahr gelangen ihm merkwürdige Rettungen – ihm, der so viele Jäger erschossen haben sollte!

Zu den vielen Legenden, die über ihn gingen, bildete sich eine neue: er hätte die Not des Engadins heben sollen, aber er war ein Camogasker und nicht rein genug!

Markus lächelte wehmütig dazu: »Ja, nicht rein genug!« Er schritt seinen einsamen Weg, und um die Fremden, die durch die Dörfer streiften, kümmerte er sich nicht.

Desto mehr sie sich um ihn.

Der große Sonderling von Pontresina, ein einfacher Jäger und doch ein König, der hocherhobenen Hauptes durch sein Volk dahinschritt!

Seine Erscheinung und sein Leben fesselten sie, seine Hütte mit dem bemoosten Wasserrad, mit der Esse, aus der nie mehr Feuer schlug, wurde mit dem stimmungsvollen Kirchlein Santa Maria in der Höhe ein Wallfahrtsort der fremden Engadinschwärmer.

Das Wort »König der Bernina«, das zuerst ein zorniger Schimpf der Engadiner auf die Anmaßungen Markus Paltrams gewesen war, wurde im Munde der Gäste ein Ehrentitel.

»Wir haben den König der Bernina gesehen – er ist wie ein wandernder Fels!«

Und sie glaubten, sie hätten etwas Großes erlebt.

Als Jolande zwölfjährig wurde, verbreitete sich eine sonderbare Kunde – um so rascher, da fast alle Gäste die reizvolle Gestalt kannten.

Als Knabe verkleidet, begleitete sie den Vater auf die Jagd. Und was zuerst nur Gerücht war, das bestätigten bald manche aus eigener Anschauung. Ja, den Leuten der Berge fiel es gar nicht besonders auf. Denn italienische Wildheuerinnen, die in Männerkleidern das Gras der Felsenplanken sicheln, gab es in den Grenzbergen von jeher, und es war nicht unerhört, sondern genugsam überliefert, daß Engadinerinnen schon früher in Männerkleidern zur Jagd in die Berge gegangen waren, wo die Mädchen- oder Frauenkleider nichts wert sind.

In Pontresina gewöhnten sich die Leute bald an sie oder an ihn, an Landolo, wie Markus Paltram seinen Jägerknaben nannte.

Wie der Vater ging er in Grau.

Eine Mädchenart blieb dem feinkecken Burschen: er trug gern eine leuchtende Blume auf der Brust und errötete leicht wie ein Mädchen, auch erschien er für sein Alter etwas zu zart, aber das leichte Gewehr über dem Rücken, schritt er spannkräftig wie eine Gemse neben dem Vater.

Doch so elastisch war Landolo nur, wenn er sich unbeobachtet wußte.

Sobald die Neugier nach ihm sah, steifte und bäumte sich die Gestalt in verschwiegener Herbheit, in inniger Zurückhaltung. »Rührt nicht an mir!« bat der flammende Blick, das Erröten, »nicht mit euern Augen, nicht mit euern Worten.«

Die Schweigsamkeit und der brennende Stolz wappneten die Gestalt.

Ein Lächeln, ein Wort aber von Landolo – ein guter Blick der kirschdunklen Augen – man sagte, es gebe nichts Hinreißenderes im Gebirge.

Und ein heißblütiger, leidenschaftlicher kleiner Jäger war Landolo. Markus Paltram hütete ihn wie seinen Augapfel, doch gab er Ludwig Georgy die Erlaubnis, ihn und den Knaben zu malen – eine Gefälligkeit, um die der Maler viele Jahre gerungen.

Es wurde sein berühmtestes Gemälde und hat in den Ländern der Tiefe mehr dazu beigetragen, daß das Engadin bekannt wurde, als irgend eines seiner übrigen Bilder.

»Der König der Bernina und sein Töchterlein!«

Es ist ein Gemälde voll Stimmungsgehalt. Im Hintergrunde leuchtet ein Stück blauen Roseggletschers und dämmern weiße Berge, im Mittelgrund ragen die Aeste einer Wetterarve in das Bild, im Vordergrund sitzt Markus Paltram in halbhohem Seidenhut, das Gewehr auf den Knieen, und blickt mit scharfem Adlerauge, mit einem durch nichts gemilderten Ausdruck der Kraft und Selbstherrlichkeit in das Gebirge. Neben ihm, etwas tiefer, ruht, das Gewehr im Arm, die Brust von der keimenden Fülle leicht gehoben, Landolo und blickt dem Vater, der es nicht achtet, mit einem innigen Lächeln der Bewunderung ins Gesicht. Vor ihnen liegt in funkelnden Alpenblumen die Beute – ein Gemsenpaar.

Die brennenden Augen und das mädchenhafte Lächeln des Knaben, über dessen Stirne eine entzückende Reinheit ruht, sind dem Maler besonders geraten.

Das Bild ging in eine Menge Zeitschriften und Volkskalender über, und aus den ersten Reiseberichten der Gäste von St. Moritz schöpften die Kalenderschreiber die Erklärungen dazu.

»Markus Paltram, der König der Bernina,« schrieben sie, »ist der merkwürdigste Jäger, der dem Graubündnerland je geboren wurde. Er hat schon an die zweitausend Gemsen geschossen. Er pflegt seine Grattiere wie der Hirt seine Herde, er duldet aber keinen anderen Jäger im Revier, und dreißig Italiener und Tiroler, die darein einbrachen, hat er getötet, unzählige gezüchtigt, aber er steht groß im Volke. Dreiunddreißig Menschen hat er aus Todesgefahr befreit. In allen Wetternächten wacht er an den Straßen und rettet. Er ist zugleich der große Chirurg seines Thales, er hilft Armen und Reichen; berühmte Aerzte bestätigen seine Geschicklichkeit, und es ist gar nicht selten, daß auch Fremde den Rat und die Hilfe des geheimnisvollen Mannes aufsuchen. Die Bergamasken, die ihn grenzenlos fürchten und grenzenlos verehren, gehen in allen Krankheiten zu ihm und warten an den Straßen, bis er mit seiner Tochter von der Jagd kommt. Besonders bewunderungswürdig sind die Kropfoperationen, die er an den Hirten vollzieht, um so mehr, als nie ein Patient unter seinem Messer geblieben ist, das er mit außerordentlicher Sicherheit haarscharf am nevus vagus vorüberführt.«

So schilderten die Zeitgenossen Markus Paltram und niemand war über die segensreiche Wandlung im Wesen des Gewaltigen glücklicher als Cilgia Premont.

Auch sie hat einen herrlichen Beruf gefunden – und ihr Bild lebt in einer jener zahlreichen Schriften, welche die begeisterten ersten Freunde des Engadins über ihre Eindrücke im hohen hellen Bergland hinterlassen haben.

Ein englischer Reverend schreibt:

»Auf den Rat unseres liebenswürdigen und gebildeten Gastwirtes, des engadinischen Dichters, Junkers Konradin von Flugi, ritten mir in Begleitung des Malers Ludwig Georgy über die Bernina. Im schönsten Haus des Fleckens wurden wir einer seltenen Frau vorgestellt. Sie hat eine unentgeltliche Schule für die Kinder des Ortes eingerichtet und ein Lehrer aus dem Institut Pestalozzis wirkt daran. Was in anderen Ländern nur mit Zögern und Zaudern und höchstens in den Städten zu stande kommt, ist hier in der Kluft der Gebirge schon blühendes Geschehnis. Es gibt eine Volksschule. Frau Premont, so heißt die Begründerin, ist selbst Erzieherin. Wir trafen sie mit einer Schar Mädchen in ihrem großen und wohlgepflegten Garten. Unter ihrer Anleitung versetzten die Mädchen, die alle hochabsätzige Soccoli und rote Schürzen trugen, Blumen. Sie zieht mit Hilfe der Jugend die herrlichsten Nelken, die je in einem Lande gesehen worden sind – handgroße Exemplare voll von leuchtendem Weiß, von goldenem Gelb, von prangender Röte, die seltenste Blume ist eine schwarze Nelke mit goldenem Tupf in der Mitte. Durch die Mädchen, die sie anleitet, ist die Blumenpflege in alle Häuser verbreitet worden, und der Podesta, den wir sprachen, versicherte uns, daß es sich nicht nur um den Schmuck des malerischen Fleckens handle, sondern daß die Bewohner aus dem Verkauf der Zwiebeln und Ableger der Blumen ansehnliche Gewinne zögen. Unternehmende Einwohner bringen jetzt geschnittene Blumen über die Bernina nach St. Moritz zum Verkauf, es ist ein schönes Verdienst der Frau Premont, daß in Puschlav ein ansehnlicher Blumenhandel entstanden ist, der vielleicht durch die steigende Zahl der Gäste von St. Moritz noch mehr Bedeutung erlangen wird.« –

Der Reverend schildert dann einen Abstecher ins Veltlin und kommt wieder auf Cilgia Premont zu sprechen.

»Auch auf der Rückreise begrüßten wir Frau Premont. Sie empfing uns in einem Zimmer mit zwei wertvollen alten Bildern.

Sie erzählte uns die rührende Geschichte derselben – sie wurde aber durch den Eintritt eines Jünglings, ihres Sohnes, unterbrochen. Wir fragten den wohlgebildeten Jungen, was er werden wolle.

›Arzt,‹ erwiderte er mit offenem Blick.

›Wie kommen Sie darauf?‹ fragten wir.

›Durch Markus Paltram!‹

Die Mutter verwies es ihm mit leichtem Spott als eine Unbescheidenheit, daß er sich von uns mit ›Sie‹ anreden ließ. Er entschuldigte sich und wir sahen das schönste Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Die merkwürdige Frau in der Enge der Berge hat seine Lateinstudien selbst geleitet, sie erzählte indessen, daß sie ihm nichts mehr geben könne und ihn ziehen lassen müsse.

Er will in Deutschland seine Studien fortsetzen.« – –

Es sind überaus ansprechende Bilder, die ersten Reiseberichte aus dem Engadin; aber eines Tages erschien, von einem deutschen Naturforscher geschrieben, eine furchtbare Anklage gegen Markus Paltram, den er auf einem Jagdausflug begleitet hatte.

Markus Paltram habe unter seinen Augen das Gewehr auf einen fremden Jäger angelegt und der Erzähler selber habe ihn nur mit Mühe an einem Mord verhindert.

Der Bericht des Naturforschers bestürzte im Engadin. Was da schwarz auf weiß vor aller Augen geschrieben stand, war doch viel ernster, als wenn das Volk bei der Lampe des Winterabends die Camogaskersage erzählte und einen blutigen Schein um das Haupt des grauen Jägers wob. Denn das geschah mit dem unbewußten Vorbehalt: es könnte eine Fabel sein!

Man empfand die Anklage des Naturforschers, des einzigen, der Markus Paltram je das Gewehr gegen einen Menschen hat erheben sehen, wie eine Beleidigung des wieder aufblühenden Thales. – Das war mehr als alle Meldungen der abergläubischen Bergamasken.

Und siehe da – das Engadin stand auf für seinen Retter.

»Markus Paltram, unser großer Jäger – der Retter – der Arzt!«

Langsam hatte sich das Urteil gewandt.

Er erschien seinem Volk wie die leibhaftige Verkörperung seiner herrlichen geheimnisvollen Berge.

Und wann hat je ein Volk auf seine Helden einen Flecken kommen lassen?

Während Markus zu der Anklage lächelte und schwieg, erhob sich das ganze Engadin, um sie als eine Verleumdung zu brandmarken.

Die Schweiz blühte in geistigem und wirtschaftlichem Aufschwung, und just, da der unerwartete Angriff auf Markus Paltram erging, sprach man von einem großen eidgenössischen Schützenfest, das die Stämme zwischen Boden- und Genfersee, zwischen Rhein und Bernina in gehobenen vaterländischen Gefühlen sammeln sollte.

Da war es Konradin von Flugi, da waren es die Männer des ehemaligen Jugendbundes, die den Gedanken in das Volk des Engadins warfen, daß man in großer Schar zum allgemeinen Feste ziehen wolle,

»Zeigen wir, daß das Engadin lebt – daß die Wunde nicht mehr blutet, zeigen mir unseren Miteidgenossen unsere blühende Jugend!«

»Und unseren großen Schützen! Bezeugen wir, indem wir ihn in unsere Mitte nehmen, daß wir nichts Ungerechtes an ihm sehen!«

»Markus Paltram, gebt uns die Ehre, daß Ihr mit uns zum Feste zieht! Wir geben das Banner in Eure Hand. Das ist die Genugthuung für den Schimpf von Madulein!«

Da wurden ihm vor Freude die Augen naß, und nach einiger Zeit des Bedenkens fügte er sich dem stürmischen Wunsche seines Volkes.

»Ich komme, damit Jolande ein schönes Andenken an ihren Vater habe, und wenn ihr mich für rein genug haltet, so bin ich es!«

Der ehemalige Jugendbund aber sammelte sich in einem neuen Verein, der » Liga grischia«, dem »Rhätischen Bund«, und verstärkt um viele, übte der Verein die Lieder Konradins.

Den romanischen Männergesang wollten sie vor dem Lande zu Ehren bringen.

Ludwig Georgy aber übernahm die malerische Ausgestaltung des Zuges. Auf drei reichgeschmückten Prachtwagen wollte man das Wild, den mächtigen Bär, den stolzen Adler, den gewaltigen Geier der engadinischen Berge zum Feste führen.

»Die übernehme ich,« sagte Markus Paltram, »die Gemsen schießt ihr – schießt so viele, daß wir einen Tag lang das Fest mit Gemsen bewirten können!«

Und allen war die Bernina frei.

»Nie habe ich einen Engadiner gehindert, daß er in der Bernina jage – wenn ihr nicht gekommen seid, so ist es eure Schuld!«


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