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VIII.

Die Freunde kamen zu Besuch nach Pontresina. Mit vielen schönen Worten redeten sie von ihrem Bund. Von einer Acla, einer Waldwiese, wanderte man gegen Abend nach dem Dorfe zurück, aß Brot und Milch, worauf die ganze Gesellschaft die Werkstatt Paltrams besuchte und darin in überschäumender Fröhlichkeit eine große Unordnung anstellte. Denn die Freunde schmiedeten und die Mädchen ließen neugierig das Wasserrad und den Blasebalg spielen. Und Cilgia brauchte sich über Markus nicht zu schämen, neben Luzius von Planta war er, obgleich nur Büchsenschmied, der Jüngling mit den besten Formen des Umgangs, und in der Macht der Erscheinung kam ihm keiner der jüngeren Freunde gleich. Aber auch ihnen war sie dankbar, denn sie begegneten Markus mit großer Artigkeit und Herzlichkeit. Es spürte eben jeder, daß er ein Besonderer und kein Kleiner war. Das Köstlichste aber schien Cilgia, daß niemand von den Freunden merkte, wie nahe ihr Markus stand, obgleich sie dann und wann mit ihm einen verstohlenen Blick herzlichen Einverständnisses gewechselt hatte.

O, was ist es Schönes um so eine heimliche, glückliche Liebe! Niemand wußte darum, nur die thörichte wilde Pia. Ihre Raubtieraugen fragten verwirrt: Wie kann man einen so entsetzlichen Menschen wie Paltram lieben? Sie fürchtete ihn wie das Schwert Domino Clas, des Scharfrichters, und folgte jedem seiner Worte mit hündischem Gehorsam. –

»Wenn du nicht still hältst und nicht thust, was ich dir sage und dir zeige, wird die Schulter nie wieder so gesund, daß du deinen Bruder besuchen kannst!«

Cilgia mahnte die Widerspenstige wie schon oft.

»Doch – doch, zu meinem guten Bruder Orland in Hamburg muß ich einmal gehen,« knirschte Pia und duldete, daß ihr die freiwillige Pflegerin mit sanftem Strich und Druck so, wie es Paltram ihr gewiesen, über die wehe Schulter fuhr. Im Kampf gegen die reißenden Schmerzen tastete sie mit der unsicheren Linken nach den Gegenständen, meist Dingen aus der Werkstatt Paltrams, die auf ihrer Decke lagen, hielt sie, hob sie, senkte und schwenkte sie und ahmte mit ingrimmiger Festigkeit die Bewegungen und Handgriffe nach, die ihr Cilgia mit aufmunternden Worten vormachte. So übten sie am Morgen eine halbe Stunde und eine halbe Stunde am Nachmittag.

Erschöpft schlummerte Pia ein.

Mit warmer Teilnahme betrachtet Cilgia die jugendliche Schläferin.

Sie ist ein tolles Ding, die Pia. In der niederen, doch vom Ansatz des schwellenden, schwarzen Haares schön gezeichneten Stirne haben nur wenige Gedanken Raum, aber die wenigen sitzen darin wie die Vögel im Nest und beherrschen sie. Es sind besonders diejenigen, die ihr die alte Wahrsagerin auf der Landsgemeinde eingegeben: sie würde arm und ledig bleiben, ihr Bruder aber reich und geachtet werden! Unmittelbar vor dem Unglück hatte sie einen Brief von ihm erhalten, worin er schrieb, er sei bis Hamburg gewandert und habe auf einem Schiff eine Anstellung gefunden. Den Brief hielt das Mädchen, das kaum lesen konnte, unter dem Kopfkissen geborgen, sie durchging seine paar Zeilen täglich wohl zehnmal und schöpfte daraus die Gewißheit, daß sich alles so ereignen würde, wie es die Alte prophezeit hatte.

»Dann aber, wenn mein Bruder einmal reich und geachtet ist, will ich ihn besuchen und sein Glück sehen. Wie wird er sich freuen, wenn ich komme!«

Das war der Anfang und das Ende ihrer Träume.

In der Ueberzeugung, daß sie nicht mit einer schlechten Schulter vor ihren Bruder treten dürfe, fügte sie sich in die Behandlung, obgleich sie in ihrer seltsamen Verstocktheit, mit der Wut ihres Eigensinns dabei blieb, daß niemand als Markus Paltram die Schuld an ihrem unglücklichen Sturze trage.

»Du häßliche Ratte,« zürnte Cilgia, »wie kannst du nur so denken! Willst du wirklich auch mich einmal beißen, wie du zu Samaden gesagt hast?«

»Natürlich werde ich Euch einmal beißen,« versetzte Pia und ließ ihre Augen, die Worte bekräftigend, funkeln.

Cilgia wußte nicht, sollte sie lachen oder zornig sein. »Was habe ich dir denn zuleide gethan, Pia?«

Und mit guter Laune streichelte sie das schwarze, glänzende Haar der Bösartigen.

»Nichts. – Ihr tragt aber schöne Kleider und ich Lumpen, und wenn ich gesund bin, muß ich auf die Alpe steigen. Ihr aber könnt daheim sitzen und Euch fallen keine Geißen zu Tode.«

So grollte das wilde Kind.

»Du Heidin!« Aber umsonst mühte sich Cilgia, Pia etwas vom milden Sinne des Christentums beizubringen, die hohen Gedanken gingen nicht in die niedere Stirn, und als sie ihr erzählte, wie Katharina Dianti ihrem unmenschlichen Peiniger mit übermenschlicher Liebe gelohnt habe, erwiderte Pia, die scheinbar mit aufmerksamem Verständnis zugehört hatte, kaltblütig:

»Das hat die schon können, die war ja reich.«

Die Anhänglichkeit an ihren Bruder war der einzige holdselige Gedanke, der hinter dem reizvollen Lärvchen Pias wohnte.

Cilgia aber lebte in dem Glücksgefühl, daß vom Lager Pias ein verklärender Strahl auf ihre Liebe falle.

»Was sollte vom Waldteufel Gutes kommen?« antwortete zwar Markus lachend, als sie ihm eines Tages ihre Gedanken verriet; aber er selbst versäumte nichts, was Pia diente. Und der Erfolg kam – nicht von Tag zu Tag, aber von Woche zu Woche, wie es Markus vorausgesagt hatte.

»Pia, die blutrünstigen, bunten Flecke sind fast ganz verblaßt und vergangen,« jubelte Cilgia, »und die mißliche Schulter, das sieht man, wird wieder so schön wie die andere – freust du dich nicht, Pia?«

»Ich habe schon im voraus gewußt, daß Paltram das kann – wozu ist er ein Camogasker? – wozu habe ich die vielen Dummheiten machen müssen?«

Sie war unverbesserlich, die braune Hornisse.

Pfarrer Taß kam ein paarmal an das Krankenbett Pias, und zur Freude Cilgias setzte er großes Vertrauen in die Kunst Paltrams. Mit ihm das Dorf – nur wenige rümpften die Nase – es war, wie der Pfarrer sagte: »Das ganze Engadin spannt auf den Ausgang. Man mußte bis jetzt nichts anderes, als daß, wer die Schulter brach, ein armer Tropf geblieben ist.« –

Cilgia führte die Kranke, die den Arm in einer breiten Schlinge trug, schon seit manchen Tagen zur Bank am Thor von Santa Maria empor.

»Denn auch die Sonne ist ein Arzt,« hatte Markus gesagt.

Eines Abends aber, als Cilgia Pia durch das Gelände heimwärts begleitete, stand Markus wohl wie sonst im Lederschurz unter der Werkstattthüre, aber nicht mit dem glücklichen Gesicht, mit dem er jetzt die Entgegenkommende oft begrüßte.

»Was ist geschehen, Markus?« fragte Cilgia.

»Der junge Gruber ist dagewesen und hat das Gewehr geholt, das der Alte bestellt hat,« versetzte er gedrückt, »und er ist dann nach dem Pfarrhaus gegangen.« Da errötete Cilgia und nahm mit einem guten Ausdruck der Vertraulichkeit seine Hand.

»Thorheiten, Markus, deswegen brauchst du doch nicht eifersüchtig zu sein – Markus, höre!«

Ihre Augen strahlten ihn an.

»Es sind jetzt so herrlich reine Tage und ich möchte, ehe Schnee fällt, noch einmal hinüber nach Puschlav gehen, um am Grabe meines Vaters zu beten und nach unserem Haus zu sehen. Nun meine ich, es wäre sehr schön, wenn du mich bis auf die Berninahöhe begleiten würdest. Wir würden früh von Pontresina weggehen und hätten dort oben, wo die kleinen Seen liegen, schöne Rast, denn ich würde unseren alten treuen Knecht Thomas, der das Haus zu Puschlav hütet, erst für abends vier Uhr auf den Paß bestellen. Markus, komm mit mir in die große, weite Einsamkeit des Gebirges, dort können mir so recht von Herz zu Herzen miteinander reden!«

Er antwortete nicht.

»Gelt, du schenkst mir den Tag von deiner Arbeit weg?« bettelte sie.

»Ja, mit tausend Freuden!« kam es endlich und verspätet von seinen Lippen, und wie von einem Wunder überströmt, stand er in seinem Lederschurz.

In dunkeln, stürmischen Wallungen empfand Markus Paltram das Glück des unendlichen Vertrauens, das in ihren Worten und Augen lag, er spürte es wie Erlösung und Erhöhung; denn daß sie bei dem Liebesgeständnis von Santa Maria die Stirne seinem Kuß entzogen, hatte ihn später doch wie eine demütige Erinnerung ans Rosegthal beschwert.

Jetzt wußte er, daß Cilgia nur aus Mädchenstolz zurückhaltend gewesen war.

»Also, Markus, ein fröhliches Gesicht – eben so ein glückliches wie jetzt – wir wandern!«

Mit schlichter Güte sagte sie es, und nun schritt das herrliche Mädchen dem Dorfe zu. Markus Paltram aber machte für diesen Tag Feierabend.

Denn das Glück ist ein Fest.

*

»Cilgi« – so kürzte der Pfarrer ihren Namen gemütlich – »ich habe dem jungen Gruber das Geleite nach Samaden gegeben; es thut mir leid um den jungen Mann! Er hat so eine hübsche männliche Art, gute blaue Augen, und ich glaube, wenn du ihn jetzt gesehen hättest, hätte er dir besser gefallen als zu Fetan. Der kurzgeschnittene blonde Bart steht ihm wohl an, und wenn er auch im Reden etwas trocken ist, so klingt doch sein Lachen gut.«

»Und eben die Trockenen mag ich nicht leiden,« versetzte Cilgia mit leichtem Spott, »aber sagt, wie hat Euch das Gewehr gefallen, das ihm Paltram geliefert hat?«

Der Pfarrer lächelte üb«r den Seitensprung ein wenig hinter den Stockzähnen.

»Es ist ein Prachtstück,« antwortete er indes eifrig. »Paltram wird diesen Winter eine Menge Aufträge erhalten.«

»Daß wir kaum mehr Zeit haben, die Schulter der Pia zu flicken,« fiel Cilgia lustig ein.

»Er geht seinen Weg gut,« versetzte der Pfarrer. »Euer Handel von Fetan – das neue Gewehrschloß – seine Heilkunst – alles hat ihn bekannt gemacht und empfiehlt ihn, und seine Bubenstreiche von Madulein geraten darüber in Vergessenheit.«

»Und daß er jetzt jeden Sonntag zur Kirche kommt, ist hübsch von ihm,« folgte Cilgia übermütig dem Tonfall des Pfarrers.

»Du Schelm, du!« Und wie um sie zu strafen, fuhr er fort: »Ich würde an deiner Stelle den jungen Gruber gar nicht so leicht nehmen; es hat mir leid gethan, daß ich ihn, wenn auch mit gutem Wort, in deinem Namen hoffnungslos abweisen mußte.«

Etwas in der Stimme des Pfarrers ließ Cilgia ernst aufhorchen.

»Er war so traurig,« berichtete der Pfarrer, »daß es ihm fast die Thränen aus den Augen preßte; besonders weil ich ihm dringend geraten habe, dich nicht sehen zu wollen, da er sich den Stachel nur tiefer treibe.«

»Onkel, es ist ein Elend, geliebt zu werden, ohne daß man wieder liebt,« antwortete sie erregt. »Der junge Gruber erbarmt mich!«

»Die Gabelfanggeschichte ist das einzige, was gegen ihn vorliegt. Ist sie wahr, so ist sie ein schwerer Makel an seiner Ehre. Aber die große Frage ist noch: 'Ist sie wahr?'«

»Und wenn sie ganz erfunden wäre, würde ich ihn doch nie lieben!« versetzte Cilgia bestimmt.

Der Pfarrer schaute sie fragend an.

»Onkel, ich liebe einen anderen,« sagte sie errötend und zögernd.

»Du Heimlichthuerin!« Und nun war der Pfarrer in Spannung wie seit langem nicht mehr. »Konradin von Flugi? Sein Vater, der Landammann, hätte nichts dagegen, ich weiß es, er hält große Stücke auf dich.«

»Konradin von Flugi hat sein verliebtes Herz schon an jemand geschenkt,« erwiderte Cilgia schalkhaft.

»Du weißt mehr Geheimnisse aus dem Engadin als ich – ist es der tüchtige Fortunatus Lorsa?«

In lebhafter Bewegung drängte der Pfarrer zur Antwort.

»Es ist nicht Lorsa, obgleich ich ihn unter den Freunden von Fetan am ehesten lieben könnte und er mir zehnmal willkommener wäre als Gruber. Es ist auch nicht Andreas Saratz, der mir zu langsam und froschblütig in Thun und Denken ist. Auch nicht Luzius von Planta, der mit seinen zwanzig Jahren schon so glatt wie ein Gesandter redet und so feine Unterschiede wie ein alter Richter macht. Ich habe sie als Freunde wohl alle gern – –«

Ungeduldig fragte der Pfarrer:

»Es wird doch nicht Paltram sein, dem hast du ja das Jagdstück nie verziehen?«

Cilgia zögerte.

»Sage mir, daß er es nicht ist – es thäte mir leid!«

Eine Ahnung ging durch den Kopf des Pfarrers – am Bette Pias hatten sich die beiden ja täglich gesehen.

»Doch, es ist Paltram,« flüsterte Cilgia ernst und senkte das erglühende Haupt.

Der gemütliche Pfarrer stand hastig auf und maß mit schwerem Schritt das Zimmer.

Peinvolles Schweigen herrschte zwischen den beiden und man hörte die alte Wanduhr mit schwerem Schlage ticken.

»Onkel, sprecht doch,« bat Cilgia inständig.

Da stand er vor ihr still.

»Weißt du, wie du mir vorkommst, Kind?« sprach er mit rotem Kopf. »In Oesterreich unten hat man die Lotterie – tausend verlieren, damit zehn gewinnen – und einer gewinnt den großen Preis – du aber spielst ein gefährlicheres Lotto! – Du spielst nur auf den großen Preis und neben ihm liegen nur Nieten. – Niemand im Engadin zweifelt daran, daß Markus Paltram ein außerordentlicher Mann ist, er beschäftigt das Volk wie keiner, er kann, wenn er ganz erwacht ist, in Gutem oder Bösem ein Großer werden – aber was er ist, weiß zur Stunde niemand.«

»Ich spiele auf das große Los« – erwiderte Cilgia sehr ernst, »aber mit reichen Hoffnungen!«

Sie schaute ihn mit der ganzen Wärme und Fülle ihrer großen schönen Augen an.

Da trat Pfarrer Taß, der sonst das Salbungsvolle nicht liebte, vor seine Nichte und legte die ausgestreckte Rechte auf ihren Scheitel.

»O Cilgia, Cilgia – möge deinem Haupte kein Leid widerfahren!«

Sie war in tiefer Bewegung verstummt.

»Das verstehe ich,« sagte nach einer Weile der Pfarrer ruhiger, »wer sich an Paltram wagt, kann Sigismund Gruber, den trockenen, nicht lieben. Wenn man solch einen liebt, dann gibt es kein Zurück. Die Frage ist nur: Führt er dich zum höchsten Glück oder ins tiefste Leid? Ich fürchte die Camogaskersage – warum, das weißt du!«

Cilgia aber erzählte ihm, wie sich ihr gegenseitiges Geständnis bei Santa Maria zugetragen hatte.

Der Pfarrer traute seinen Ohren nicht. »Paltram geht sein Leben lang nicht mehr auf die Jagd?«

»Es ist sein heiliger, großer Eid,« bekräftigte Cilgia, und der Pfarrer schritt im Gemach auf und ab.

»Ein Eid – es ist ein Eid, den nur ein Uebermensch halten kann! Ich fand mit dir auch schon, daß die Jagd sich nicht recht zum Pfarramt reimt, denn jeder Jäger ist ein Stück Paltram, aber Paltram ist der leidenschaftlichste Jäger, den ich je gesehen habe. Hält er sein Versprechen sechs Wochen, so ist er der stärkste Mann des Engadins. Drum sage ich: Cilgia, baue zwar dein Glück auf diesen Fels – sechs Wochen noch, Cilgia, sei aber vorsichtig gegen ihn!«

»Er wird den Eid halten,« versetzte Cilgia gläubig, »und ich werde es ihm leicht und süß machen. Glaubt mir, Onkel, er ist kein Statzersee, er ist nur eine Seele, die Sonne braucht – ich will sie ihm geben.«

Sie sagte es mit einem Antlitz, in dem das Vertrauen zu Himmel und Erde stand.

Als sie aber dem Pfarrer auch noch den Reiseplan darlegte, da schüttelte er den Kopf.

»Uebe Geduld, Kind – es gefällt mir gar nicht, dich mit ihm einsam auf der Berninahöhe zu denken.«

Vorsichtig und gelassen sprach er.

Cilgia schmieg einen Augenblick, ein Ton seiner Rede hatte sie da getroffen, wo ihr Gemüt am empfindlichsten war.

Dann flammten ihre Augen auf.

»Was haltet Ihr von mir, Onkel? Bin ich nicht Cilgia Premont? – Paltram ist eine Feuerseele – aber Ihr hattet ihn bei Pia sehen sollen – er war rein wie der Tag! Und ich habe es ihm schon versprochen und kann nicht zurück.«

Es war etwas in ihrer Rede, was den Pfarrer schlug – aber ruhig wurde er nicht.

»So geh in Gottes Namen!« sagte er und brütete vor sich hin, was sonst nicht seine Gewohnheit war. –

Und es kam der Wandertag.

Die Morgennebel lagen schwer und dicht zwischen den Bergen, so daß man die Hand vor Augen nicht sah und nur die das Grau durchdringenden Töne der Saumglocken es verkündeten, daß doch etwas Leben auf dem rauhen, holprigen Wege herrschte.

Markus Paltram trug seinen einfachen, sauberen Sonntagsstaat, dazu den halbhohen steifen Hut; Cilgia hatte einen leichten hellbraunen Pelzmantel umgeschlagen und ein Mützchen auf die Zöpfe gesetzt, was ihr lieblich und vornehm stand.

So schritten sie durch das stumme, frostige Grau, in dem nichts die Gedanken vom nächsten abzog.

Markus sprach von seinen großen Erfolgen als Gewehrschmied.

»Wie bist du denn eigentlich darauf gekommen, Büchsenmacher zu werden, Markus?« fragte sie plaudernd.

»Das ist mir angeboren,« erwiderte er. »Ich glaube, als ich die ersten Höschen trug, baumelten mir auch schon die erste Gewehrschnalle und die ersten Flintenschloßstücke in der Tasche.«

»Bitte, Markus, erzähle mir einmal deine Jugend,« bat Cilgia.

Und siehe, der sonst so verschlossene junge Mann, aus dem über seine Vergangenheit nichts herauszubringen war, sprach gegen sie mit offener Freude, ja wie aus innerem Drang. Sie lohnte seine Bereitwilligkeit mit einem süßen Blick.

Er erzählte von seiner schönen, doch verbitterten Mutter, deren hohen Sinn weder der Vater noch sonst jemand im Dorfe verstanden und nur ihr ahnungsreicher Aeltester erfaßt hatte,

»Sie nahm mich,« berichtete er, »oft mit beiden Händen am dunklen lockigen Kopf und vergrub ihre Augen in die meinen und lachte mit ihren blanken Zähnen: 'Märklein – Märcklein, geh nicht in die Stuben und horche, was die Leute reden – geh du lieber an die Wasser und in den Wald!'

»Und da mir niemand so klug wie meine Mutter schien, ging ich. Doch nie am Morgen, ehe sie sich die Wangen rot gewaschen und sich gekämmt hatte. Denn die Mutter sich waschen und sich kämmen sehen, war mein Morgengebet. Ich setzte mich auf einen Schemel, faltete die Hände, war ganz still und schaute meine Mutter an. Die Flut ihrer dunklen Haare, die ihr bis auf die Kniee reichte, umgab sie wie ein Mantel, und wenn der Kamm durch sie glitt und eine Spalte öffnete, so schimmerte daraus ein Frauenantlitz, daß ich meinte, es gäbe kein schöneres unter dem blauen Himmel, und ihre Augen waren so dunkel wie die Nacht zwischen den Waldstämmen. Es war ihre glückliche Stunde oder halbe Stunde, wenn sie sich kämmte, und sie nahm sich gern Zeit dazu. Ohne meiner Gegenwart zu gedenken, erhob sie dann ein Selbstgespräch, und durch den schwarzen, glänzenden Mantel flüsterten ihre Worte geheimnisreich zu dem kleinen Buben, der jedes auffing und bewahrte. Sie muß, ehe sie meinen Vater nahm, in tiefster Stille mit einem reichen Bauernsohn von Scanfs verlobt gewesen sein, der sie verließ. Denn ihre Lippen flössen über von Menschenverachtung, von harten Worten gegen den zu Scanfs, von scharfen Urteilen gegen die Nachbarsleute. Dann fuhr sie fort: 'Aber mein Märklein, mein Märklein ist ein kluger Bursch – er wird der erste zu Madulein – nein, er muß Landammann des Engadins werden – mehr' – – doch das kann ich nicht sagen, was sie weiter sprach! Sie nahm mich mit einer Gewalt in die Arme, daß ich laut hätte aufschreien mögen, und zog mir mit einem langen Kuß den Atem aus der Seele.«

Mit keinem Wort unterbrach Cilgia die Beichte Paltrams.

Da fuhr er fort: »Vom Innersten meiner Mutter genährt, wuchs ich auf, ich war sie selbst, soweit ein Bube seine Mutter sein kann, ich liebte, was sie liebte, ich verachtete, was sie verachtete, und wagte alles, weil ich ihres Beifalls gewiß war. Sie half mir gegen den Vater, sie half mir gegen das ganze Dorf, das ich mit meinen Streichen erschreckte.«

»Eins vor allem möchte ich wissen,« sagte Cilgia. »Ist es wahr, daß du einmal einem verbrannten Mädchen die Schmerzen gestillt hast?«

Aller Sonnenschein war aus dem Gesicht Paltrams gewichen – er schwieg und seufzte.

»Es ist wahr,« antwortete er nach einer Weile. »Ich entdeckte eine Kraft in mir, die sonst niemand im Thale besaß. Ich erschrak – ich freute mich, meine Mutter mit mir – und sie sagte mir Tollheiten ins Ohr, die ich nicht wiederholen mag. Ich sog das süße Gift mit Begierde ein – ich fragte nichts nach Gott und Teufel – ich sah nur jeden heimlich darauf an, ob er meinem Auge unterliegen würde; ich sperrte mich scheinbar, an die Betten der Kranken zu treten, aber ich hätte gewollt, das ganze Engadin wäre elend und ich könnte hintreten und sagen: ›Du darfst keine Schmerzen leiden,‹ und es mit Händen und Augen zwingen.«

Cilgia seufzte. Beklommen schritt sie neben ihm. »Ich wußte aber auch,« fuhr er düster fort, »daß ich etwas that, was nicht sein sollte, denn jedesmal, wenn ich meine Kunst übte, fühlte ich mich nachher wie zerschlagen – und am elendesten, wenn sie versagte. Es war eine Kunst für Schwächlinge und arme Tröpfe; als ich mich auch an starke, willensfeste Männer wagte, unterlag ich und verwünschte die Gabe. Meine Mutter indessen berauschte sich daran, ihr zu Gefallen übte ich die geheimnisvolle Kraft.

'Ich ertrage diese Augen am Tisch nicht mehr,' sagte mein Vater.

'Merkst du nicht, daß er heimliche Kräfte hat?' erwiderte meine Mutter.

Streitigkeiten mit meinem Vater trieben mich nach Frankreich. Ich wußte nicht, was ich von meiner Kunst halten solle, und habe sie in St. Etienne an den Gesellen noch manchmal aus Prahlerei geübt. Unser Atelier hatte einen regen Instrumentenverkehr mit Spital und Lazarett; meine von früher her große Teilnahme für Krankheitserscheinungen erwachte, ich wurde mit meiner geschickten Hand der Lieblingsgehilfe des Professors Lagourdet.

Ihm offenbarte ich eines Tags meine geheime Kunst und zeigte sie ihm an Kranken. Schon meinte ich, ich führe ihn zu einer großen Entdeckung, er aber sagte: 'Markus, die Kunst ist uralt; ob es der Wissenschaft gelingt, etwas Kluges daraus zu machen, ist unsicher! Sicher ist nur eines: es ist eine verbrecherische Handlung, sich des Willens eines anderen so zu bemächtigen, daß der Zwang die Gesetze der Natur, zu denen auch der Schmerz gehört, in Leib und Seele des anderen aufhebt. Thue es nicht mehr, Markus, wirf dich nicht zusammen mit den Gauklern und Betrügern, die von den Chaldäern an bis zu den arznenden Schwindlerinnen in Paris die dunkle Gewalt des Willens mißbraucht haben. Denn die Natur rächt die Verbrechen, die an ihr begangen werden. Und es wäre für dich schade, mein Junge, wenn du eines Tages dein eigenes Opfer würdest! – Wahnsinn oder Verbrechen, das ist das Ende dieser Kunst.'«

So erzählte Markus.

»Und an Pia hast du sie doch wieder geübt!« versetzte Cilgia gepreßt und vorwurfsvoll. »Versuche sie nie an mir, Markus, sonst würde die Liebe zum Haß!«

Da fiel ein blasses Licht in die Nebel, durch die sie wanderten, zwischen rauchenden Wolken drang die Sonne herein, duftige Höhenbilder, Berge und Spitzen schwebten in abgerissenen Stücken phantasmagorisch durch das Grau.

Plötzlich stand vor ihnen in Sonne und Glanz das Bild des Morteratsch.

Cilgia aber, die über die Beichte des Geliebten ängstlich geworden war, blickte in ein glückliches Gesicht.

»Nein, Cilgia, glaube mir, wenn ich dir diese Dinge erzähle, so ist es, weil ich vor dir offen sein möchte wie ein Buch, weil ich dir Vertrauen mit Vertrauen vergelten, weil ich dich bitten möchte, daß du mich aus den Nebeln meiner Jugend an die Sonne führest! Ich möchte gut werden, Cilgia, wie du bist! Schau mir in die Augen, Cilgia ...« und er nahm ihre beiden Hände und staunte begeistert in ihr schönes Gesicht. »Nein – nein! Deine Augen voll Tag und Licht sind stärker als ich – ich sage dir ja, es sind nur Schwächlinge, die schon einen kranken Keim in sich tragen, die dieser blöden Kunst erliegen, du aber bist stark, meine herrliche Cilgia! Du bist gesund – und du sollst mir deinen Willen geben – nicht ich dir den meinen! In deiner Liebe begrabe ich die unselige Kraft. – O, Cilgia, hilf mir – ich habe auf der weiten Welt niemand als dich!«

Die Erregung beider war so tief, daß sie die Schönheit der Landschaft nicht sahen, die sie umgab. Sie standen an jener Stelle, wo das Engadin sein schönstes Wasserspiel entfaltet. Zwischen dunklen Tannen und Arven hervor rauscht der Berninabach mit Wellen so klar wie Glas, zerteilt sie zwischen grün überwucherten Felsen und wirft die strudelnde Klarheit, schneeige Strähnen und Bündel, in die trübe Eismilch des Baches, der vom ganz nahen Morteratschgletscher kommt.

Das Liebespaar schreitet über den schmalen Steg, in der Mitte aber hält Cilgia an und faßt die Hand des Geliebten.

»Siehst du das Wunder, Markus?«

Auf den blauen Schwaden des Nebels, in die sich der Doppelbach geheimnisvoll verliert, steht der Schatten des schwankenden Steges, und auf dem Schatten stehen ihre Schatten, um ihre Häupter aber schwebt wie eine Glorie das Sonnenrad.

»Die Sonne – die Sonne – sie spannt uns in den gleichen Reif des Lichts!« So jubelt Cilgia. »Und wie uns die Sonne eint, so wollen wir in ihrem Licht zusammenbleiben!«

Sie lehnte ihr Haupt an seine Schulter und er küßte ihre Stirn und sie litt es errötend.

Vor ihnen aber liegt der Morteratschgletscher in der Pracht des milden Herbsttages und hinter ihm flammt schneeweiß der Piz Bernina in das tiefe Blau des Himmels. Ein überirdisches Licht fällt von seinen Schneewänden auf den Gletscher, der in einem fleckenlos reinen Halbkreis von Winterbergen wie ein Gebilde des Märchens ruht.

In mächtigen Burgen blauen Eises steigt er auf zu Isola Persa, der verlorenen Insel, und umspannt sie, und neben ihr baut sich eine wunderliche Stadt von Eis, mit Giebeln, Spitzen, Bogen und Brücken und gähnenden Gassen, und weißes und azurnes Licht traumwandelt durch das Schweigen der Zauberwelt.

Stumm ergeben sich die Liebenden dem mächtigen Eindruck des Bildes und stehen eng beisammen.

Da geht ein gewaltiges Rollen durch die Burgen der Stille, fast ein Donnerhall.

»Der Gletscher redet,« sagt Markus.

»Geliebter, kennst du die Sage, die darin fortzittert von der Zeit zur Ewigkeit?« fragt Cilgia zärtlich und ernst.

»Ich kenne sie – doch höre ich sie gerne von deinem lieben Mund,« erwidert er.

Sie aber antwortet:

»Alle, die sich lieben, sollten an den Gletscher pilgern und sie sich ins Gedächtnis rufen. Höre, Markus!«

Sie haben sich auf einen sonnbeschienenen Block im Angesicht des Gletschers gesetzt.

Und Cilgia erzählt:

»Wo jetzt der Gletscher donnert und seufzt, lag die schönste Alpe des Engadins. Der junge Hirt Aratsch, der darauf seine Herde hütete, liebte ein schönes reiches Mädchen von Pontresina. Ihre hartherzigen Eltern aber duldeten diese Liebe nicht. Da zog Aratsch, nachdem ihm das Mädchen das Versprechen ewiger Treue gegeben hatte, als Söldner in die Dienste Venedigs. Auf einem Schiff kämpfte er gegen die Türken, er wurde in kurzen Jahren Hauptmann, und der Anteil an den Beuten machte ihn reich. Mit großen Ehren gab man ihm, als seine Zeit abgelaufen war, den Abschied. Als er aber mit seinen Reichtümern wieder nach Pontresina kam, war das Mädchen die Braut eines anderen. Er ließ alle seine Habe im Stich, ging auf die Alpe und niemand sah ihn wieder. Die Maid aber fand keine Ruhe. In Mädchenschönheit schritt sie bergauf, bergab über die Alpe, sie klopfte an die Hütten an: ›Habt ihr meinen Aratsch nicht gesehen?‹ Gütig segnete sie die Milch der Sennen, und selbst nach ihrem Tode wandelte sie noch viele Jahre in sanfter Anmut und leiser Klage. Eines Tages aber wies ihr ein hartherziger Senne die Thür. Nun glaubte sie an den Tod des Geliebten und sagte: ›Wohl, so will ich zu ihm niedersteigen und die Alpe mag vergehen!‹ Da donnerten in der Nacht die Berge, die stürzenden Gletscher deckten die Weide und bauten aus Säulen von Eis ein Grabmal über die Liebenden. Dort bei der Insel Persa ruhen sie in wunderbar blauer Kluft auf einem Felsblock; die Bäche, die Orgeln des Gletschers klingen um sie, Musik füllt die Hallen und das Herz der Maid mit unendlicher Wehmut, denn sie weiß nicht, wie nahe sie dem Geliebten ist. Einmal aber wird ihr Gott in seiner Güte doch Erlösung aus der Sehnsucht geben. Doch nur einen kurzen, kurzen Tag wird die Alpe wieder grün und dürfen die Liebenden wandeln. Denn am anderen Tag ist Weltuntergang.«

Cilgia schwieg in tiefem Ernst und heißer Empfindung.

Eine Lohe innerer Glut stand in den schwarzblauen Augen Paltrams.

»O Cilgia, Cilgia – wie die Maid von Pontresina müßte ich dich suchen und mein Name in den Gletschern untergehen, wenn ich – – –«

»Sprich das schreckliche Wort nicht!« flehte Cilgia. Sie zog ihn an sich und ihre Lippen fanden sich im ersten Kuß der Liebe.

Das Glück führte sie hinweg vom Gletscher, im Herbstsonnenschein zwischen mächtigen Bergen das schöne Berninathal empor. Sie schritten, ohne daß sie es achteten, im Gleichmaß der Bewegung wie im Rhythmus eines Liedes.

Ist die junge, hoffnungsreiche Liebe nicht ein Lied?

Sie kamen zum Berninahaus unter den himmelhohen Mauern der Diavolezza – der Teufelshöhe.

Ein verwildert aussehender Mann stand unter der Thür und grüßte.

»Es ist der Vorgesetzte der Weger,« sagte Markus, »er hat einen schweren Posten. Mit den Seinen kämpft er sich, wenn Unglück in den Bergen lauert, Tag und Nacht durch Schnee und Sturm – er warnt – er rettet.«

»Und wenn du nur so ein wilder Weger wärest, Markus, der sein Leben in die Schanze schlägt, wäre ich schon stolz auf dich!« versetzte Cilgia.

Da hallte an den Felswänden ein Schuß wider.

»Siehst du dort, Cilgia, auf dem äußersten Vorsprung der Diavolezzafelsen steht ein Jäger. Er schwenkt den Hut – er hat einen glücklichen Schuß gethan.«

Eifrig sprach es Markus.

»Thut dir das Herz nicht weh, daß du nicht der Schütze bist?« fragte sie ihn voll Spannung.

Er sah sie frei und offen an. »Einst war es mein liebster Gedanke, daß ich mein Leben lang jage und dann den stolzen Jägertod finde, den Tod einsam im Gebirge. Und Jahre hindurch kommt kein Mensch – endlich vielleicht ein Jäger – er findet ein Gerippe – ein Gewehr, und nachdem er alles untersucht hat, spricht er: ›Das ist Markus Paltram. – Gott habe dich selig, Kamerad!‹ – Jetzt aber möchte ich etwas anderes: recht lange, lange glücklich leben mit dir, Cilgia!«

Sie hatten die Paßhöhe erreicht. Vor ihnen stand in Herrlichkeit, unter einem Himmel wie eine Enzianenglocke, ein drängendes Heer kühner Felsengipfel, das italienische Gebirge.

Es war um die Mittagszeit, und auf der Höhe wechselten die Säumer von Nord und Süd ihre Grüße, und die Pferde, die sich kannten, wieherten sich zu.

Cilgia und Markus aber schritten den Steinplattenweg, der sich zwischen den seltsamen Hochgebirgsseen hindurchzieht.

Unschlüssig und gottverlassen liegen die Wasser in der furchtbaren Oede des nackten Gesteins und werfen zitternde Ringe um die Blöcke, die aus ihren Fluten ragen. Der eine See ist hell, der andere dunkel, sie heißen der Weiße und der Schwarze, aus dem hellen fließt ein Bach und seine Wellen ruhen, wenn sie genug gewandert sind, im Schwarzen Meer, aus dem Schwarzen See strömt wieder ein Bach und seine Wasser gehen in die blaue Adria.

Doch sonderbar! – Ein Lüftchen weht über den Paß und sein Säuseln genügt, daß die Fluten des einen Sees unter den Platten des alten Schicksalswegs in die Fluten des anderen Sees schlagen, und die ins Schwarze Meer hätten wandern sollen, gehen zur Adria und die Adriawasser fluten wegen eines Windhauchs ins Schwarze Meer.

Wenn der Tag noch so hell und sonnig über die Oede der Paßhöhe zieht, die Berge wie Lichter stehen, so liegt doch etwas wie geheimnisvolle Schicksalsstimmung über den Seen, denn so leicht wie hier oben Meer und Meer sich scheiden, scheiden sich Glück und Unglück.

Auf dem uralten Pfad, der sie trennt, zogen Herren nach Süden und kehrten als Bettler wieder, Bettler wanderten nach Norden und kehrten als Herren nach dem Süden – siegreiche und geschlagene Heere zogen die Straße.

Daran denkt das junge Paar nicht, das den Gesteinsweg schreitet. Es geht den einsamen steinichten Weg am Südhang der Bernina und erreicht Sassal Masone, die menschenferne Bergaltane, neben der vom weißen Gebirge herab furchtbar jäh der Palügletscher mit herrlich schillernden Brüchen herunterhängt und ununterbrochen in Eisstürzen grollt, die prasselnd in die Tiefe gehen.

Von Bergamaskern errichtet, steht am Rand des Gletschers eine kreisrunde Steinhütte mit gewölbtem Dach, und Jäger und Hirten haben sie mit allerlei Tierschädeln geschmückt, gebleichte Pferde- und Kuhköpfe, Gems- und Fuchsschädel grinsen aus den Mauern und von der Spitze des Hauses.

Man kann wohl glauben, ein Urvolk habe einst an dieser Stelle den Göttern blutige Opfer gebracht.

»Ich kenne Sassal Masone seit meiner ersten Jagd,« sagt Markus, – »über den Gletscher hin geht, eine halbe Stunde zu steigen, ein Gemsenwechsel zu einer Lecke grad jenseits des Eises.« – – –

Aber er hat eine unaufmerksame Zuhörerin. »O Markus,« unterbrach ihn Cilgia, »sieh meine Heimat, mein Puschlav, dort liegt es tief wie eine Ewigkeit unter uns, in seinem Kessel lacht es wie ein in die Hölle versunkenes Paradies, mein Dorf am blauen See – und o Schönheit! – durch die dunkle Kluft hinter dem Dorf strahlt die Madonna di Tirano, wie ein Funke glänzt das Muttergottesbild, der Gruß des Veltlins. Und siehst du dort das große Dach links hin im Dorf? Das ist mein Haus – und einmal dein Haus, Markus!«

Wie zwei Kinder staunen sie hinab in den grünen schönen Schlund.

»Fürchte also nicht. Liebster, daß ich ganz arm sei,« fährt Cilgia fort; »wohl hat mein Vater, wie jedermann weiß, durch den Veltliner Raub das meiste verloren, aber, Markus, es ist genug da, damit, wenn ich es eines Tages in deine Hände lege, du ein freier Mann bist, der sich zu kehren weiß.«

»Cilgia, habe ich je danach gefragt?« antwortet er mit leichtem Vorwurf. »Ich schlage mich mit dir gewiß durch die Welt!«

»Es ist doch wertvoll,« erwidert sie.

Sie streiten und zuletzt küssen sie sich.

Und nun hangen beider Augen wieder am schimmernden Dach von Puschlav. Es winkt wie das gelobte Land – eine Oase des Friedens – eine Oase des Glücks.

In der Sonne selig sind die Liebenden und schmieden in der großen stillen Einsamkeit des Gebirgs Pläne der Zukunft.

Viel zu früh kommt Thomas mit den Pferden auf die Berninahöhe, aber er kommt.

Markus steht, grüßt und grüßt Cilgia, so lange er im Abendlicht einen Schein der Reitenden erhaschen kann.

Als er sich umwendet, erblickt er ein Rudel Gemsen.

Sie sprengen davon.

Er aber spricht: »Ihr närrischen Tiere – was fürchtet ihr Markus Paltram?«

Er wirft einen Blick in die blauen Abendtiefen von Puschlav:

»Behüte und begleite dich Gott, meine liebe, herrliche Cilgia!«


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