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IV.

Der Gast aus Tirol ist da und hat von Cilgia schon seinen Uebernamen bekommen. Den »Erzvater« nennt sie ihn im stillen bei sich.

Sein schwerer, prunkender Gurt mit dem reichen, silbergetriebenen Schmuck und die Thaler, die er statt der Knöpfe am Rocke trägt, haben ihren Widerspruch geweckt.

Mit rollender Baßstimme, die seinem Bericht ein eigenartiges Gewicht und Ansehen gab, erzählte Gruber.

»Ja, und so ist's halt gegangen. Wie's auf allen Kirchen stundenlang gestürmt hat, da sind auch meine zwei Buben mit den Büchsen davongeeilt. Es war wohl so Pflicht. Der Aeltere, der Frau und Kind hat, ist zur rechten Zeit wiedergekommen – aber der Sigmund, das Büberl, nicht.«

»Das Büberl?« warf Cilgia drollig ein. »Er ist ja ein großer, starker Mann.«

Der Alte streichelte den breiten, grauen Bart, der die Brust bedeckte, sah sie mit einem verwunderten Blick an, als mißbillige er die Unterbrechung, der Pfarrer lachte für sich und Cilgia that, als bemerke sie den Tadel in den von schweren, dreizackigen Brauen verschatteten Augen, die Furchen auf der mächtigen Stirne Grubers nicht, und blickte ihn mit ihren schönen, großen Augen schelmisch zutraulich an.

Da fuhr er fort: »Das Büberl, sage ich, Fräulein, weil er der Jüngste geblieben ist. Und mein Bub ist er halt sein Lebtag, sogar wenn er siebzig wird. Also, wir sitzen eine Nacht auf, zwei, warten auf ihn, beten, die Alte und ich, und je länger, je ängster ist uns worden. Und die Toten haben sie gebracht von Finstermünz herauf, Tag und Nacht, und wenn wieder eine Fuhre gekommen ist, so haben sie das Glöcklein geläutet. Ich und meine Alte haben bei jedem neuen Stoß gedacht: Jetzt bringen's ihn. Und der Pfarrer ist gekommen und hat gesagt: ›Lorenz Gruber, ich thäte die Kerzen für den Sigismund anzünden, er ist unter den sechs gewesen, die am Inn hinauf versprengt worden sind. Er wird ins Standrecht gekommen sein und wo er ruht, das weiß der im Himmel.‹ Dämlich ist mir worden und die Kerzen haben wir um sein Bett angezündet und doch keinen Toten gehabt.«

Der Erzähler mit seinem gemütswarmen Ton gefiel Cilgia immer besser. Nein, Lorenz Gruber war kein Protz – und teilnahmsvoll ruhten ihre Blicke auf dem derben Gesicht, das so viel Wärme nicht vermuten ließ.

»Ich liege so die vierte Nacht, schlafe nicht, denke an den Sigismund, wo ihn wohl der Boden deckt, die Alte schüttet in des Buben Kammer dem Herrgott ihr Herz aus und ich denke g'rad': Es nutzt dir nichts! Da pocht es an die Thüre: ›Mutter! Mutter!‹ – Es ist der Sigismund. Wir ziehen den Buben in die Stube, er hat den Kopf verbunden, die Wangen glühen im Fieber wie Rosen, aber er lebt. Geweint hat die Alte vor Freude. Drei Wochen ist er dann noch gelegen, ruhelos und sinnlos hat er geredet und ich und meine Alte haben gesagt: ›Irre ist er worden von dem Vielen, was er erlebt hat.‹ Wie er aber wieder zu Verstand gekommen ist, hat doch alles Sinn gehabt, was er in den Fiebern zusammengeschwatzt hat. – Und was hat er geredet, Fräulein?« unterbrach der Erzähler sich selbst und sah Cilgia vielsagend und mit gutem väterlichen Blick an; sie aber erhob sich etwas unsicher, machte sich mit dem Geschirr auf dem Tisch zu schaffen und war zum Rückzug in die Küche bereit.

Da legte Gruber seine schwere Pranze auf ihre leichte Hand. »Geht nicht, Fräulein, thut mir das nicht zu leid; ich bin ja eigens wegen Euch ins Engadin gekommen!«

Wie artig dieser alte Tiroler Bär bitten konnte, wie die gescheiten Augen aus dem verwetterten Gesicht leuchteten! Und jetzt reichte er ihr aufstehend die Hand.

»Ich will keine großen Geschichten machen, Cilgia. – Ich kann nicht gut ›Fräulein‹ sagen, aber – –«

Da bebte die tiefe Stimme des Alten unsicher. Er ließ ihre Hand los und wandte sich ab und eine feierliche Stille entstand.

»Es geht mir halt, wie's meinem Buben gegangen ist,« sprach er, indem er sich gefaßt zurückwandte, »er hat gesagt, es sei ihm noch kein Muttergottesbild im Tirolerland so lieblich erschienen wie Ihr.«

Cilgia wußte nicht, wohin blicken vor Scham und Verlegenheit.

Der schwerfällige Gruber tappte zu seiner Geldkatze, schloß sie auf und wandte sich wieder an sie:

»Darf ich Euch das geben, Cilgia, es ist eine Arbeit des Goldschmiedes Iffinger in Innsbruck. Ich habe ein paar Worte für Euch dareingraben lassen.«

Und in seinen klobigen Fingern hielt er ihr ein kunstreiches Halskettelchen mit einem Medaillon hin, öffnete es behaglich, und sie las: »Cilgia Premont zum Andenken an eine Rettung in Fetan. Der dankbare Vater: Lorenz Gruber.«

Sie wurde rot, dann blaß, aber als er ihr die Kette mit väterlicher Freude um den Hals legen wollte, wehrte sie ihm:

»Es geht nicht, Herr Gruber, ich danke Euch vielmal, aber ganz bestimmt lehne ich das Geschenk ab.«

»Ihr weist es ab?« grollte Gruber, und der Pfarrer mußte seiner Nichte zu Hilfe kommen.

Er meinte, er habe seiner Lebtag nichts Fröhlicheres erlebt als den Kampf zwischen dem alten Schwerenöter und der fröhlichen Nichte. Denn man sah es Gruber wohl an, daß er eigentlich nur zu befehlen gewohnt war und sich verwunderte, wie ein so junges Mädchen mit ihm zu spielen und ihm zu widersprechen wagte, aber er war ganz vernarrt in sie.

Sie war in gründlicher Verlegenheit und mußte einen Mann, den sie zuerst in Mädchenübermut zu leicht gewogen, ernst nehmen.

»Zwingt mich nicht, Herr Gruber,« und in ihren Augen blitzte es; »ich würde Euch und mir selbst böse, wenn ich Euch nachgäbe. Verderbt mir die Erinnerung an Euch nicht durch ein aufgedrängtes Geschenk.«

Dabei blieb's – der stolze Gruber mußte Kettelchen und Medaillon wieder in seine Geldkatze stecken.

Er murrte und grollte, sie aber heftete ihm eine Nelke ins Knopfloch und der Pfarrer verging fast vor Wohlgefallen an den beiden.

»Herr Gruber, Ihr seid daheim gewiß ein strenger Herr, aber Ihr seht, ich bin so ein loser Vogel, den man nicht an ein Kettelchen legen kann.«

Sie sprach es so lustig, daß er lachen mußte, und ihr in die sonnigen Augen blickend, sagte er: »Ja, die habt Ihr noch wie zu Puschlav!«

»Haben wir uns zu Puschlav schon gesehen? Ihr kommt mir auch so bekannt vor,« fragte sie neugierig und ernster.

»Ja, ich besuchte einmal auf der Durchreise Euern Vater, den Podesta. Ich habe Euch gut in der Erinnerung.«

»Das ist merkwürdig,« sagte Cilgia mit schelmischem Erstaunen, »so ein dummes Kind wie ich damals war!«

»Eben das war't Ihr nicht,« lachte der Tiroler. »Ich kam vom Gasthaus, die Lampe brannte auf Eurem Tisch, der Herr Podesta las und Ihr schriebt lange Rechnungen auf dem Papier. Ihr war't, während wir redeten, sehr ernst, sehr fleißig. ›Cilgi, es ist Zeit, daß du zur Ruhe gehst,‹ sagte Euer Vater. Ihr legtet ihm das Papier hin, ein Gutenachtkuß, wir plauderten weiter und während des Gesprächs prüfte Euer Vater die Arbeit. Da strecktet Ihr nach einer Weile noch einmal den Kopf durch die Thüre: ›Vater, stimmt's?‹ – ›Ja, ja, Kind, du hast ganz gut dividiert,‹ antwortete er, eine drollige Kußhand noch, und verschwunden war't Ihr.«

»Wie Ihr aber das alles noch genau wißt!«

»Das ist kein Wunder, Cilgia. – Ihr kamt mir damals wie eine kleine Hexenmeisterin vor. Wißt, der alte Gruber setzt seine Hunderttausende im Jahr um, ohne daß er auf dem Papier rechnet. Vor denen, die's können, hat er aber gewaltigen Respekt!«

»Wer führt Euch denn die Bücher?« fragte Cilgia.

»Das ist das ganze Buch,« sagte Gruber und strich sich über die breite, hohe Stirn, die in eine leichte Glatze überging. »So lange es hält, ist es gut, aber nachher – ja, da kommen meine Buben nicht mehr draus. Den Wirrwarr möcht' ich nicht mit erleben.«

»Ich behielte nicht so viel im Kopf,« meinte Cilgia.

»Ihr habt halt anderes drin! In drei oder vier Sprachen wechselt Ihr die Unterhaltung wie unsereiner Hut und Pelzkappe – das habe ich damals an dem kleinen Jüngferchen auch schon gesehen. Ich aber habe, wenn ich ins Italienische komme, Mühe, mit den Händlern das Dringendste zu parlieren. Es haut mir's nicht.«

»Es ist nicht unser Verdienst,« antwortete Cilgia fröhlich, »daß wir Bündner mit den Sprachen leidlich durch die Welt gehen, sondern Gottes Güte. Kennt Ihr die Geschichte?

Als Gott die Welt erschaffen hatte, sandte er einen Engel aus, damit er den Samen der Sprache unter die Völker streue. Doch weil die Welt so weit ist, wurde es, bis der Engel über das Bergland flog, dämmernder Abend und er sah die Menschen in den tiefen Thälern nicht. Am Morgen entdeckte Gott ein stummes Volk und er sandte den Engel zum zweitenmal aus, daß er auch diesem eine Sprache gebe. Doch siehe, wie der Engel auch über den Bergen hin und her schwebte und in seinem Sack wühlte, waren doch nicht mehr genug Körner für eine ganze Sprache da, nur einzelne Samen von denen, die er am Tag vorher zu freigebig verteilt hatte. In seiner Not schüttelte er diesen Rest in die Thäler, und die Bündner begannen, wie eben der Wind die Samen geweht, in allerlei Sprachen zu reden. Und sagte der Bergeller am heißen Sommertag ›Fa caldo‹, so fuhr der Davoser auf: ›Was kalt? – willst du mich verhöhnen – warm ist's heute.‹ Sie begannen zu streiten, wer recht habe, und weil jeder nur seine Sprache verstand, ging der Zank im Bergland nie aus. Das jammerte Gott, in seiner großen Güte wollte er aber auch den Engel der Sprache, der den Wirrwarr angestiftet, nicht kränken und sandte darum heimlich in der Nacht einen zweiten Engel aus, damit er das Werk des ersteren verbessere. Und der legte jedem Schläfer in den Hütten ein Korn auf die Lippe. Das enthielt die Kraft, die Sprache der anderen wie Spiel zu lernen und zu verstehen. Und das Volk lernte und verstand, und es ist also nicht unser Verdienst, Herr Gruber, sondern Gottes Güte, daß wir mit mehreren Sprachen leidlich durch die Welt gehen.«

Halb scherzhaft, halb ernsthaft und mit glänzenden Augen erzählte ihm Cilgia das alte Märchen.

Der alte Lorenz Gruber sagte: »Haltet zu gut, Cilgia, für das Fabulieren habe ich den Sinn nicht; es mag ja wohl für die schön sein, die es verstehen – aber Rechnen und Sprachen schätze ich, weil man damit auf dem Markt leichter zu Gulden und Dublonen kommt.«

»Ihr seid aber ein Trockener,« spottete sie.

»Ja, das sind wir allesamt auf dem Suldenhof. Das Gewerbe und das Geldzählen verstehen wir, in Kisten und Kästen haben wir's auch. Und eben deswegen habe ich eine Idee.«

Er blinzelte Cilgia so gütig, so wichtig und vielsagend an, daß sie unruhig wurde.

»Herr Gruber,« sagte sie lachend, »es ist draußen Sonnenschein – gegessen und getrunken haben wir – möchten wir jetzt nicht ein wenig spazieren gehen? Ihr wißt es vielleicht, daß der junge Büchsenschmied, der Euren Sohn über das Sesvennagebirge geführt hat, auch hier im Dorf wohnt – wollen wir ihm nicht Grüß Gott! sagen?«

»Bin ich einmal in Pontresina, so gehört es wohl zum Anstand,« erwiderte der alte Gruber kühl und kratzte sich im Haar.

Um einem zu vertraulich werdenden Gespräch die Spitze abzubrechen, war sie auf den Vorschlag verfallen, mit ihm den Besuch bei Paltram zu machen; vielleicht suchte sie auch selbst eine unverfängliche Gelegenheit, einmal einen Blick in die Werkstatt des Schmieds zu werfen.

Auf der Straße legte sie zutraulich ihren Arm in den des Gastes.

Das gefiel dem Alten über die Maßen, und stolzer war der gewaltige Mann mit dem silbernen Gurt und dem wallenden Bart wohl noch nie mit seinem schweren, langsamen Bärenschritt durch ein Dorf gegangen.

»Habt Ihr etwas gegen Paltram, daß Ihr seiner noch mit keinem Wörtchen gedacht habt?« fragte Cilgia.

»Das nicht,« erwiderte Gruber gelassen. »Es kränkte mich nur, daß er damals nicht in unser Haus getreten ist, obgleich er vor der Thüre stand; er hätte nicht so stolz zu sein brauchen. Denkt, wir haben nicht einmal gewußt, wie er hieß, bis ich ins Engadin kam.«

Da begegnete ihnen der Tiroler Bursche, der gestern die Schar der Heuer und Heuerinnen angeführt hatte; er zog auf einem Schlitten, wie sie im Gebirgsland auch im Sommer als Lastfuhrwerke üblich sind, ein Fuder Heu und grüßte verlegen. Ebenso knapp war der Gruß Grubers. »Der Mann sprach heute früh mit mir von Euch,« versetzte Cilgia.

Da zuckte der alte Gruber merkbar zusammen – er faßte sich aber und sagte gleichgültig:

»Es ist ein von mir entlassener Knecht, den ich ein paar Jahre zu lange im Hause gehabt habe – man kennt ihn unter dem Namen des Langen Hitz weit und breit. Zur Arbeit ist er tüchtig wie kein anderer, sonst ein Erzgalgenvogel.«

Im Lederschurz und dunkel bestaubt von der Arbeit trat ihnen Markus Paltram, der junge Handwerker, stolz und bescheiden zugleich entgegen.

Cilgia stand etwas abseits von den Sprechenden und beschaute eifrig eine Zeichnung des Büchsenschmieds.

»Was wird denn das, Paltram? Ich werde nicht klug aus dem Riß.«

»Es ist eine Erfindung eigener Hand, Fräulein – ein neues Doppelgewehrschloß – einfacher und zuverlässiger, als man es bis jetzt hat.«

Und er erklärte ihr den sinnreichen Mechanismus.

Lorenz Gruber horchte seinen Worten mit Spannung zu und erwärmte sich sichtlich für Markus Paltram.

»Hört,« sagte er plötzlich, »verfertigt mir ein Gewehr nach diesem neuen Plan – für die Franzosen, wenn sie wieder ins Tirol einbrechen!«

Und Cilgia half ihm, den mißtrauischen Schmied, der in dem Auftrag ein Dankgeschenk witterte, zu bestimmen, daß er an die Ausführung gehe.

Ihrer Ueberredung gelang es.

Nach dem Besuch schritt sie mit dem alten Gruber gegen Santa Maria empor.

Aber ihr Gast war auffällig still.

»Wie gefällt Euch Paltram?« fragte sie.

»Das ist's eben, worüber ich nachdenke. Er ist anders, als Sigismund ihn mir beschrieben hat – ich glaubte, sein Führer sei ein ganz geringer Vagabund – nun ist es ja einer, dem man es von weitem ansieht, daß er im Leben vorwärts kommen wird.«

»Glaubt Ihr das wirklich, Herr Gruber?« fragte Cilgia, lebhaft über das Lob erfreut.

Da stand er still und sagte mit großem Selbstgefühl:

»Ich schaue eine Tanne nur ein einziges Mal an, dann weiß ich, was sie wert ist, und anders halte ich es nicht mit den Leuten. Ein Blick, und sie sind abgeschätzt. Wartet, bis dieser Paltram Oberluft hat – der wird ein Mann, daß es eine Freude ist.«

Endlich ein gerechtes Urteil! dachte Cilgia und lächelte vor Vergnügen.

Sie waren bei Santa Maria angekommen und setzten sich dort auf die Bank am Thor.

Der alte Gruber räusperte sich mehrmals, als steckte ihm etwas im Hals, dann sagte er ernst:

»Ich habe so eine Idee, Cilgia. Wenn meine Buben dazuschauen, so fehlt's ihnen nicht an Geld und Gülten. Ich habe aber auf meinen vielen Reisen auch gemerkt, daß das nicht alles in der Welt ist, und darum thäte es mich halt gefreuen und wäre mein Ehrgeiz, wenn ich auf den alten kernhaften Gruberstamm ein frisches Zweiglein setzen könnte, so etwas Feines, Herrenmähiges – so ein liebes Wesen wie Euch! Das gehört zum Geld und gibt dem Hause Ansehen.«

Cilgia brannten die Wangen – sie dachte an Flucht. Lorenz Gruber aber nahm ihre Hand.

»Der alte Gruber macht nicht wegen jeder eine so weite Reise, wie Euretwegen – – und Ihr dürft ihm schon Rede und Antwort stehen. – Mein Büberl ist vernarrt in Euch – der Vater ist's auch – und weil der Herrgott es in Fetan so wunderbar gefügt hat und Ihr mir als kleines Mädchen schon so gut gefallen habt, sagt nicht Nein, Cilgia – werdet meine Schwiegertochter – wir werden Euch auf Händen tragen!«

Mühsam und bewegt sprach es der alte Mann.

Cilgia senkte zuerst die Augen, hob sie dann wieder und schaute ihm ruhig und fest ins Angesicht.

Ernst, doch freundlich sagte sie:

»Herr Gruber, ich danke Euch. Glaubt aber nicht, daß ich mich nur ziere, wenn ich Euch mit einem festen Nein antworte. Es ist mir ernst – ich bringe noch keine Heiratspläne in den Kopf.«

Sie sagte es halb verzweifelt, sie schaute ihn innig vertrauend und lieb an; ihre Augen baten, daß er sie verstehen möge.

Der alte Gruber aber schluckte und schluckte.

»Hat Euch der Lange Hitz etwas Nachteiliges von uns gesagt?« grollte er halb zornig, halb gedrückt.

»Nein, gewiß nicht.« Und Cilgia sah ihn erstaunt an.

Gruber fühlte es, daß seine Bemerkung eine Erklärung forderte.

»Mein Sigismund,« sagte er, »ist ein braver und wackerer junger Mann, nicht gerade ein Stadtherr, aber doch sehr ansehnlich von Gestalt. Er ist tüchtig im Geschäft und tragt dem Gulden und dem Kreuzer Sorge, ohne ein Geizkragen zu sein. Ich habe aber den Fehler begangen, daß ich ihn zu früh unter die Knechte gab. Da hat ihn der Lange Hitz zu thörichten Jägergeschichten verführt, wie sie etwa unter Holzhackern, wenn die Leute wochenlang sich selbst überlassen bleiben, gepflegt werden. Darauf jagte ich den Langen Hitz fort, und nun habe ich wohl nicht mit Unrecht den Verdacht, daß er mit seinem frechen Mundstück den Suldenhof nicht lobe.«

Nur mit Pein sagte es Gruber.

»Ich liebe die Jagd nicht,« bemerkte Cilgia. »Das kommt von meinem Vater her.«

Da lächelte Gruber: »Sigismund habe ich die Lust dazu ausgetrieben – ich bin gegen meine Buben scharf wie ein Messer, wenn mir an ihnen etwas nicht gefällt.«

»Das glaube ich,« erwiderte Cilgia, »aber lieb könnt Ihr gewiß auch mit ihnen sein.«

»Daß ich's kann, Cilgia, da seid sicher! Ich möchte es meinem Sigismund von Herzen gönnen, wenn er ein feines, gutes Weib wie Euch bekäme. Und heute, als ich Euch sah, da war es mein höchster Wunsch, daß Ihr mir eine gütige Antwort gebt. Und nun lautet sie so!«

Der alte Gruber sagte es herzlich betrübt. Dann sah er Cilgia wieder hoffnungsvoll an:

»Oder darf ich Sigismund doch einmal zu Euch nach Pontresina senden?«

Cilgia antwortete mit leisem Kopfschütteln. Eine Weile darauf sagte sie: »Wir sollten, denke ich, ins Pfarrhaus zurückgehen!«

Sie zerbrach sich den Kopf, wie sie den alten Mann, den sie hatte enttäuschen müssen, fröhlicher zu stimmen vermöchte.

Als er sich zum Abschied rüstete, bestürmte er sie noch einmal, daß sie doch das Kettelchen mit dem Medaillon annehme, er werfe es sonst in den nächsten Bach.

»Damit Ihr nicht glaubt, daß ich ganz ungehorsam sei,« sagte sie plötzlich in alter Schelmerei, und er legte es mit seinen klobigen Händen um ihren schönen Hals.

»Ich habe schon gedacht, daß Ihr gegen einen alten Mann nicht hartherzig sein könnt.«

In herzlicher Freude schüttelte er ihr die Hände mit so kräftigem Druck, daß sie meinte aufschreien zu müssen.

»Geb's Gott,« sagte er feierlich, »daß Ihr Euch auch im anderen und wichtigeren noch zu uns wendet. Auf Wiedersehen, liebe Cilgia!«

Als er mit dem Pfarrer jenseits des Berninabrückleins verschwunden war, ging sie, wie jeden anderen Abend, beim Kirchlein Santa Maria die Pfarrersziegen abzuholen.

Aber sie war in gärender Erregung.

Nein, nein – es lebte nichts in ihrer Brust, was für den Flüchtling von Fetan sprach. Soviel sie damals zu erkennen vermocht hatte, war er ein junger Mann, wie Hunderte im Lande umherlaufen, wohlgewachsen, blaue Augen, hübscher blonder Schnurrbart. Nichts sprach für ihn, als daß er dieses Vaters Sohn war.

Und sie liebte ihre Freiheit und Unabhängigkeit.

Während sie so überlegte und träumte, kam von seiner Hütte her Paltram. Er hatte seinen Schurz abgelegt, trug Halbsonntagsstaat und über dem Rücken das Gewehr.

Er überraschte sie mit seinem »Guten Abend, Fräulein Premont!« und als sie den Kopf hob, sagte sie mit einem Lächeln der Verwirrung: »Wie sich das trifft, ich habe eben an Euch gedacht.« Sie errötete ein wenig über ihre Worte. »Sagt, seid Ihr mit dem jungen Gruber unartig gewesen, als Ihr ihn über das Sesvennagebirge führtet? Das habe ich mich vorhin gefragt.«

»Gewiß nicht,« sagte Paltram nähertretend, »nur einmal ist mir ein böses Wort entfahren – eins, das ich nicht bereue!«

»Erzählt doch,« bat Cilgia.

»Wenn Ihr, wie man ja vielleicht aus dem Besuch des Alten erraten kann, den jungen Gruber lieb habt, dann ist es nichts für Euch. Ihr wäret mir später gram,« versetzte er düster.

»Ihr dürft herzhaft erzählen,« sagte Cilgia. »Kommt, wir gehen etwas den Waldrand entlang.«

Sie nickte ihm ungeduldig ermunternd zu.

»Drei Tage,« erzählte Markus Paltram, »lag Gruber in schweren Fiebern zu Scarl; am vierten schleppte ich ihn vorsichtig über die noch schwer im Schnee begrabene Scharte, und jenseit der Höhe, auf einem Vorsprung, machten mir Halt. Tief unter uns lag in seiner Heide das Dorf Mals. Da sagte der Tiroler: ›Dort unten wohnt ein guter Freund meines Vaters, geht dort nur hinab und meldet im Herrenhaus, bei Baron Mont, daß ich da oben liege. Er wird schon für mich sorgen.‹«

»Baron Mont – er war einmal im Institut zu Fetan und ich mit a Porta einmal in Mals,« unterbrach Cilgia den Bericht des Büchsenschmieds.

»Ja, der Baron möchte die Malserheide gern in Wiesen und Aecker verwandeln,« versetzte Markus Paltram. – »Wir ruhten ein wenig und sahen in unserer Nähe an schneefreiem Hang ein Rudel Gemsen, die an einem nahen Felsen leckten. Ich sagte halb für mich: ›Das wäre ein Schießen!‹ Da antwortet der Fiebernde verwirrt: ›Da könnte man die Gabel stellen‹ und sah mich listig an. Ich antwortete: ›Bist du so ein Hund?‹ Und mit unserer Freundschaft war es aus.«

Heftig schleuderte Paltram die letzten Worte heraus.

Erschrocken sagte Cilgia: »Von dem allem verstehe ich nichts. Aber, wie ich höre, habt Ihr ihn dann doch bis ins Suldenthal begleitet.«

»Er war Euer Schützling – und so rasch mein Blut ist, so wohl kann ich mich zähmen – ich ging bis an die Hausthüre des Suldenhofes mit – – dem Gabeljäger –«

In seinen Augen funkelte der Camogaskerglanz – eine peinvolle Stille entstand – erst nach einer Weile brach er sie:

»Ihr seht, Fräulein Premont, ich hätte nichts sagen sollen; aber wenn Ihr hört, was die Gabel ist, werdet Ihr meinen Zorn verstehen.«

»Es ist gewiß etwas Entsetzliches?« fragte Cilgia kleinlaut.

»Die Gabeljäger,« erzählte Paltram ruhiger, »sind die traurigen Tröpfe, die vor den Salzlecken mit Pfosten und Stricken eine breite Leiter befestigen und die Gemsen darin fangen. Die ersten Tage fürchten die Tiere das Gerät, aber wenn sich in der weiten Runde nichts rührt, so nähern sie sich doch salzlustig, betrachten die Gabel, gehen wieder fort, kommen aufs neue, werden vertrauensselig, die keckste stellt sich auf die Hinterfüße, steckt den Kopf vorsichtig in das oberste weiteste Viereck der Leiter, leckt am Felsen und kann den Kopf ganz wohl zurückziehen, da die Hörner in dieser Stellung stark nach rückwärts liegen. Andere folgen ihrem Beispiel. Ist das Salz in der Höhe erschöpft, so zwängen sie, unvorsichtig geworden, den Kopf in die mittleren und unteren Vierecke, die enger sind, ja oft dann noch, wenn sie ihn schief legen müssen, um überhaupt durchzukommen. Zurückziehen können sie ihn aber, wenn sie einmal zwischen den unteren, eng zusammengestellten Sprossen sind, nicht mehr; sie bleiben an den nach rückwärts gekrümmten Hörnern hängen, werden wahnsinnig vor Angst und gehen oft in einigen Stunden schon zu Grunde, wenn nicht vorher der Schandbube kommt und die Sterbenden mit einem Knüppel erschlägt!«

»Und das triebe ein Sohn Grubers, unser Flüchtling von Fetan?« Cilgia war blaß vor Empörung.

»Ich beschwöre es nicht,« erwiderte Paltram vorsichtig, »ich habe nur aus seiner Fieberrede den Verdacht geschöpft.«

Sie aber schloß aus den Andeutungen Lorenz Grubers über den Langen Hitz, daß es sich so verhielte – ein Schatten fiel damit auf einen Namen, den sie seit ein paar Stunden ehrte, und sie schwieg in peinvollem Nachdenken.

»Manche Gabelsteller,« fuhr Markus Paltram, seinen eigenen Gedankengängen folgend, fort, »erwarten das Abschwächen der Tiere nicht, sondern sie nähern sich, sobald sich die Gemsen verfangen haben. Die ausgestellte Gratwache pfeift, dann reißen die Tiere in ihrem Wahnsinn so stark an den Sprossen, daß sie ihre Hörner abbrechen und frei werden. Sobald Gemsen mit abgebrochenen Hörnern durch ein Revier laufen, so wissen die Jäger, was es zu bedeuten hat. In allen Berglanden aber besteht ein ungeschriebenes Recht und geht vom Vater auf den Sohn, nämlich, daß der Gabelsteller der Kugel des ersten Jägers, der ihn trifft, verfallen ist.« Scharf und erregt sagte es Markus Paltram.

»Würdet auch Ihr auf ihn anlegen?« fragte Cilgia zag.

»Auch ich,« antwortete Paltram ruhig und fest.

Da vergaß sich Cilgia, sie erhob sich, in heißer Erregung nahm sie seine Hand in ihre zitternde Rechte.

»Schaut mich an, Paltram; von Fetan her bin ich Eure Freundin und kein Mensch auf der Welt meint es besser mit Euch.« Ihre Stimme bebte. »Ich möchte Euch an ein höheres Ziel weisen, als daß Ihr eines Tages beladen mit dem Gericht Gottes und des eigenen Gewissens aus den Bergen kommt!«

Mild, fast demütig, mit der Glut einer jungen Seele mahnend, stand sie neben ihm, mit beredterem Auge als Wort.

»Fräulein Premont,« keuchte er und seine Blicke verschlangen die schöne Gestalt.

»Hört, Paltram! – Ihr seid auch ein ruchloser Jäger! – Sagt, kann man mit ruhigem Gewissen in das Auge eines Tieres zielen? – Furchtbar! – Mir kriecht es kalt über die Brust! – Das Herz einer Gemse, das eben noch heiß und lustig geschlagen, soll plötzlich still stehen! – Und meint Ihr nicht, die Tiere erheben ihre Augen ebenso freudig zu den strahlenden Schneegipfeln wie wir? – Nein, wißt, ihr Jäger alle zusammen habt ein schlechtes Gewissen, das bezeugen eure Sagen! Ihr glaubt eine Gemse in den Bergen zu schießen, durch ein Wunder aber trifft die Kugel die Schwester oder Braut, die friedlich zu Haus am Spinnrocken sitzt.«

Markus Paltram staunte wortlos in das flammende Mädchengesicht. – Wer spricht so zu ihm? – Ihm ist, über seine Seele ergieße sich Licht.

Aber er lacht bitter: »Seht, Fräulein Premont, es ist gewiß gleichgültig, was ich thue. ›Camogasker!‹ schreit man mir in die Ohren, wo ich gehe und stehe. Das Heimweh hat mich aus der Fremde heimgetrieben, doch der erste Gruß, der mich empfing, war: ›So, ist der Camogasker auch wieder da?‹ Was sagt Ihr dazu, Fräulein?«

Einen Augenblick besann sich Cilgia. Dann sagte sie voll Güte und feierlich: »Besiegt diesen Fluch, Markus Paltram!«

Da färbt sich sein Gesicht dunkelrot.

»Ich habe den Welt- und Menschengroll zu früh, schon als Kind eingesogen,« stößt er hervor, »er ist in mir wie ein Gift! Ich bin wahrhaftig ein Camogasker!«

Es lag nicht Zorn oder Hohn, nein, ein Schmerzensschrei lag in seinen Worten.

Cilgia aber sagte sanft: »Kommt, ich will Euch eine Geschichte erzählen. – Ihr könnt daraus etwas lernen. – Es ist eine Geschichte, um die Ihr mich einmal gebeten habt. – Oder drängt Ihr, in den Wald zu gehen?«

»Nein – nein!«

»Gut, dann setzen wir uns da an das Waldesbord. Es ist die Geschichte der ersten protestantischen Pfarrerin von Pontresina – ich habe eine Freude daran, obgleich ich vom Vater her Katholikin bin.«

Sie setzten sich an den Rand des Waldes. Ueber fernen Felsenzähnen ging die Sonne als ein blutroter Ball unter. Die rechtsseitigen Linien der Bernina glühten in einem Diamantensaum, die linksseitigen waren in der Blässe des Lichts kaum zu erkennen und die Schneefelder wiesen je nach ihrer Lage Töne wie blühenden Pfirsich und wie die grünliche Blässe eines Totengesichts.

Und Cilgia begann mit eigenartig gesenktem Ton:

»Es war in der bewegten Zeit der Reformation. Da suchte Paolo Vergerio, der früh durch seinen Glaubenseifer zum Bischof von Capo d'Istria vorgerückt war, das Lob Gottes darin, daß er die Ketzer der istrianischen Städte vertilgte. Zu Rovigno lebte die vornehme Familie der Dianti und besuchte die protestantischen Versammlungen. Ausgerüstet mit einem Brief des Papstes, der ihm das Recht erteilte, im ganzen Gebiet Venedig die Ketzer aufzuspüren und mit den Werkzeugen der Inquisition zu verfolgen, brach Vergerio in den heimlichen Gottesdienst ein und nahm alle, die daran teil hatten, gefangen, darunter die Familie Dianti. Unter der Folter bekehrten sich viele, andere blieben standhaft und starben für ihren Glauben, so Vater, Mutter und zwei Brüder der jungen, schönen Katharina. Das kaum erblühte Mädchen aber jammerte Vergerio, doch seine Beredsamkeit zerschellte an ihrer Festigkeit. Da wütete er gegen sie und die Henkersknechte drückten ihr die glühenden Eisen in Stirn und Arme und sie sollte verbrannt werden. Vergerio verging in Wut über die Widerspenstige und in Mitleid über ihre Jugend. In der Nacht aber, da der Feuerstoß, auf dem sie verbrannt werden sollte, auf dem Marktplatz schon geschichtet war, weckte ihn eine Stimme: ›Paolo Vergerio, was verfolgst du eine Gerechte?‹ Er schrak auf, und unter dem Vorwand, daß er versuchen wolle, ihr die Beichte abzunehmen, begab er sich ins Gefängnis. ›Du bist frei – ziehe, fliehe!‹ Und er selbst führte sie die Schleichwege durch die Stadt auf ein Schiff. Auch er selber floh. Lange hörte man nichts mehr vom Bischof Paolo Vergerio, der Zierde der venetianischen Priesterschaft. Da flogen aus den Städten der Lombardei unerhört heftige Druckschriften gegen das Papsttum durch Italien. Paolo Vergerio! Den Krummstab des Bischofs hatte er mit dem Haken des Setzers und der Schraube des Buchdruckers vertauscht, und in der Nacht leitete er mit dem alten Feuer der Beredsamkeit protestantische Gemeinden. Verfolgt und verbannt kam er nach Sondrio, später nach Puschlav als Buchdrucker, und sein Ruf als protestantischer Prediger überstieg die Berge. Die Leute von Pontresina, die wohl von der neuen Lehre gehört hatten, aber nicht wußten, wie sich dazu stellen, schickten Boten an Vergerio und ließen ihn bitten, daß er zu ihnen komme und sie ihnen erkläre. Er folgte dem Ruf, und nach der zweiten Predigt hoben die Leute des Dorfes, im neuen Glauben geeint, die silberne Monstranz vom Altar und die Bilder von den Wänden und warfen sie vom alten steinernen Brücklein feierlich in die Wellen des Berninabaches. Den Mann, der den Krummstab geführt, baten sie, daß er ihr Pfarrer bleibe. So geschah's. Nach einiger Zeit aber, als die anderen protestantischen Pfarrer im Engadin sich Frauen gaben, wollten auch die Pontresiner eine Frau Pfarrerin haben und mißdeuteten die Ehelosigkeit Vergerios als ein Zugeständnis an den alten Glauben. Vergerio lächelte und bat um einen Urlaub, daß er eine Pfarrerin suche. Und nicht viel später führte er von der Bernina herab Katharina Dianti, die schöne Istrianerin, in das Pfarrhaus des Bergdorfs. Heimat und Verwandtschaft hatte sie um ihn verlassen, um den, dessen Wundmale sie an der Stirne trug, und zum Gedächtnis seiner großen Verirrung und in Bewunderung für sie hat er die Bilder malen lassen und selbst mit Rot darunter geschrieben: ›Er schlug sie und unterlag – Sie liebte ihn und siegte‹ – Das Gedächtnis beider ist von der Nachwelt gesegnet.«

So erzählte Cilgia und gab jedem Wort die Klangfarbe, die es im Glanz seines Wertes leuchten ließ.

Lange schwiegen beide, Cilgia mit glänzenden Augen. »Warum sprecht Ihr nicht, Paltram?« fragte sie mit merkbarer Ungeduld.

»Ich überlege,« antwortete er nachdenklich, »was ich aus der schönen Geschichte lernen soll.«

»Ja, wenn Ihr das nicht spürt, kann ich Euch nicht helfen,« erwiderte sie kühl und enttäuscht und erhob sich.

»Ihr wollt sagen, ich solle wie Katharina Dianti sein? Ich soll wie sie vergessen und verzeihen, ein Held sein wie sie eine Heldin war!«

»Ihr versteht mich, Markus Paltram,« sagte sie, und ihre Mienen heiterten sich auf.

»Die Geschichte ist wunderbar schön,« sagte er tiefsinnig. »Sie ist aber ein Märchen; denn ein Weib wie Katharina Dianti ist nie über unsere gemeine Erde gegangen!«

»Nie? So, das glaubt Ihr?« sagte Cilgia verächtlich, und sie wandte sich zum Gehen.

»Einen Augenblick, Fräulein Premont,« bat Paltram, der sich auch erhoben hatte. »Sagt mir eins – gibt es Frauen wie Katharina Dianti?«

Seine Stimme klang wie der Ruf nach einer Heilswahrheit.

»Ihr seid ein kleinmütiger Thor, Markus Paltram,« warf sie zurück.

»Schaut mich nicht so verächtlich an,« schrie er, »ich ertrage es nicht.«

Da hemmte sie ihren Schritt und sah ihn prüfend an.

»Markus Paltram,« sagte sie langsam und ernst, doch nicht ohne aufblitzende Schalkhaftigkeit, »der bischöfliche Buchdrucker Paolo Vergerio steckte dem Engadin ein Licht auf, das über dem Volke steht und sein Leben verklärt wie das Berninalicht die Thäler und Seen. Seit seinen und Katharina Diantis Zeiten sind die Postille und die Chronik der Stolz jedes Engadiner Hauses, und es lebt in diesen Bergen ein gebildetes Volk.«

»Was wollt Ihr, Fräulein Premont?«

Markus Paltram stürzte auf sie zu.

»Ihr wißt so gut wie ich,« fuhr sie fort, »die Ampel des Engadins ist am Erlöschen. Auswanderung überall. Das Leben flutet von unserem Thal zurück, und wer weiß: wo heute sich die blühenden Dörfer Pontresina, Samaden, St. Moritz – auch Euer Madulein erheben, werden in hundert Jahren nur noch Ruinen sein, und es wird wie eine fromme Sage klingen, daß in diesem Thal einmal ein glückliches Volk gelebt hat.«

Er bebte. »Fräulein Premont!«

Und wieder sah sie ihn mit ihren großen, siegreichen Augen prüfend an.

»Markus Paltram – wenn einer aufstände und dem Engadin die Ampel des Lebens wieder füllte! Wenn er ihm das Licht herunterholte von der Spitze der Bernina! Da könnte er sicher sein, daß auch er eine Liebe fände wie Paolo Vergerio, Frauenliebe, nicht kleiner, als Katharina Dianti sie geübt hat – aber es braucht freilich mehr dazu als Gemsen jagen!«

Einen Blick, einen flammenden, wirft sie noch zurück und Cilgia Premont schreitet gegen das Abendrot, das groß und schön über den nördlichen Bergen steht, es ist, als wolle die herrliche Gestalt darin verschwinden.

»Cilgia Premont!« – Berge und Thäler jauchzen ihren Namen – und Markus Paltram hat vergessen, daß er auf die Jagd gehen wollte.

»Wenn einer das Licht herunter holte von der Spitze der Bernina!« – –


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