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III.

Der Sommer ist gekommen.

Pfarrer Taß ist nach St. Moritz zu einer Konferenz gegangen. Cilgia sitzt am offenen Fenster, ein Buch auf ihren Knieen. Der Duft der Nelken, der Lieblingsblumen der Engadiner Frauen, strömt durch das Pfarrhaus, die Stille des Nachmittags brütet in dem mit Lärchen- und Arvenholz ausgetäfelten Gemach und webt um die einfach geschnitzten, mit Blumen bemalten alten Möbel.

Das Mädchen blickt vom Buche zu zwei alten Gemälden auf, die trotz der wurmstichigen Rahmen und obgleich die Farben im Lauf der Zeit nachgedunkelt sind, den vornehmsten Schmuck des Gemaches bilden und auf den ersten Blick die Hand eines Meisters verraten. Es sind zwei Gegenstücke.

Das eine stellt einen scharfgeschnittenen Männerkopf von asketischem Ausdruck dar. Die starkgebaute Stirn ist eisern, die Lippen sind schmal und hart, in den schwarzen Augen sitzt ein Funke Fanatismus, aber es liegt ein springender Zug geistiger Größe in dem Kopfe, der einem Manne zwischen den Vierzigen und Fünfzigen angehört. Die weiße Halsbinde und der Predigtrock verraten den protestantischen Pfarrer. Das Gegenstück ist ein wunderbar süßes und keusches Frauenantlitz mit allen Reizen der Jugend und tiefer Innerlichkeit. Ein einfaches Blütenkränzchen zieht sich über der reinen Stirn durch das dunkle Haar, die Stirn selber aber weist deutlich eine lange Spur von Narbenmalen, die das süße Gesicht etwas entstellen, doch in den mandelförmigen dunklen Augen liegt der Friede einer Verklärten.

In den unteren linken Ecken beider Bilder stehen in Karminschrift einige Worte.

» Affligebat eam et subjectus est»Er schlug sie und unterlag!« lautet die Unterschrift des Männerbildnisses, » Amabat eum et vicit»Sie liebte ihn und siegte!« die des Frauenbildes.

Cilgia hing an den beiden Gemälden, und wenn sie einsam war, konnte sie sich andächtig in das der Frau vertiefen und über die merkwürdige Geschichte sinnen, die in den Sprüchen angedeutet war. Die meisten Besucher des Pfarrhauses aber glitten mit einem Wort oberflächlicher Teilnahme über die wertvollen Bilder hinweg. »So – so,« sagten sie, »das sind Paolo Vergerio und Katharina Dianti, der erste reformierte Pfarrer von Pontresina und seine bessere Hälfte.«

Nur einer war gebannt wie sie vor dem hohen Liebreiz des Frauenbildes stehen geblieben und hatte die Augen fast nicht mehr davon lösen können: Markus Paltram, der vor einiger Zeit gekommen war und dem Pfarrer mit einem Wort des Dankes angezeigt hatte, daß er jetzt im Haus des Fischers Colani eingerichtet sei und seinen Beruf aufgenommen habe.

Cilgia hatte versprochen, daß sie ihm die merkwürdige Geschichte des Paares erzählen werde. Aber seither hatte sie ihn nicht wieder gesehen.

Von der Straße ertönte in der Nachmittagsstille, die mählich in die des Abends überging, plötzlich fröhlicher Gesang. Cilgia schaute neugierig hinab. Ein Trupp Heuer und Heuerinnen aus Tirol zog unter der Anführung eines langen, hageren Burschen, der die Sense auf der Schulter im Takte zu dem Lied regte, in das Dorf. Die Mädchen trugen grüne Troddelhüte, kurze Röckchen, bunte Mieder und weiße, gesteifte Aermel und fangen, wie es die Sitte beim Einzug in die Dörfer forderte.

Der Anführer, der sich zwar noch als junger Bursch gebärdete, aber wohl schon gegen die Vierzig rückte, rief zu Cilgia empor:

»Jungfrau, wo wohnt denn Markus Paltram, der Schmied, und die Jungfrau Premont?«

»Die bin ich selbst und Paltram wohnt oberhalb des Dorfes in der Hütte, an der ein Wasserrad ist.«

»Ich danke Euch, ich wollte nur die sehen, die Sigismund Gruber gerettet haben.«

Damit zogen die Tiroler weiter.

»Ich gehe die Gloria und die Gioja abholen,« rief Cilgia ein Stündchen später in die Pfarrküche, wo Rosina, die stämmige Magd, hantierte.

Das Mädchen schreitet auf dem rauhen Pflasterweg, der zwischen den alten Stein- und Holzhäusern von Pontresina hindurchführt, gegen das Kirchlein Santa Maria hinauf, das oberhalb des Bergdorfes einsam und verträumt am Wiesenhang unter dem Wald des Piz Languard liegt.

So thut sie jeden Abend. Den Strohhut am Arm, das Haupt frei, grüßt sie die Dörfler. Nur eben spürbar gibt sie sich vornehmer als die sonstigen Leute des Thals. Sie trägt ein ebenso einfaches Kleid wie die anderen Mädchen, aber statt des roten Baumwolltuchs, das sie am Werktag in den Miederschnitt setzen, verwendet Cilgia ein feines weißes Triestinergewebe, und die kleine Kunst genügt, daß man meint, sie sei immer in duftigem Sonntagsstaat.

Hinter ihr reden die Dörfler. Das Abenteuer von Fetan hat den günstigsten Ausgang genommen, den man sich denken kann. Obgleich es landauf, landab erzählt wurde, ist keine Klage aus Frankreich eingelaufen.

Und was für einen haben Cilgia Premont und Markus Paltram dem französischen Standrecht entzogen? Den jüngeren Sohn des bekanntesten und reichsten Tiroler Händlers.

Man höre nur Säumer wie Tuons über den Vater des Flüchtlings erzählen: »Lorenz Gruber ist der Holzkäufer der Salzpfanne in Hall; die Leute im vorderen Tirol nennen ihn deswegen nur den ›Waldtöter‹, und es geht die Redensart, die Tannen fangen an zu zittern, wenn er durch einen Wald schreite. Dazu ist er in Handelssachen der Vertrauensmann tirolischer Klöster, und wenn auf den Straßen zwischen Landeck, Bozen und Tirano eine Fuhre geht und man fragt: ›Wessen ist der Saum?‹ so lautet die Antwort immer gleich: ›Lorenzen Grubers auf dem Suldenhof im Suldenthal.‹«

Von dem Sohn freilich weiß man nur wenig – er hilft mit seinem Bruder dem Vater im Handel. Aber das weiß man, daß Sigismund Gruber kein Spion, sondern ein ehrlicher, tapferer Landstürmler gewesen ist.

Davon plaudern die Leute, wenn Cilgia am Abend mit ihrem Buch zum Kirchlein Santa Maria emporwandert.

Vom ersten Tag an, da sie nach Pontresina kam, liebt sie das stimmungsvolle, altehrwürdige Gotteshaus, den Kirchhof darum her, über dessen Gräberterrassen Gras und Nelken fluten, und den weiten, friedevollen Blick der Aussicht.

Unter dem altväterischen Bergdörfchen rauscht, halb in Wald und Kluft verborgen, der Berninabach und stäubt seinen Wasserduft empor. Jenseits klettern die Tannen wie kämpfende Helden an jähen Felsen und hinter ihnen schimmern am Abend rosenrot die höchsten Spitzen des Berninagebirges, ein Riesenblumenkelch voll Schönheit und Licht.

Heute freilich sind die Berge nicht so klar, durch goldene Wolkenränder zieht die Sonne Wasser, die Spitzen sind umzogen mit blauem Rauch.

Cilgia sitzt auf dem Bänkchen am Thor und nicht weit von ihr gräbt der alte Mesner, das graue, dürre Männchen, ein frisches Grab für einen Viehknecht, der lahm und nichts mehr nütze war.

Cilgia verbinden lieblichere Vorstellungen als die des Todes mit Santa Maria.

Unter dem steinernen Thorbogen des Kirchleins, dem die Jahreszahl 1497 eingehauen ist, ist jenes Liebespaar hindurchgeschritten, dessen Schicksal wie ihr eigenes Gedenken goldene Fäden zwischen Adria und Hochland zieht, Paolo Vergerio und Katharina Dianti, die vornehme Istrianerin, die nach Pontresina hinaufgestiegen ist, um die erste protestantische Pfarrerin des Ortes zu werden.

Und am Thor, durch das die Eltern als Brautpaar, getreten sind, gedenkt sie ihrer eigenen sonnigen Kindheit zu Triest.

Ein Garten taucht vor ihr auf mit dunklem Lorbeer, spinnenden Rosen und wächsernen Kamelien, ein weißes Haus mit glycinenumwucherten Veranden, und durch Bäume und Gebüsche sieht sie die weißen Segel der blauen Adria. Weiße, schwankende Segel auf azurnem Grund! Wenn sie aber darüber in die Händchen patschte, so sagte die Mutter: »Schwälbchen, es gibt noch etwas, was weißer ist als die Segel, das sind die Firnen des Engadins. Und inniger als die Adria strahlen die Seen des Inns.«

Ja, wenn man durch die Thäler und das Gebirge wandern dürfte! Aber der Onkel ist so schwer beweglich, und allein läßt er sie nicht gehen.

Und jetzt kommt noch der alte Gruber mit einer Liebeswerbung für seinen Sohn.

Thorheiten, man reißt doch einen Landstürmler nicht deshalb aus Feindeshand, um sein Weib zu werden! Was geht sie der junge Gruber an?

Da tönte das helle Glingling eines Schmiedehammers in den Frieden des Kirchleins – Paltrams Hammer.

Sie machte eine rasche Bewegung, wie wenn sie eben jetzt auch etwas tüchtig angreifen möchte.

Dort unten, halben Weges zwischen der Kapelle und der Straße, die zum Berninapaß führt, steht die Hütte, die er mit Hilfe des Pfarrers erworben und in der er seine Werkstätte eingerichtet hat. Er hat das baufällige Haus mit eigener Hand ausgebessert, den raschen Wiesenbach an seine Mauern hingezogen und ein selbstgezimmertes kleines Wasserrad, das ihm den Blasbalg der Esse treibt, darein gesetzt.

Mit wahrer Wonne horcht Cilgia dem hellen Klingen des Hammers – nicht gerade weil es von Paltram kommt, sondern weil es die Stimme emsiger, nützlicher Arbeit ist, und ihre goldbraunen Augen glänzen.

Ja, so ein Schmied hätte sie auch sein mögen!

Der Mesner hat das Grab fertig geschaufelt und hört, in der Grube auf den Spaten gestützt, ebenfalls dem Hammerschlage zu.

»Wenn nur die Maduleiner Geschichten nicht wären,« sagte er, aus der Grube steigend, »so stünde alles um Markus Paltram gut. Er gewinnt zusehends an Boden und Vertrauen und man lobt seine Arbeit. Fragt den Kronenwirt in Samaden. Der hat eine alte Uhr seit drei Jahren bald nach Cleven, bald nach Chur geschickt und sie ist nie ordentlich gegangen. Da gibt er sie Paltram. Und jetzt geht sie so sicher wie die Sonne.«

»Was spricht man denn in Madulein von Paltram?« fragte Cilgia.

»Ja, das sind andere Geschichten,« versetzte der Mesner.

»Wer war denn seine Mutter?«

»Ein merkwürdiges Weib. Hört nur: am liebsten spielte der Bube auf der Ruine Guardaval, die wie ein Raubvogelhorst über dem Dorf steht, und er schleppte auch seine jüngeren Brüder dort hinauf, wo sonst niemand etwas zu suchen hat. Eines Tages nun sah man etwas Entsetzliches. Markus und sein Bruder Rosius schoben einen Sparren aus den Mauern der Ruine, legten ein Brett darüber und schaukelten darauf zwischen Himmel und Erde.«

»Ich denke, kühne Buben hat's im Engadin immer gegeben,« neckte Cilgia den alten, bedächtig eifrigen Erzähler.

»Ja, aber jetzt die Mutter,« mahnte der Mesner mit einer abweisenden Bewegung gegen die Unterbrechung. »Der Küfer legte einen Strick bereit, um die Buben zu züchtigen, wenn sie von dem Felsen herniederstiegen. Sein Weib aber klatschte in die Hände und sagte: ›Mann, sei kein Narr und freue dich, daß Rosius, der Feigling, die Schlafmütze, neben Markus ein beherzter Kerl wird.‹ Und sie ließ den Buben nichts geschehen.«

»Diese Mutter gefällt mir,« sagte Cilgia fröhlich, »erzählt mir mehr von ihr.«

»Damals, als das geschah,« fuhr er fort, »war Markus noch ziemlich klein. Als er etwas größer war, brachte er von Guardaval herab häufig junge Vögel, die er zähmte. Einmal auch eine rotschnabelige und rotstrumpfige Bergkrähe, die ihm sehr lieb wurde. Denn wo er stand und ging, hüpfte sie ihm nach. Der Vater, der Küfer, aber hatte einen prächtigen gestreiften Kater und der fraß die Krähe auf. Markus unterdrückte seinen Zorn. Als aber der Kater beim Mittagstisch auf die Bank sprang, sich neben den Küfer setzte und miauend seinen Anteil vom Mahle heischte, legte Markus den Löffel auf die Seite. Er sagte kein Wort, packte das Tier am Hinterkopf und den hinteren Läufen, streckte es, obgleich es die Krallen der Vorderfüße tief in sein Handgelenk verbohrte, so auseinander, daß es, ohne einen Laut von sich zu geben, verschied. Es in eine Ecke schleudernd, zürnte er: ›Da, Vater, habt Ihr Euern Maudi, er hat mir meine Krähe gefressen.‹ Der Grimm loderte in den Augen des Küfers, ebenso kurz erwiderte er: ›Du bist nicht mehr mein Sohn, Markus!‹ Von da an redeten sie kaum mehr ein Wort zusammen. Markus ging mit den Gemsjägern und war als halbwüchsiger Bube schon der beste Schütz im Engadin.«

»Das habe ich gehört,« sagte Cilgia, »und auch, wie er einem arg verbrannten Kinde die Schmerzen gestillt hat. Was haltet Ihr von dieser Geschichte, Mesner?«

»Sie ist höchst geheimnisvoll,« und er zuckte die Schultern, »es blieb aber nicht bei diesem einzigen Mal, sondern er hat seine heilende Kraft in Blick und Händereichen oft bewiesen. Man rief ihn häufig ins Dorf und in die Umgebung zu Kranken, er ging aber erst, wenn ihn seine Mutter bat: ›Markus, versuch's!‹ Dann ging er ohne Widerspruch.«

»Das ist ein schöner Zug an ihm,« versetzt Cilgia warm.

Der Mesner hob belehrend den Zeigefinger: »Mutter und Sohn liebten sich, wie man das selten sieht, sie redeten nur mit den Augen und verstanden sich, sobald aber der Küfer den Markus sah, gab's zwischen den beiden Feuer, und es war ein Glück, daß der Junge später nach Frankreich ging, sonst hätten sie eines Tages die Fäuste und Waffen gegeneinander erhoben, denn der Küfer erzählte jedem, der es hören wollte, Markus sei nicht sein Bub, sondern ein Camogasker.«

»Ein Camogasker,« sagte Cilgia vorsichtig und gespannt, »ich würde gern einmal genau wissen, was das ist.«

Der Mesner kratzte sich in den dünnen Haaren: »Sprecht mit dem Pfarrer darüber, Fräulein. Er hat eher als ich die rechten Worte, es für so zarte Ohren wie die Euren zu stimmen.«

»Gut, so erzählt mir weiter,« und Cilgia senkte den Kopf in einer kleinen Enttäuschung.

»Es ist merkwürdig,« fuhr der Mesner fort. »Wie sich das Gerücht, daß er ein Camogasker sei, verbreitete, änderte sich sein Blick, der vorher wie der anderer Leute gewesen war. Man begann ihn zu fürchten. Seiner Mutter aber blieb er so ergeben, daß er sich ein Auge hätte ausstechen lassen, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Und seht, Fräulein, daran erkennt man nun die Söhne des Ritters von Guardaval – sie können, wenn sie wollen, für ein Weib alles thun, aber nie von einem Mann einen Rat annehmen. Sie werden groß im Leben, aber einmal müssen sie die schlagen, die ihnen die liebsten sind.«

»Das ist ja gräßlich!« versetzt Cilgia erschreckt.

»Ich gehe, Fräulein,« sagt der Mesner. »Ich möchte gegen Markus Paltram nicht unchristlich sein – ich ärgere mich aber, daß er in sechs Wochen nur zweimal zur Kirche gekommen ist. Seht, es kommt schon ein starker Wind!«

Damit nahm der Alte die Grabwerkzeuge auf die Schultern und ging grüßend dem Dörfchen zu. »Die Geißen«, sagte er zum Abschied, »müssen jetzt bald vom Berg steigen, sonst geraten sie in das Wetter, das hinter der Bernina rüstet.«

Cilgia setzt sich nachdenklich auf die Bank am Thor.

An das Gerede vom Camogasker glaubt sie nicht. Ihr kluger Vater hat dergleichen Dinge immer verworfen.

Sie steht auf und wandelt in tiefem Sinnen zwischen den Gräbern.

Der mutige Mann, dessen das Engadin bedarf, ist kein anderer als Markus Paltram – nicht etwa einer ihrer Freunde von Fetan – nein, Markus Paltram – auch ihr Vater ist aus einem verachteten Jungen der spätere Mann von großem Ansehen geworden. Aber für Markus wäre vorher eines nötig: Sonne, Sonne müßte man diesem einsamen und freundlosen Leben geben, es müßte ihn eine lieben, wie ihn seine Mutter geliebt hat. Dann würde er steigen!

Das helle Glingling seines Hammers tönt in ihre Träume – auf den Arven am Waldrand krächzen schon die Raben, die in den Bergwald heimwärts fliegen, und mit Geschell und Gemecker kommen die fröhlichen Berggeißen, ihrer über hundert, schwarze, weiße und gefleckte, viele mit zwei, viele mit vier Hörnern, die meisten mit lustigen Bärten. Schon gesättigt, naschen sie immer noch, sie steigen auf jeden Felsblock, der am Wege liegt und halten mit schalkhaften Augen Ausschau, und mit den Mutterziegen spielen die Zicklein.

Mit einem Strauß Löwenzahn und Disteln pflegt Cilgia Abend um Abend die Tiere zu empfangen. Sie hält ihn hoch, und wohl ein Dutzend umringen sie und haschen nach dem Büschel, den sie ihnen mutwillig vor den Mäulern wegzieht.

Gioja und Gloria, die Pfarrersziegen, drängen sich am nächsten an sie, sie haben gute Freundschaft mit ihr geschlossen, sie erwischen den Strauß.

Mit der Herde kommt Pia, die kleine braune Hirtin. Sie trägt einen durchlöcherten Strohhut, das Mieder ist über der jungen Brust unordentlich geknüpft, das rote kurze Röckchen ausgefranst, an den Füßen klappern die klobigen Holzböden, sie trägt einen leichten Bergstock und auf dem Rücken den mit Murmeltierfell überzogenen Speisesack.

Häßlich ist die Pia Colani nicht, aber eine wilde, böse Hummel.

Gerade das reizt Cilgia, immer wieder mit ihr anzubändeln.

»Hast du Bericht von deinem Bruder Orland?«

»Gewiß habe ich,« erwidert die Kleine stolz und mit funkelnden Augen. »Er schrieb aus Basel – er fährt auf einem Rheinfloß – ich weiß nicht, was das ist – nach Holland.«

»Und wie verträgst du dich jetzt mit deinem neuen Hausgenossen, dem Schmied?«

Pia macht eine komische Gebärde des Abscheus.

Sie ist die erbitterte Feindin Paltrams und hat sich gegen seinen Einzug ins väterliche Haus wie eine Wütende gesperrt, obgleich der Pfarrer dafür gesorgt hat, daß sie und ihre Großmutter darin wohnen bleiben können.

»Fräulein,« zischt die Kleine mit ihrem Mund voll schöner Zähne, »eines Tages beiße ich Euch schon – was ich in Samaden gesagt habe, gilt! Ihr seid auch schuld, daß er da ist.«

Und sie schleudert wilde Blicke gegen Cilgia.

»Sei doch ein bißchen lieb, Pia!« schmeichelt Cilgia mit herablassender Zutraulichkeit.

»Nein,« schreit das Waldteufelchen, »der geht ja jede Nacht zu seinem höllischen Vater. Sobald die Dämmerung eingebrochen ist, hängt er das Gewehr um, und erst nach Mitternacht, oft erst gegen Morgen kehrt er zurück.«

Die Herde Pias drängt vorwärts, das Gewitter naht, das Gespräch findet ein rasches Ende.

Hinter Cilgia laufen die Pfarrersziegen gegen das Dorf und verwundern sich, daß ihre Freundin so karg an Wort und Scherzen ist.

Paltram zur Nacht heimlich in den Bergen? – Es mußte schon so sein, denn er schenkte in die Pfarrküche dann und wann Schneehühner oder Alpenhasen.

Und die schoß er nicht am hellen Tag, sondern eher im Mondschein, denn man sah nie, daß er seine Arbeit versäumte.

Dieses dunkle Wesen gefiel Cilgia nicht.

Als sie den Ziegen den Stall öffnete, fielen die ersten Tropfen und in den Bergen hallte der Donner.

Früh sank die Nacht herein. In der Stube erwartete sie der Pfarrer, der schon eine Weile von St. Moritz zurückgekehrt war, und reichte ihr, als sie eintrat, beide Hände.

»Viele Grüße von drüben, und darüber, daß ich dich nicht mitgebracht habe, regnete es Vorwürfe. Von Samaden her sind alle voll guten Sinns für dich! Und der alte Gruber aus dem Suldenthal ist bei Driosch eingerückt.«

Cilgia errötete.

»Er ist ein gewaltiger Mann an Leib und Seele,« fuhr der Pfarrer fort. »Als er wünschte, dich kennen zu lernen, lud ich ihn auf morgen mittag zu uns als Gast ein. Ich denke – ich denke –«

Mit fröhlichen Augen blinzelte der Pfarrer gegen Cilgia.

»Ihr führt mich jetzt schön in die Klemme,« erwiderte sie, halb im Scherz, halb im Ernst und der Pfarrer wollte eben etwas Scherzhaftes entgegnen, da fiel ein Blitz und Donnerschlag, daß es bis in den Ofenwinkel leuchtete und die Fenster zitterten.

Mächtig und prächtig zog das Gewitter durch die Nacht, und als sie aus dem Fenster blickten, sahen sie an der Bergwand jenseit des Berninabaches eine züngelnde Flamme. Der Blitz hatte in eine alte Arve geschlagen, sie brannte wie eine Fackel und beleuchtete die schroffen Felsen mit blutigem Schein.

»Ein Camogaskerfeuer,« sagte der Pfarrer.

»Camogaskerfeuer? – Wißt Ihr, daß man Markus Paltram einen Camogasker nennt? Erzählt mir doch, was ein Camogasker ist?«

»Wegen Markus Paltram, Cilgia, möchte ich dir die Sage nicht vorenthalten.«

Er prüfte sie mit einem Seitenblick, räusperte sich, und während draußen das Nachtgewitter wütete, horchte Cilgia mit gespannten Sinnen der Erzählung.

»Es gibt,« hob der Pfarrer an, »mehrere untereinander ziemlich verschiedene Fassungen der Sage, ich berichte sie dir in derjenigen, die aus dem Camogasker, dem Burgherrn von Guardaval keinen unbegreiflichen Wüterich macht, sondern sein Wesen zur Not erklärt. Danach hatte das Volk im Anfang großes Vertrauen auf den Ritter gesetzt, und leutselig lud er es zu Festen auf sein Schloß, wo fahrende Sänger die Harfen schlugen. Eines Tages aber erfuhr er, daß er nicht der Sohn des Ritters sei, den er als Vater verehrte und der im Morgenland als Streiter für das heilige Grab gefallen war, sondern der Abkömmling eines gemeinen Mannes, des Kastellans. Den Kastellan ließ der junge Ritter über die Felsen werfen und die Gebeine der Mutter aus dem Grab. Sein Sinn wandte sich. Er haßte die Menschen; er ging oder ritt einsam durchs Gebirg, und in gottlosen Zornausbrüchen verlangte er die härtesten Frohnden von den Männern, in rauschender Leidenschaft die Opfer der Töchter des Landes, mit seinem Blick umspann er sie wie mit Zauber und vergiftete ihr Wesen, daß sie Vater, Mutter und Ehre vergaßen und sich selbst an den Burgweg setzten, damit er sie sehen möge.«

Da unterbrach plötzlich ein seltsamer Laut die Aufmerksamkeit, die der Pfarrer seinen eigenen Worten schenkte.

Zähneknirschend und blaß vor Zorn saß ihm Cilgia gegenüber.

»Gefällt dir die Sage nicht?«

»Nein, aber ich möchte sie jetzt doch zu Ende hören. Erzählt nur weiter, Onkel,« versetzte sie mit blitzenden Augen.

»Es ist nicht mehr viel,« erwiderte er. »Nachdem der Unhold eine Weile so gewütet und Elend über die Bevölkerung gebracht hatte, erschlug ihn ein Vater auf seinem Schloß. Seither ist der Ritter der gespenstische Wildjäger, der vornehmlich im Camogaskerthal haust, aber von Zeit zu Zeit über die ganze Bernina zieht. Mit Unglücksfällen auf den Alpen kündigt er sich an, mit Sturm fährt er daher, auf einem Pferdegeripp reitet er in Blitz und Donner, Tiergerippe sausen und rascheln vor ihm. Einige Male im Jahr, an verworfenen Tagen, mag's aber geschehen, daß er sich wie ein Lebendiger aus brütender Sonne, aus wispernder Luft und steigendem Erdduft auferbaut und als ein höllisches Wunder vor Hirtinnen und Wildheuerinnen erscheint. Zuerst sehen sie nur zwei brennende Augen – sprechen sie nun nicht rasch ein Stoßgebet, so sind sie verloren. Und die Kinder dieser Stunden nennt man wie ihn selbst Camogasker.«

Gepreßt und blaß fragte Cilgia: »Und was haltet Ihr, Onkel, von der Sage?«

»Ich habe Studien darüber gemacht, doch die Quellen sind zu spärlich, als daß sich über ihren geschichtlichen Wert etwas sagen ließe. Sicher ist nur, daß manche Zusätze erst später auftauchten, so der Glaube an die Camogaskerkinder. Er tauchte erst zur Zeit der Hexenverfolgungen auf, als Frauen im Wahnsinn der Folterqual bekannten, daß ihnen der Wildjäger erschienen sei.«

In Cilgias Zügen stand die Ungeduld.

»Was Ihr sagt, Onkel, ist wohl merkwürdig, ich meine aber nicht, welchen Wert die Sage für die Engadiner Geschichte hat, sondern ob Ihr einen tiefern Sinn darin findet!«

Der letzte Teil ihrer Rede klang herausfordernd, und etwas wie zürnende Kampflust stand in ihren Augen.

»Kind, Kind, was regst du dich wegen dieser alten Geschichte auf!« Und der Pfarrer schüttelte den Kopf.

Cilgia aber erhob sich im Eifer der Jugend: »Spürt Ihr denn nicht, Onkel, was für eine blutige Demütigung diese Sage für uns Frauen ist. Sich an den Weg setzen! Ich würde sie anders erdichten!«

Sie stand mit brennenden Wangen, so daß der Pfarrer über ihre Heftigkeit erschrak.

»Ich würde sagen: Als der Ritter die Schuld seiner Mutter erfahren hatte, zweifelte er wohl an der Hoheit der Frauen. Es wuchs aber ein Mädchen im Volk, das widerstand ihm und besiegte ihn mit seiner Liebe, seiner Standhaftigkeit und Reinheit.«

Ein herrliches Metall bebte in ihrer Stimme und erstaunt wie zu Samaden sah der Pfarrer zu seiner Nichte auf.

»Kind – was liegt alles in deinen siegreichen Augen!« versetzte er erschrocken. »Cilgia, dich und dein Geschlecht habe ich gewiß nicht beleidigen wollen, als ich dir die Sage erzählte. Nein, gewiß nicht! –«

Sie streckte ihm mit einem guten Lächeln die Hand hin.

»Ich halte aber die Sage,« fuhr der Pfarrer fort, »nicht für wertlos. Es gibt in unseren Bergen, in stillen Wäldern verborgen, abgründige Seen, abgründig gähnen die Spalten der Gletscher, Abgründe sind im Volk, und wenn du in der Geschichte Bündens blätterst, so wirst du die Gestalten schon erkennen, die den unerforschlichen Seen und den unergründlichen Spalten gleichen. Ueberall aber hat die Natur zu den Gefahren die Warnung gestellt: um die Seen ohne Grund schwankt das Ufer gelb und falsch, flimmert der reine weiße Schnee der Berge, wo unter ihm die Eiskluft verborgen liegt, und der Ruf, Camogasker! ‹ ist ein Schild, den die feine Witterung des Volks vor abgründigen Seelen erhebt.«

Cilgia war sehr ernst. »Ist es nicht auch denkbar, Onkel,« fragte sie nachdenklich, »daß das Volk irrt, einmal einem ungerecht das Wort ›Camogasker‹ zuschreit und den Fluchfaden des Mißtrauens um ihn zieht? Dann sagt sich der Getroffene: Gut, wenn ihr mich zum Camogasker macht, so will ich einer sein! Und er geht in Wut und Verzweiflung hin und wird ein Abgründiger.«

»Es ist kein Fertigwerden mit dir, Kind!« versetzte der Pfarrer.

Nichte und Onkel redeten noch lange in der Nacht. Die Brandfackel an der Bergwand war verloht, das Gewitter braute nur noch im Rosegthal.

»Und morgen kommt also Lorenz Gruber!« sagte der Pfarrer zum Gutenachtgruß.


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