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X.

»Wie habe ich es thun können – das Unsägliche?« – In seiner Werkstatt steht Markus Paltram und starrt, die Arme verschränkt, mit brennenden Augen vor sich hin. »Nicht aus Leichtsinn – aus Elend! Ich gab Cilgia nach dem, was auf der Heimfahrt geschehen war, verloren – ich begrub die rasende Reue in der verruchten That! Und siehe da – Cilgia war größer – sie kam; sie bot die Hand zur Versöhnung. Sie ist herrlicher als jene Katharina Dianti, von der sie erzählt hat!«

Er starrt und starrt und sein Herz siedet im Weh.

»Markus, der Büchsenschmied, hat das Lachen verlernt,« flüstern die Leute, »er hat früher nicht viel gelacht, jetzt lacht er gar nicht mehr.« Man hat erwartet, sein unfaßbarer Verrat an Cilgia Premont und seine unfreiwillige Ehe mit Pia, der Ziegenhirtin, würde ihn zum kleinen Mann herabdrücken, er würde vielleicht ein Trinker und käme an den Rand des Verderbens. Nichts von alledem! Er meidet den Umgang mit den Menschen, er arbeitet aber schier so ruhig und fleißig wie früher. Er geht immer gut gekleidet, frei und frank und trägt den Kopf hoch. Nur lachen sieht ihn niemand mehr.

Mit Pia, dem ehemaligen Waldteufel, führt er einen friedlichen und fast ordentlichen Haushalt.

Wie ein Hund gehorcht sie ihm. Einer seiner furchtbaren Blicke, und es geht so manches, was vorher nicht Raum darin gefunden hatte, in die niedrige Stirn.

Sobald er aber der Hütte den Rücken wendet, stellt sie sich ans Fenster, reckt die Zunge hinter ihm und hebt die kleine derbe Faust: »Warte nur, bis mein Bruder reich und angesehen ist!« Ihr ganzer Familiensinn ist die gräßliche Furcht vor den Augen ihres Mannes.

Häufig am Abend streicht Markus ins Rosegthal oder in eine andere Gegend des Gebirges und am Sonntag wandert er am frühen Morgen aus und kommt erst spät wieder. Sein Weib aber muß, um der Landessitte zu genügen, Sonntag um Sonntag den Morgengottesdienst besuchen und, um sich zu vergewissern, daß sie sein Gebot halte, fragt er sie am Abend nach der Predigt des Pfarrers.

»Er hat den Text ausgelegt,« erwidert Pia mit einem seltsamen frommen Augenaufschlag, den sie anderen Frauen abgeschaut hat: »›Ich bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.‹«

Da schaut er sie mit einem niederschmetternden Blick an, setzt den Hut auf und geht.

»An den Kindern bis in das dritte und vierte Glied.« Das schreckensvolle Bibelwort verfolgt ihn auf seinen einsamen Wanderungen.

»Und ich bin doch ein Camogasker!« schreit er in den Sommerfrieden des Gebirges, und er flucht seiner Mutter, die er so unendlich lieb gehabt hat. Sie hat ihm das heiße Blut gegeben, das Blut, das Cilgia Premont betrog.

Und weiter, weiter laufen seine Gedanken. – Wäre er wie Pia! – Sie hat kein Gewissen. – Was sie gemeinsam an Cilgia verbrochen haben, beschwert sie nicht. – Es ist entsetzlich, zusammen mit einem Weib zu leben, das kein Gewissen hat!

Entsetzlicher ist ihm, daß sie gemeinsam ein Kind erwarten. Was wird das für ein Wesen sein? – Ein Vater mit rasendem Blut, eine Mutter ohne Gewissen – ein Kind des Verrats! – Wenn sich die Sünde, die er an Cilgia begangen hat, rächte – das Kind elend wäre!«

Er geht, er läuft, bis der Schweiß über seine Stirn rinnt und sein Atem stockt.

Dann eilt er heim, und das Glingling seines Hammers übertönt das schwere Pochen seiner Brust.

Was leidet er unter dem gräßlichen Heimweh nach Cilgia – nach einem guten Blick aus ihrem schönen goldbraunen Auge – nach einem ihrer Worte, die wie Sonne und Tau in seine verbitterte Seele fielen!

Es ist sonderbar: bei allem, was er thut und denkt, ist ihm, sie sehe und höre ihm zu.

Aber sie ist ja drunten in Mals bei Baron Mont – sie ist an der Straße, wo der alte und der junge Gruber mit den Säumen vorüber ziehen, wenn sie vom Veltlin Waren nach dem Tirol führen.

Und wenn sie nun doch das Weib des jungen Gruber, des Gemsfallenstellers, würde? Er forscht den langen Hitz aus, der mit seinen Heuern und Heuerinnen wieder da ist.

Der sagt aber lachend: »Die – die – ich glaube, es braucht weniger Mut, des Teufels Großmutter ums Heiraten zu fragen als die. Ihr solltet sie nur einmal durchs Moor reiten sehen!«

Der Schmerz Markus Paltrams wird darum nicht kleiner.

O, er wollte, er hätte sie mit seiner elenden That so getroffen, daß sie nie einen anderen lieben könnte, ihm würde der Gedanke, daß je ein anderer den Arm um die stolzen Hüften legen dürfte, das Gehirn aussengen! Nein – sie kann nie einen anderen lieben, das wäre Spiegelung der Hölle, sie haben zu wundervolle Tage des Glücks miteinander verlebt! Und das Heimweh brennt!

Er streift durch das Gebirge – er zieht einen Rotstein aus der Westentasche und schreibt »Cilgia« an die Felsen. Ihm ist, als müsse sie eines Tages an diesen Stellen vorüberwandern, die Schriftzüge erkennen und zu ihm kommen und sagen: »Markus, ich bin dir noch gut!« Warum ist er nicht nach Frankreich geflohen, sondern jenseit des Albula umgekehrt? – Er kann sich nicht von der Gegend trennen, wo sie geatmet und gelebt hat. Ihn verzehrt immer der gleiche Durst: sie noch einmal sehen!

Sonderbar, er, der gescheite Paltram, der sonst über alles lacht, was dunkel und geheimnisvoll ist, erliegt mystischen Stimmungen.

Er meint, wenn er als der erste Sterbliche den Fuß auf den Piz Bernina setzte, wenn er die oberste Zacke reinen Schnees abbräche und sie weiß und rein zu Cilgia Premont brächte, so würde vieles wieder gut.

Sie hat es wohl anders gemeint, als sie von der Flamme der Bernina sprach, die er ins Engadin herniederholen müsse, – aber seine Gedanken und seine Sonntagsausflüge kreisen um den Piz Bernina.

Dort, wo die Silberflamme blinkt, muß er eines Tages stehen, sonst wird er nicht selig.

Der Herbst ist da und Pia spricht:

»Markus, wenn du auf die Jagd gehen willst so kann ich dir am Piz Languard, wo ich die Geißen gehütet habe, einige gute Gemsenwechsel zeigen.«

»Bist du der Satan?« donnert er, daß sie sich duckt. Eine halbe Stunde später steht er in der Stube, mit bebenden Händen hält er sein Jagdgewehr, das Eisen funkelt, seine Augen stammen, aber er hängt das Gewehr wieder an die Wand. Er steht in der Nacht auf und besieht sich die Waffen, wie sie im Schein der Kerzen flimmern, doch ihm ist's: die erste Gemse, die er schieße, müsse Cilgia sein.

Und er läßt die Waffe ruhen.

Einige Wochen später wird ihm ein Söhnchen geboren – ein prächtiges Kindchen mit gesunden Gliedern. Und nun spürt er doch etwas wie Vaterfreude und Erlösung.

Er muß es zur Taufe anzeigen. Da sitzt er wieder im Pfarrhaus, wo er mit Cilgia so oft gesessen hat. Die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis schauen auf ihn nieder – und die Erinnerungen foltern ihn.

Das Geschäft zwischen ihm und dem Pfarrer erledigt sich kurz und förmlich. Aber er steht noch einen Augenblick länger als nötig – er hätte sich so gern mit einem Wort nach Cilgia erkundigt – ihren bloßen Namen zu hören, wäre ihm Musik gewesen. Aber er fragt nicht – er geht. –

Der Pfarrer blickt ihm gedankenvoll nach. Er hat, seit er den Schrei am verschneiten Waldesrand gehört, eine Ahnung, wie es um Markus Paltram steht.

Er kommt eben von einer mehrtägigen Reise, von einem Besuch bei Cilgia. Es geht ihr, so weit es die Erlebnisse der Vergangenheit gestatten, gut, das Schicksal hat sie auf ein Arbeitsfeld gestellt, wie man es ihr kaum angemessener hätte bereiten können.

Sie ist zu Mals, dem hübschen tirolischen Flecken an der Stilfserjochstraße, bei Baron Mont, dem Freund a Portas. Der wohl sechzigjährige Baron, ein Kauz mit den seltsamsten Ansichten, aber von seltener Güte, ein Mann, der anderen jedes Wort glaubt und niemand eine Bitte abschlagen kann, hat sie in seinen Dienst genommen, damit sie ihm das lästige Briefschreiben besorge und eine Art Tage- und Rechnungsbuch über die Arbeiten auf dem Hochmoor führe, wo er große Torfstechereien besitzt und, um der armen Gegend durch Feldbau etwas aufzuhelfen, allerlei Bodenverbesserungs- und Anpflanzungsversuche anstellen läßt. Sie aber ergriff ihr Amt mit der ihr eigenen Lebendigkeit, und wie der Baron eines Tages von einer Reise ins Salzburgische, wo er auch Güter besitzt, zurückkehrt, legt sie ihm das Tagebuch vor. Er blättert darin, und plötzlich fesselt ihn eine mit roter Tinte unterstrichene Stelle: »Die Betrügereien, die seit sechs Jahren im Umtriebe des Moorgeschäfts nachgewiesen werden können.« Und es folgen fast endlos kleine und große Posten, sie fallen dem Verwalter, den Zwischenunternehmern und Händlern zur Last, und alles zusammen ist eine Summe, über die dem Baron, der doch in Geldsachen nicht klein denkt, graut.

Acht Tage später hat Cilgia die Leitung des Unternehmens in den Händen, ihr Wort und ihre Unterschrift gelten wie die seine, und ein Gewitter fährt reinigend über die Heide.

»Das Frauenzimmer, das verfluchte, das immer das Papier und den Bleistift in den Händen hält!« Die Fäuste der Arbeiter ballen sich hinter ihr, sie wünschen sie angefroren auf der Spitze des Ortlers, die auf das braune und schwarze Hochmoor herniederschaut. In ihrem grauen, rauhwollenen Kapuzenmantel kommt sie schon morgens sechs Uhr durch die dünnen blauen Nebelschwaden, die das Ried bedecken, geritten und bietet ihnen einen freundlichen »Guten Tag«. Sind sie aber nicht zur Stelle, so läßt sie ein Zeichen zurück, daß sie schon dagewesen ist, und wenn am Abend noch schnell ein unaufgeschriebenes Fuder Torf heimlich weggefahren werden soll, so sprengt sie auf ihrem Rappen gewiß noch von irgendwo heran: »Abladen – es geht keine Torfstolle vom Moor, bis sie im Herrenhause eingeschrieben ist, und dem Händler sagt, daß wir überhaupt nichts mehr mit ihm zu schaffen haben wollen!« Und neben ihrem Pferd steht sie ruhig, bis die letzte Stolle wieder auf den Boden geschichtet ist.

Geht aber alles seinen guten Weg, so plaudert sie mit den Arbeitern, sie setzt sich mit ihnen ans Feuer, röstet sich einen Maiskolben und erkundigt sich, während sie die Körner abrupft, nach Weib und Kind der Leute.

»Das ist anderes Latein,« scherzte sie, als Pfarrer Taß zu Besuch kam und mit ihr über die Arbeitsstätten ritt. »Aber ich habe mich mit den Tagelöhnern jetzt doch in ein recht angenehmes Achtungsverhältnis gesetzt,« sagt sie.

»Das habe ich im Flecken schon gehört,« erwiderte der Pfarrer erfreut über die Munterkeit seiner Nichte.

Als sie aber am dritten Tag dem Onkel bis nach Münster im Bündnerland das Geleite gab, sagte sie im gemütlichen Ritt: »Ich habe den Eindruck, daß die Wirtschaft des Barons mit großen Schritten hinter sich geht – ich übersehe nicht alles, nur ist er gewiß nicht so reich, wie er selber und andere mit ihm glauben.«

»Und wie geht es dir sonst, Kind?« fragte der Pfarrer. »Ich meine, was macht dein Herz? Darüber sagst du mir ja kein Wort.«

»Ich fürchte nur die Nacht, die gräßliche Nacht,« sagte Cilgia stockend, »am Tag gibt mir die Arbeit Frieden, und ich bete zum Himmel, daß er mir vor den Männern Ruhe schenkt. Aber vor sechs Wochen war Fortunatus Lorsa in aller Stille da und hat um meine Hand angehalten.«

»Und was hast du ihm für eine Antwort gegeben?«

»Der Schmerz hat mich fast übernommen. – ›Fortunatus,‹ habe ich ihm gesagt und ihn mit ›Du‹ angeredet, daß er merke, wie wert er mir ist, ›du verdienst ein besseres Los als ein halbes Herz – hätte ich noch ein ganzes, so gäbe ich es dir!‹ Geliebt werden und nicht wieder lieben können – auch das, Onkel, muß durchgekämpft sein! – Das weiß ich von Sigmund Gruber her.«

»Ich wäre wirklich gern zu den beiden Gruber gefahren,« sagte nach einer Weile der Pfarrer, »ich denke an beide freundlich zurück, an den alten und den jungen.«

»Und ich,« versetzte Cilgia, »ich ärgere mich, daß ich bei der Annahme der Stelle zu wenig überlegt habe, wie nahe ich damit den Gruber rücke. Wenn ich einen von ihnen sehe, und das geschieht ja jetzt oft, mache ich mir immer Vorwürfe, wie schlecht ich den jungen behandle und wie undankbar ich gegen den alten bin. Ich möchte übrigens den jungen ganz wohl leiden, wenn er mich nur nicht liebte. Seit ich selber so im thätigen Leben stehe, habe ich auch Sinn für die Säumerei und es gefällt mir, wie er mit den Knechten und Pferden umgeht. Er ist ein wenig derb, aber er ist nicht roh, er überanstrengt weder Mensch noch Tier. – Die Geschichte vom Gemsfallenstellen ist aber doch wahr,« versetzte sie nach einigen Augenblicken; »denkt, Onkel, ich habe die große Unvorsichtigkeit begangen und ihn frei und frank gefragt, was an dem häßlichen Gerücht sei.«

»Warum Unvorsichtigkeit?«

»Er wurde blaß wie ein Leintuch – er stöhnte, nun wisse er, warum ich ihn nicht lieben könne – ob er denn ewig unter einer Thorheit leiden müsse, die er vor zehn Jahren als thörichter, verführter Junge begangen habe! – Es war so viel Leid in seinem Gesicht, daß er mich dauerte.«

Sie waren im freundlichen Münster angekommen; ein gemeinsames Mittagessen noch, dann stiegen Onkel und Nichte wieder zu Pferd und reichten sich die Hände zum Abschied.

Da umflorten sich die schönen goldbraunen Augen Cilgias doch. »Ich habe,« bekannte sie, »ein so gräßliches Heimweh nach dem Engadin – ich reite oft am Morgen früh zur Bündnergrenze und denke: dort über den Bergen liegt Pontresina; es ist schrecklich, daß ich es nicht mehr sehen darf!«

Ihre bebende Stimme brach ab. Mit einem raschen Ruck wandte sie das Pferd; sie ritt nach Mals zurück; der Pfarrer gegen Santa Maria und über den Ofenpaß nach Zernetz.

Die starke Seele, dachte er im Reiten; mit keinem Wort hat sie nach Markus Paltram gefragt.

Er unterhielt mit Cilgia einen regen schriftlichen Verkehr, die Säumer auf der Stilfserjochstraße nahmen ihre Briefe nach Tirana mit und gaben sie dort Säumern, die über die Berninahöhe zogen. Oft lag neben dem Brief für den Pfarrer noch einer an Menja Driosch in St. Moritz und in diesem wieder ein Brief, den nur Menja allein sehen durfte.

Dieser Brief kam von Paris – kam von Herrn Konradin, der schon fast so lange in der lebensvollen französischen Hauptstadt weilte wie Cilgia im einsamen Mals.

Auch über sein junges Haupt war ein Donnerwetter gegangen. Irgendwie war der Landammann dem Thun und Treiben seines duckmäuserischen Sohnes auf die Spur gekommen: er hatte erfahren, daß er der Verfasser des vielgesungenen Liedes sei: »Mein Engadin, du Heiligtum«, und war dann in das verschwiegene Poetenkämmerchen gedrungen. Da hatte er mit grimmigem Zorn die Verse seines Jüngsten der Landämmin vorgelesen und, was schlimmer war, einen Brief mit Beleidigungen ins Haus geschickt, vor dessen Fenstern die Blumen Menjas blühten. Die Flamme der alten Zwietracht zwischen Driosch und ihm war neu aufgeschossen, und dem armen jungen Dichter flogen die bösen Worte um den Kopf: »Du Revolutionär – du überflüssiger Verseschmied – du Verräter an den Ueberlieferungen des Hauses!«

Herr Konradin war jetzt als angehender Kanzlist bei seinem Bruder in Paris, wo, meinte der Landammann, die blonde Menja Driosch sich schon werde vergessen lassen.

Aber über Mals fanden Konradins Briefe den Weg nach St. Moritz und ob sie auf dem weiten Umweg auch steinalt wurden, so streuten sie doch hellen Sonnenschein in ein kleines unglückliches Herz. Und dazu schrieb dann noch Cilgia: »Siebzehnjährige Menja.

– Laß Deine Blumen noch ein paar Jährchen blühen.

– Ich freue mich auf Eure Hochzeit!« –

Im Winter – es ist der zweite, seit sie von Pontresina fort ist – kommt ein Brief von Cilgia und eine Stelle besonders fesselt die Aufmerksamkeit des Pfarrers.

»Denkt Euch,« schreibt Cilgia, »was für eine sonderbare Bitte der alte Gruber an mich gerichtet hat. Eine junge reiche Bauerntochter in Reschen, eine muntere Neunzehnjährige, frisch wie aus dem Brunnen – ich kenne das Mädchen – hat sich in die blauen Augen des Sigismund verschaut, ihre Eltern wollen, der alte Gruber will, ich weiß ja nicht, wie das alles gefädelt worden ist, nur der Junge will nicht! Jetzt meint der Alte, da ich Sigismund ja doch nicht nehme, solle ich ihm den Kopf zurecht setzen. Ich werde mich überwinden und ihm meine traurige Geschichte von Pontresina erzählen.

»Ich bin über diese Wendung froh – a Porta hat mir bei seinem letzten Besuch so warm zugesprochen, ich sollte mich des jungen Grubers erbarmen, es liege gewiß ein Glück darauf. Ich begann ernsthaft zu überlegen. Denn ich höre jetzt mehr auf den Rat erfahrener Leute als in Pontresina. Aber die Geschichte der Rescherin läßt mich kühl, das ist doch ein Zeichen, daß alles, was ich für ihn empfinde, nur freundschaftliche Achtung ist. Die Verlobung Fortunatus Lorsas mit der Scanfserin ist mir näher gegangen – ich wünsche ihm tausendmal aus vollem Herzen Glück!«

Der Pfarrer seufzte: Lorsa und Cilgia wären ein Paar nach seinem Herzen gewesen.

Ein ernster, sehr ernster Brief Cilgias mit der Aufschrift: »Dieses Schreiben drängt!« traf im Frühling beim Pfarrer ein.

»Diesmal, Onkel, schreibe ich Dir vom Suldenhof. Wie ich dahin gekommen bin? Das ging wunderlich zu. – Ich lasse seit einigen Wochen wieder im Moor arbeiten; mein Baron ist im Salzburgischen, die Händler zahlen nichts, die Leute, denen wir schuldig sind, werden ungeduldig, der Bankier in Innsbruck rührt sich nicht, und ich sitze eines Samstags morgens auf der Schreibstube, klemm den Kopf zwischen die Fäuste und frage: Was soll ich thun, wenn am Abend die Arbeiter kommen, um ihren Vierzehntaglohn zu holen? Sagen: wir sind bankerott? – Da tritt der alte Gruber ein, ich gebe ihm auf seine Frage wegen der Abfuhr von Torf für die Pfanne in Hall zerstreute Antwort. ›Was ist Euch?‹ fragt er, ich bekenne ihm meine Verlegenheit, er sagt: ›So, sechshundert Gulden braucht's, wenn der Baron nicht als zahlungsunfähig ausgeschrieen werden soll? – Da sind sie. Ich nehme die Gefahr auf mich, denn so schlimm steht's mit Mont noch nicht.‹ So kann ich meine Arbeiter und verschiedene drängende Schuldner bezahlen; vierzehn Tage später erhalte ich aus Salzburg das Geld, aber zugleich die Weisung des Barons, die Leute in dem Maß zu entlassen, als sie anderwärts Verdienst finden, und einer nach dem anderen drückt mir jetzt die Hand. Der Zusammenbruch meines geliebten Moorunternehmens preßt mir die Thränen in die Augen, aber auch das von Gruber entlehnte Geld brennt mich. Es muß zurückbezahlt werden – sofort! Ich höre, daß der alte Lorenz bettlägerig oder doch ans Haus gefesselt ist – es liegt mir daran, die Summe wieder selbst in seine Hände zu legen. Ich besiege eines Morgens alle Bedenken und reite den weiten Weg nach dem Suldenhof. Die Leute, besonders der alte Lorenz, machen sich ein Fest aus meinem Besuch. Ich muß mir den weitläufigen, schönen Hof ansehen, man spricht viel, viel, nur nichts von der jungen Rescherin, ich verspäte mich am Abend, Sigismund Gruber reitet mit mir zur Begleitung durch die Nacht – und dann – – –

Ich wußte ja, daß es so käme, wenn ich den Suldenhof besuchte! – – Er wirbt wieder um mich. – Und, Onkel, ich fange an zu überlegen – nein, ich überlege nicht – ich kämpfe. Ich würde den alten Vater so gern glücklich sehen – Onkel, Du würdest mir einen großen Dienst erweisen, wenn Du die Reise unternehmen wolltest – ich würde mich so gern mit Dir beraten! – Ich bringe die Schlacht meiner Gedanken nicht fertig. – Aber ich bitte, rasch, Onkel; ich fürchte, mit dem alten Gruber geht's zu Ende.«

Und der Pfarrer reist nach dem Suldenhof.

Zum schwersten, was er je erlebt hat, gehört der Abendgang mit seiner Nichte im Schein des Ortlergebirgs.

»Sigismund weiß alles,« berichtet ihm Cilgia auf diesem Gange, »er weiß, daß es eine matte, auf die Achtung für ihn und seine Familie gegründete Liebe ist, die erst wachsen und stark werden muß. Gott, wenn mir nur meine seligen Eltern ein Zeichen geben würden, was ich thun soll! Ich möchte den alten Lorenz nicht dahinfahren lassen ohne Trost und kann doch fast die Verantwortung nicht tragen, das ›Ja‹ zu sprechen. – Onkel, soll ich in die weite Welt?«

Erschütternd ringt Cilgia.

»Sie thun mir alles zulieb!« stößt sie hervor. »Da ich nicht gern im Tirol bin, so will sich Sigismund in Puschlav niederlassen und dort eine Säumerei einrichten. Der alte Lorenz ist einverstanden.«

Der Pfarrer ist ratlos. – Der junge Gruber mit seinem klaren, trockenen Wesen gefällt ihm besser als je.

Aber Cilgia liebt den Vater – nicht den Sohn.

Und sonderbar – es ist, als ob der alte sieche Mann, der ein so arbeitsreiches Leben hinter sich hat, mit seinem Lebensflämmchen nur noch zuwarte, bis sie ihr »Ja« spricht.

Mutteraugen bitten auch darum, und selbst der ältere Bruder Sigismunds, sonst ein protziger Mann, ist Cilgia gewogen.

Am anderen Tag sagt sie: »Onkel, ich gehe jetzt allein ein bißchen in Wald und Flur.«

Und siehe da – mit stiller Fröhlichkeit kommt sie zurück. »Onkel,« sagt sie, »ich habe so innig gebetet wie noch nie. – Ich weiß meinen Weg – ich habe Frieden!«

Dann tritt sie an das Bett des alten sterbenden Gruber.

Sie hat ihr Ja noch immer nicht gesprochen – blaß wie eine Märtyrerin steht sie da.

Der alte Gruber blickt sie, während er vom Geistlichen die Sakramente empfangt, mit einem unsäglichen Ausdruck der Bitte an. Sein Atem geht schwer.

Die heilige Handlung ist vollendet. Da schwankt sie auf den Sterbenden zu, nimmt seine kalte weiße Hand und kniet nieder. »Komm, Sigismund, kniee mit mir und gib mir die Hand – und Ihr, Vater, gebt uns den Segen!«

Da verklären sich die Züge des Waldtöters.

»Sigismund, halte sie in Ehren. – Cilgia, Herzenskind – also doch!«

Die Stimme des Alten bricht sich in Röcheln und Schluchzen.

Der Geistliche tritt vor und hält die Monstranz über die Knieenden. »Sie hat in Mals so viel für die Armen gethan, daß ihr die Kirche den Segen nicht verweigern kann. Die Kirche segnet euch.«

Der alte Gruber schaut nur noch.

»Cilgia« haucht der Sterbende mit dankbarem Blick. Verlobung und Tod sind beisammen. Und Sigismund Gruber weint wie ein Kind.

*

Monate sind seit diesem erschütternden Tage verflossen – es geht gegen den Herbst – aber der Pfarrer muß immer daran zurückdenken! Die Verlobung liegt ihm nicht recht. Doch übermorgen ist die Hochzeit Cilgias mit Sigismund Gruber.

Nur eine Beruhigung gibt es: sie selbst ist jetzt mit Festigkeit dabei – und eine Freude: er kann dann und wann zu ihr hinüberreiten – zu ihr, seinem Augapfel.

Uebermorgen ist die Hochzeit. »Ich bin doch dabei,« hatte der alte Gruber gemeint, »wenn ihr mich schon nicht seht.«

Ja, überlegt der Pfarrer, wenn der alte Lorenz noch ein paar Jahre das Leben gehabt hätte – Sigismund wird doch gefeit sein gegen die Gefahren, die an der Straße lauern. Und dabei denkt er nicht an die Lawinen.

Er nimmt die Bilder Paolo Vergerios und Katharina Diantis von der Wand.

Da klopft es.

Markus Paltram, der Büchsenmacher, kommt in schwarzem Anzug.

»Herr Pfarrer,« sagt er ruhig, »mein Bub Märklein ist gestorben, könnte morgen die Beerdigung sein?«

»Setzt Euch, Paltram!« Der Pfarrer brachte das trauliche »Markus« nicht mehr über die Lippen. »Woran ist es gestorben? Ja, morgen, nur nicht übermorgen!«

»Gichter – es ist gut, daß es gestorben ist – es war ein schönes und liebes Kind – ich mag ihm den Frieden gönnen,« sagt Markus dumpf.

»Wie kommt Ihr mir vor, Paltram?«

»Ich wünsche keine Nachkommenschaft,« erwidert er finster. »Ihr werdet mit mir denken – was kann von Markus Paltram Gutes kommen?«

Da schlägt der Wind den Fensterladen zu.

»Es kommt ein Wetter,« sagt der Pfarrer und befestigt den Laden.

Markus wirft einen Blick auf die ihm so wohlbekannten Bilder. Da würgt er es heraus: »Wie geht es Cilgia?«

»Ich schicke die Bilder, woher sie gekommen sind – über den Berninapaß. Ich trenne mich schwer von ihnen, aber sie liebt sie mehr als ich, sie werden ihr Hochzeitsgeschenk.«

»Ihr Hochzeitsgeschenk! – Sie heiratet Gruber?«

Und der Pfarrer nickt.

Markus Paltram taumelt auf: »Lebt wohl, Herr Pfarrer!«

Mit einem langen seltsamen Blick sieht ihm der Pfarrer nach – es ist ihm unheimlich zu Mut.

Paltram taumelt wie ein Trunkener heimwärts; zu Hause reißt er das Gewehr von der Wand.

»Was willst du!« fragt seine Frau entsetzt.

»Auf die Jagd!«

»Vom Leichlein des Kindes hinweg – von unserem toten Märklein!« jammert Pia.

»Ja, von unserem toten Märklein!« donnert er ihr zu.

Es ist, als ob das Weiße seiner Augen leuchte – als sei er größer – ein anderer – nicht mehr Markus Paltram, der Schmied – sondern irgend einer aus alter Zeit.

Zitternd vor Entsetzen bleibt Pia; er aber geht – er geht das Berninathal empor. – Sieht er, wie sich das Wetter über das Gebirge wälzt – wie die fahlen Scheine um den Piz zucken und schweben? Gleich einer Mauer rückt die Finsternis heran – unter den oberen schwarzen Wolken fegen die unteren hin und her. Sie hängen wie Trauerfahnen ins Thal – in der Tiefe aber regt sich kein Lüftchen – es steht alles still – es ist eine Stimmung in der Natur, wie sie an jenem Tag sein wird, wo die Sonne zum letztenmal am Rande des Erdballs untergeht.

Markus Paltram steht am Morteratschgletscher – es ist Nacht.

»Cilgia!« ruft er.

Da ist es, als ob der Bann der Natur sich löse. Ein Luftstrom streicht vom Piz über den Gletscher abwärts, und es wetterleuchtet über dem Eise dahin.

In den Felsen und an den Gletscherkanten harft der Wind. Er singt ein Lied, so weich wie die klagende Stimme jener Pontresinerin, die nach Aratsch rief; lange gehaltene Töne erklingen sanft und voll Wehmut wie die Musik des Gletschers, die um den Schlummer der Liebenden zittert.

Und die Stadt im Eise erglüht, die grauen nackten Felsen der Isola Persa leuchten – sie werden dunkel, sie flammen wieder auf und die Lichter traumwandeln seltsam.

Schreitet nicht ein Paar engverschlungen durch die Gegend, so wie er und Cilgia gewandelt sind?

Aratsch und seine Geliebte!

Nein, sie werden schreiten – einmal am Ende der Welt einen kurzen, kurzen Tag.

Er aber wird nie mehr mit Cilgia wandeln – nie mehr – nie mehr!

Und der Name Paltram muß untergehen!

Denn also steht geschrieben: »Ich bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied!«

So denkt er.

Da dröhnt der Gletscher. Mit Donnergewalt zischen, rollen und kugeln die Blitze über die schwefelgelben Wände der Bernina herunter. Das Wetter bricht los.

Er wendet sich.

Ein Gewitter, wie es noch nie erlebt worden ist, geht durch die Berge. Da und dort flammen, vom Blitz entzündet, alte Arven wie Fackeln auf.

Die Bergamasken und Sennen erzählen noch heute beim Kienspan von dieser Nacht. Wie nie vorher sei der Camogasker losgebrochen, Gerippe und blutende Tiere vor und hinter sich, bis zu den höchsten Kämmen und Gipfeln sei er aufgestiegen. Siebenmal habe er den Piz auf falbem Pferd reiten wollen, habe aber, durch eine geheimnisvolle Macht abgeschlagen, immer wieder umkehren müssen. Am Morgen habe man in allen Thälern erschlagene Gemsen gefunden, Adler seien vom Blitz im Nest, Vieh unter den Schirmtannen getötet worden, Bergamaskerhütten in Brand aufgegangen und von Sassal Masone sei ein Schuß über Puschlav gelaufen. Und eine Stimme habe gerufen: »Wehe Tirol!«

Müde und abgeschlagen kam Markus Paltram im Lauf des Vormittages von der Jagd.

Er hatte nichts erbeutet als ein armseliges Grattier. Aber er brachte einen jungen Wolfshund mit sich. Er habe ihn von einem Bergamasker gekauft.

»Malepart« nannte er ihn. Denn er fand, er habe in dieser Nacht den schlechteren Teil erwählt.

Und er beerdigte Märklein, das Kind.

Jene Nacht aber ist deswegen mit allen ihren Schauern im Gedächtnis des Volkes geblieben, weil das Engadin darin seinen berühmtesten Büchsenmacher, vielleicht den einzigen, den es je besessen hat, verlor und dem Bündnerland der größte Jäger erstand, den seine Geschichtsblätter nennen, ein schon zu seinen Lebzeiten von der Volkssage wie von Wetterleuchten umspielter Held, der groß im Guten und Bösen, ein Mann von seltsamsten Thaten gewesen ist.

Markus Paltram – ein König in der Republik der Jäger – der König der Bernina!


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