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V.

Besuch in St. Moritz!

In der Sommerfrühe gehen Pfarrer Taß und Cilgia den herrlichen Pfad durch Lärchen- und Tannengrün dahin und in die tiefe, stille Waldfröhlichkeit scheinen von rechts her die blanken Dörfer Samaden und Celerina.

»Gerade hier bei dieser alten bärtigen Lärche war es,« sagt der Pfarrer, »wo mich Lorenz Gruber so dringend gebeten hat, daß ich alles thue, um dich seinem Sohn geneigt zu stimmen. Du wirst sehen, daß der Jüngling eines Tages vor das Pfarrhaus geritten kommt.«

»Es wäre umsonst,« antwortet Cilgia, die ein reizendes helles Sommerkleid nach jenem Schnitte trägt, der mählich aus Frankreich ins Hochland gekommen ist.

Allerliebst und wie das Waldmärchen sieht sie aus, dachte der Pfarrer.

Plötzlich aber bricht sie, in die Hände klatschend, in einen hellen Jubelruf aus:

»Ein Spiegel – nein – eine Seele – die Seele des Waldes!«

Sie waren vollends in die Lichtung getreten, wo auf der Anhöhe zwischen Pontresina und St. Moritz der moorige Statzersee schweigend im Kreis der Tannen ruht.

»Was für ein sonderbarer kleiner See!« fährt sie nachdenklich fort. »Von weitem scheint er undurchdringlich und unheimlich wie die Nacht, aber jetzt – da sehe man her, diese perlende Klarheit! Die Wasser spiegeln den Himmel, die Spitze des Piz Nosatsch, und sind doch nicht tief! Man sieht bis auf den schwarzen Grund, da liegen modernde Stämme wie Leichen.«

Sie war an das flache Ufer getreten, kniete nieder und wollte die Hände in die Flut strecken.

Da schrie sie plötzlich: »Das Ufer schwankt!«

»Ja, zurück, du Unvorsichtige!« rief der Pfarrer, und lachend über ihren eigenen Schreck kam sie gelaufen.

»Bestrafte Neugier!« lachte der Pfarrer, stillstehend, »aber schau ihn an, den kleinen, stillen See! Scheint er nicht harmlos wie ein schlafendes Kind? Dennoch hat im Engadin keiner so viel Menschenleben gefordert wie er. Die warme, klare Flut lockt zum Bad. Wer aber mit den Armen das Ufer los läßt, ist rettungslos verloren. Der eine Fuß sinkt im Moorgrund ein; wie sich der andere sperrt, packt der Schlammrachen auch ihn und jeder Atemzug treibt den Badenden tiefer in den Grund. Mit jedem Herzschlag sinkt er um Fingersbreite, das Wasser steigt ihm an die Brust, an den Mund, ein letzter Schrei, dann ragen nur noch zwei Hände empor, zuletzt schließen sich Wasser und Schlamm über den Fingerspitzen, und fände nicht ein zufällig Vorübergehender die Kleider am Ufer, so würde man nie erfahren, daß hier ein armes Menschenkind elend versunken und ertrunken ist.«

»Der entsetzliche kleine See! Wer dächte, daß er so abgründig ist – er ist doch so schön!«

In düsterer Träumerei blickte Cilgia vor sich hin.

»Der See ist ein Camogasker,« sagte der Pfarrer.

Da wurde der Ausdruck ihres Gesichtes noch schmerzlicher. Sie dachte an Markus Paltram.

Wie dieser See sollte er sein? In was für ein wunderbares, begeistertes Augenpaar aber hatte sie jüngst dort am Waldbord geblickt, in was für ein Angesicht voll geistiger Wucht! Die heiße Hoffnung und Ueberzeugung lebte seither in ihr, daß Paltram durch sie ein Mann von großer That werden würde. Sie hielt aber ihre Hoffnung so tief und geheim, daß sie selbst zu ihrem Onkel nicht davon sprechen mochte.

Schweigend schritten sie von dem kleinen unheimlichen See hinweg durch die von der Morgensonne rot überleuchteten Stämme und betraten eine kleine stille Wiese, auf der sich ein einsames Gehöft erhebt. Vor ihnen lachte jetzt mit einem Schlag die Landschaft von St. Moritz.

Aus einem frischen See, der ihnen märchenhaft zu Füßen lag, zuckten grüne und blaue Strahlen, und St. Moritz, das Dörfchen, das mit seinem schiefen, schlanken Kirchturm altväterisch lieblich an seinem Berghang stand, spiegelte sich in der anmutigen Wasserfläche. Hinter dem See glänzten smaragdene Wiesen, tiefer noch, von Waldhügeln halb versteckt, schimmerten wieder Wasser im Opalglanze. Ueber ihnen hoben die Margna ihr schönes, sanftes und der Piz Julier sein stolzes, schroffes Haupt und wunderbares Schneelicht rann von ihnen in das Sommerbild.

Cilgia stand, die Finger ineinander verkreuzt, stumm vor der reinen Schönheit des Thales.

»Du hast recht,« sagte der Pfarrer, mit einem Lächeln auf die gefalteten Hände seiner Nichte blickend, »es ist ein Bild wie ein Gebet.«

»Welche Gegensätze, die zwei einander so benachbarten Seen!« sagte sie. »In jenen Wassern wohnt die Nacht und kein Sonnenstrahl vermag sie daraus zu tilgen, in diesen aber sonnt sich der Tag, und was an Licht und Frohsinn in den Lüften und um die Bergspitzen schwebt, hat er in seine Flut gesogen.«

»Er ist wie die ruhige, heitere Volksseele des Engadins,« bestätigte der Pfarrer mit Behagen.

Da glitten vom St. Moritzer Ufer her zwei Fischerboote durch die lichte türkisne Flut. In jedem standen zwei Jünglinge und schwenkten, als sie Cilgia und den Pfarrer entdeckten, die Hüte.

»Konradin von Flugi und Luzius Planta, Fortunatus Lorsa und Andreas Saratz,« jubelte Cilgia.

Ein prächtiges Vierblatt von Freunden! In aller Frühe hatten sie sich zusammengethan und überraschten den lieben Besuch durch den Empfang am Seegestade.

Cilgia stieg in den ersten, der Pfarrer in den zweiten Kahn und in glücklicher Fahrt trugen die Schifflein die scherzende Jugend und den fröhlichen Pfarrherrn über den lichten See, an dessen einem Ufer ein schöner Bergwald seine Zweige in die Flut niedersenkt, während sich am anderen aus dem schwellenden Sammet einer grünen Wiesenanhöhe das weiße Dörfchen St. Moritz erhebt.

»Wir wollen,« sagte Konradin von Flugi, »unsere Gäste weder hungern noch dürsten lassen, aber euch doch zuerst das Wunder unseres Thales, die herrliche Sauerquelle, weisen, die dort drüben, wo der Inn in den See fließt, aus dem Erdreich sprudelt.«

»Diesen Brunnen möchte ich allerdings gern sehen,« erwiderte Cilgia mutwillig, »denn es geht sonderbare Mär von ihm. Einem sinnigen Knaben, der nirgends lieber als an der Quelle weilte, erklangen, als er stundenlang in die strudelnde Klarheit blickte, mit dem Summen des Quells die Rhythmen der Seele, und er wurde Poet!«

Herr Konradin errötete unter dem sonngoldenen Blick Cilgias, denn er machte aus seiner Dichterei ein Geheimnis. Der Pfarrer im anderen Boot unterhielt sich indessen angelegentlich mit Luzius von Planta, den er wegen seines seinen, klaren Wesens besonders liebte.

Mit einem Lied glitt die Gesellschaft über die leuchtkräftige Flut, die sich im frischen Thalwind leise zu kräuseln begann, und jugendliche Arme trieben die Boote noch ein gutes Stück im krystallklaren Fluß des Inns aufwärts, der durch ebene Matten zum See geschlängelt kommt. Dann landete die kleine Gesellschaft und lenkte ihre Schritte gegen ein altes steinernes Gebäude, das sich zwischen dem Inn und dem Piz Rosatsch in den Wiesen erhob.

»Unsere Trinklaube!« erklärte Herr Konradin.

In bunten Gruppen lagerte zusammengewürfeltes Volk auf dem grünen Rasenteppich vor der Halle. Manche hatten ein Feuer angezündet, zu dem sie das dürre Reisig im nahen Wald gesammelt, um den Trunk aus der Sauerquelle etwas zu erwärmen, andere spielten mit Karten oder Würfeln, einige streckten sich an der Sonne, noch andere liefen im Schweiß ihres Angesichts hin und her, um die Wirkung des Wassers zu erhöhen, und die meisten holten oder brachten in Gefäßen mannigfaltigster Art frischen Trunk.

»Es ist lustig,« meinte Cilgia, »die Leute passen ja gar nicht zusammen. Da sind Frauen aus dem Unterengadin mit ihrer dunklen nonnenhaften Tracht, da sind ernste Bündner aus den deutschen Thälern, leichtsinnige italienische Fahnen mit schreiendem Rot und die fröhlichen Bursche und Mädchen aus Tirol.«

»Nach alter Sitte trinken die Heuer und Heuerinnen erst zu St. Moritz Wasser, ehe sie nach vollendeter Ernte wieder heimwärts ziehen,« erzählte Herr Konradin.

Gefesselt von dem schönen Sommerbild, schaute Cilgia um sich.

Hier trafen ihre Blicke einen alten gebrechlichen Mann, der den Trinkbecher in zitternden Händen hielt, dort sah sie ein blasses, in ein Tuch eingeschlagenes Mädchen, dem die Mutter den Trunk bot.

»Ist die Quelle denn für alle gut?« fragte sie.

»Das ist nicht anders,« lachte der Pfarrer, »die Dünnen trinken das Wasser, um dick zu werden, und die Dicken erwarten von ihm jugendliche Schlankheit.«

»Doch merkwürdig,« erwiderte sie, »es ist meist armes Volk, das hier zusammenkommt.«

»Herrenleute sind allerdings keine da!« lächelte der Pfarrer, »die gab es nur früher einmal.«

Sie hatte den langen Hitz bemerkt. Da sie nicht wollte, daß er sie anspreche, trat sie mit dem Pfarrer und den Jünglingen in die nach Süden offene, stark verwetterte und verlotterte Trinklaube. Der rasche Lorsa bückte sich zum Quellenbehälter, schöpfte mit blechernen Bechern das perlende Naß und bot es dem Pfarrer und Cilgia.

»Willkommen zu St. Moritz, liebe Freundin!«

»O, was für feine kleine Silberkügelchen steigen in dem Wasser auf!« rief Cilgia überrascht, und als sie den Becher an die frischen, schwellenden Lippen geführt hatte, sagte sie lebhaft: »Das schmeckt ja köstlich, das prickelt wie fröhliches Leben. Daß aus der Erde so herrliche Spenden kommen, dachte ich nicht.«

Ueber Herrn Konradins Gesicht ging ein glückliches Leuchten, er selber und die Jünglinge tranken das Wasser nach Herzenslust.

»Wie häßlich aber der Behälter für das wunderbare Geschenk Gottes ist: zwischen halb verfaulten Brettern sprudelt die arme herrliche Quelle und sie ist doch so reich, daß sie fast ganz ungenützt weiter fließen muß. Da könnte ja ein ganzes Volk trinken! Ist das nicht ein Unrecht gegen die Güte der Natur!«

Aufmerksam blickte Cilgia in die Grube, wo der klare Quell flutete und brodelte und mit leisem Summen und Zischen die silbernen Bläschen stiegen und zerplatzten.

»O, die Quelle ist nur ein kleiner Teil dessen, was stahlhaltig aus dem Piz Rosatsch fließt,« versicherte Lorsa.

Doch Cilgia schaute sich nun in der zerfallenden Halle um.

»Ich verstehe nicht, wie hier alles so ungepflegt ist; der Mörtel fällt von den Wänden und wo er hält, ist er mit Namen in Rotstein übersudelt, da sollte man mit schönem weißem Kalk über die Wände fahren.«

»Und die Bänke, die noch da sind, brechen, sobald man sich darauf setzen will,« lachte der Pfarrer, der soeben nur mit Mühe einem Sturze entgangen war.

Konradin von Flugi biß sich vor Aerger über den Zustand der Halle auf die Lippen. Cilgia aber studierte die lateinische Inschrift einer Marmortafel.

»Nunc quas quaeris lymphas dant saxa salubres
Grata sub ingratis rupibus unda fluit
Nunc alii Cereris jactent et munera Bacchi
Omnis opes Tellus ducit ubique suas«

Sie versuchte nicht ohne Geschick die Uebersetzung.

»Wie thöricht, was ich sage, wird doch kein Vers,« schmollte sie.

»Eine deutsche metrische Uebersetzung ist dir bereits von einem gelehrten Haupt, Friedrich von Tscharner, vorgethan,« lächelte der Pfarrer.

»Rauhes Geklüft gibt dir, was du suchst, heilbringende Wasser,
Aus unfreundlichem Fels rieselt der freundliche Quell,
Rühmen andre sich ob Ceres Gaben und Bacchus –
Eigene Schätze gewährt jeglichem Land die Natur.«

»Für die schlichten Leute, die an die Quelle zu trinken kommen, würde eine Inschrift in neuerer Sprache genügen,« meinte Cilgia.

Herr Konradin aber ereiferte sich für den Ruhm der Quelle und erzählte von den berühmten Gelehrten, die sie in früheren Zeiten aufgesucht und mit ihrem Lobe bedacht hatten, von Theophrastus Paracelsus, einem gar wunderlichen Kauz und großen Gelehrten, der im Jahr 1525 zu St. Moritz erschien und nachher schrieb, daß er den Sauerbrunnen allen in Europa voranstelle. Dann sprach er von Cesat, dem italienischen Arzt, der St. Moritz großen Ruhm bereitet, und von dem Naturgelehrten Scheuchzer aus Zürich, der vor hundert Jahren die Quelle gepriesen hatte.

Drüben in St. Moritz läutete jetzt die Elfuhrglocke. Da mahnten die Jünglinge zum Aufbruch.

Ein Häuflein italienischer Bauern kochte am Feuer ihren Mais und neben der Pfanne schlug einer auf der Guitarre ein Volkslied; die Tiroler aber hatten kalte Mundvorräte ausgepackt und ließen sich das einfache Mahl schmecken.

»So ist's halt,« sagte der Pfarrer, »wer nach St. Moritz zum Brunnen kommt, muß das Essen auf dem Rücken mitbringen, wie die Schnecke ihr Haus, und froh sein, wenn man ihm irgend einen Verschlag oder Estrich im Dorf zum Nachtquartier gibt. Darum haben sich die vornehmen mailändischen Familien zurückgezogen, die vor hundert Jahren St. Moritz besuchten.«

»Ich verstehe das nicht,« versetzte Cilgia eifrig, »mit Schmerzen läßt man das junge Volk in die Fremde ziehen und mühsam ringen die Engadiner in fremden Städten um ihr Brot. Warum sollten nicht zwei oder drei, die sich draußen im Heimweh verzehren, ihr Auskommen als Badewirte in St. Moritz finden?«

»Eben das will man nicht,« erklärte der Pfarrer in seiner gemütlichen Ruhe. »Wir Engadiner haben unsere Mucken und treiben uns wohl in der Fremde gern und geschickt unter den Fremden um, daheim aber lieben wir es, unter uns zu sein. Und nicht wahr, Herr Konradin,« fügte er lachend bei, »die von St. Moritz sind die stärksten Aristokraten?«

Allein Herr Konradin, an den sich der Pfarrer wenden wollte, war nicht mehr bei der Gesellschaft. Tiefsinnig schlenderte er fünfzig Schritte hinter ihr her. Man war bei dem Steg angelangt, der über den Inn führte. Dort blieb Cilgia plötzlich stehen und staunte in die klaren Wasser.

Die drei Jünglinge aber, die mit dem Pfarrer weiter schritten, deuteten scherzend an, daß sie wohl auf Herrn Konradin warte und sich allein mit ihm unterhalten wolle.

»Jetzt schüttet er ihr wieder das Herz aus,« spottete Luzius von Planta, nach den Zweien zurückblickend.

Allerdings sahen Cilgia und Konradin im sanften Aufstieg gegen das Dörfchen nicht, wie der See unter ihnen leuchtete und funkelte.

»Ja, Ihr habt recht,« erwiderte Konradin eben auf eine lebhafte Ansprache Cilgias, »etwas thun, was vielen zu gute kommt! – In der unteren Schweiz blühen Baden und Schinznach an ihren Quellen, im Appenzeller Land sammelt sich eine feine Welt im Heinrichsbad – aber es ginge mir schlimmer als jenem, der es schon versucht hat, mit dem Brunnen von St. Moritz Leidende erlösen zu wollen.«

»Erzählt doch, Herr Konradin!« bat Cilgia.

»Es ist eine Historie für einen Kalender!« lachte er bitter. »Unser Dorf ist damals statt zu einem Mineralbad zu einer überflüssigen Kirche gekommen.«

Da lachte auch sie neugierig.

»Es mögen jetzt zehn Jahre her sein,« erzählte Konradin. »Weil immer etwa noch vornehme Reisende, selbst Prinzen und Fürsten an unseren Gesundbrunnen kamen, glaubte ein junger St. Moritzer, der die Welt gesehen hatte, unser Dorf könnte ein Heilbad werden und dadurch großer Wohlstand in die Gegend ziehen. Schon neigte sich ihm die Gemeinde zu. Allein ein einflußreicher Mann widersetzte sich: ›Was brauchen wir ein Bad mit seiner Unruhe!‹ Und da er von echter Frömmigkeit und im übrigen wohlmeinend war, machte er einen Gegenvorschlag: ›Unser altes Wallfahrtskirchlein ist baufällig, sein Turm steht schief, laßt uns statt eines neuen Bades eine neue Kirche bauen!‹ Parteien bildeten sich. Und plötzlich kam ein stellenloser Pfarrer, der ein St. Moritzer Kind war, ins Dorf, man fand, es sei billig, daß man für ihn sorge, und unser Dörfchen mit seinen hundertachtzig Seelen bekam statt eines Bades nicht nur zwei Kirchen, sondern auch zwei Pfarrer, bis der eine starb.«

»Das ist wirklich eine komische Geschichte!« lachte Cilgia.

»Mich aber däucht sie traurig,« versetzte Konradin, »denn hört: der das Bad wollte, war der junge, thatkräftige Driosch – der uns die überzählige Kirche gab, die noch nicht bezahlt ist, mein Vater.«

»Und Ihr liebt die Tochter seines Gegners,« ergänzte Cilgia die Gedanken Konradins. »Aber sagt: es ist ja doch durch den Veltliner Raub alles anders geworden – das Engadin schreit nach neuem Leben!«

Sie waren ins Dörfchen St. Moritz auf der sonnigen Höhe gekommen.

»Da steht die thöricht erbaute Kirche,« zürnte der Jüngling, »gleich neben ihr wohnen wir!«

»Und wessen sind die schönen Blumen, die Euch gegenüber die Fenster schmücken?« fragte Cilgia.

»Menjas,« erwiderte Herr Konradin.

Einander in die Fenster schauten die Häuser der zwei Männer, die so bittere Gegner waren!

Richtig: oben hinter den Nelken und Geranien erschien der liebliche blonde Mädchenkopf, und die Freundinnen grüßten nickend.

Dann traten die beiden Nachzügler mit der übrigen Gesellschaft in das stattliche Junkernhaus, durch das die Luft bäuerlich-herrischer Vornehmheit wehte.

Voll aristokratischer Liebenswürdigkeit kam ihnen der Landammann entgegen und führte sie an den festlich gedeckten Tisch. Der schöne würdige Mann mit glattrasiertem Gesicht und wohlgepflegtem Wesen sprach sein Ladin mit einer gewissen Umständlichkeit und Zierlichkeit, die er selbst beim Tischgebet nicht ablegte, und besaß die Gabe, sich mit allen zugleich zu unterhalten.

Besonders zuvorkommend war er gegen Cilgia, auch für jeden der Jünglinge hatte er ein aufmerksames Wort, nur für Konradin nicht, sondern vernachlässigte ihn, während der Sohn mit fast ängstlicher Spannung auf das Gesicht des Vaters sah und prüfte, ob das, was er thue, auch seinen Beifall habe. Und im Gefühl innerer Unfreiheit benahm er sich linkisch.

Cilgia wandte sich mehrere Male sehr freundlich an ihren Schützling, und die wackere einfache Mutter Konradins, die sich besonders mit dem Pfarrer unterhielt, aber gleichsam immer auf der Wacht stand, um mit einem glättenden Wort zur Stelle zu sein, wenn der Vater den Jüngling kränken sollte, dankte es ihr mit einem warmen Blick.

Den hatte der Landammann aufgefangen.

»Ja, ja, Fräulein,« wandte er sich an Cilgia, »ich bin manchmal in Sorge um Konradin. Er ist jetzt zwanzig Jahre alt, aber man weiß nicht: ist der Duckmäuser beschränkt oder klug, wird er im Leben Axt oder Stiel?«

»Axt wird er – nicht wahr, Herr Konradin, Axt?« Und sie reichte dem errötenden Jüngling freimütig die Hand.

»Glauben Sie fest, Herr Landammann, Sie werden an Herrn Konradin noch große Freude erleben! – Er kommt nur etwas später als andere; denn Kirschen und Trauben werden nicht zu gleicher Zeit reif.«

Mit ihren großen schönen Augen sah sie den alten Aristokraten siegreich an. Der Landammann lachte: »Wohlan! Das will ich noch gern erleben, was aus Konradin Kluges wird!«

Nach dem Mittagsmahl sagte der Pfarrer: »Jetzt bitte ich um Entschuldigung, ich möchte gern noch Driosch grüßen.«

Ein Schatten der Verdrießlichkeit huschte über das Gesicht des Landammanns.

Pfarrer Taß aber scherzte beschwichtigend: »Zwei so gescheite Männer wie ihr sollten überhaupt gut miteinander auskommen. Daß Driosch Euch bei den Franzosen verraten habe, glaubt Ihr wohl selbst nicht mehr?«

»Hm, hm,« versetzte der Landammann, »für einen andern Glauben haben wir uns doch etwas zu stark auf dem Strich.«

»Und Frau Landämmin,« wandte sich der Pfarrer an die Mutter Konradins, »ich nehme also, um unparteiisch zu sein, heute abend Eure und Cilgia die Gastfreundschaft Drioschs in Anspruch. Und morgen in aller Frühe geht's auf die Forcla sur Ley.«

»Auf die Forcla sur Ley? Was habt Ihr auf den wüsten Felsen zu suchen?« bemerkte der Landammann verwundert.

»Da müßt Ihr Cilgia fragen!« scherzte Taß; »ich weiß nur eines: die alten Pfarrersknochen müssen mit.«

»Die Schönheit des Landes wollen wir sehen,« lachte Cilgia glücklich.

Der Landammann schüttelte den Kopf: »Die Schönheit des Landes – es spuken so merkwürdige neue Ideen in der Welt.«

Im frohmütigen Hause Drioschs, in welches Pfarrer Taß jetzt seine Nichte führte, stand, als sie eintraten, Menja wie ein Mütterchen unter einer Schar jüngerer Kinder, Mädchen und Buben.

Mit einem Ruf der Freude eilte sie auf die Freundin zu; und der lebhafte, selbstbewußte Driosch, der das rotbraune Kleid des Viehhändlers trug, erhob sich überrascht und legte die Kreide, mit der er eben auf dem Schiefertisch gerechnet hatte, zur Seite.

»Also dem alten Lorenz habt Ihr den Korb gegeben!« lachte er nach der ersten Begrüßung. »Es ging ihm sehr nah' – er ist ja ganz verschossen in Euch. Vielleicht besinnt Ihr Euch doch noch anders.«

»Hinaus ins Freie!« rief er dann dem Halbdutzend Kleiner zu. »Menja, eine Flasche Sasella!«

Bald nachher saßen die beiden Männer am großen Tisch und tranken den Veltliner aus dem uralten Familienfaß, das, vielleicht vor dreihundert Jahren zum erstenmal gefüllt, immer vollgehalten und nur bei festlichen Gelegenheiten angestochen und mit den edelsten Jahrgängen nachgefüllt wird.

Die beiden Freunde waren, wie es üblich ist, wenn zwei Engadiner zusammentreffen, bald in ein politisches Gespräch verwickelt.

»Jetzt können wir gehen, jetzt bringt man sie nicht mehr vom Tische weg!« flüsterte Menja, die frische, zierliche Hagrose, Cilgia zu.

Mit einem schelmischen »Auf Wiedersehen!« verließen die Mädchen die Stube.

Sie schwärmten durch das Dörfchen. Bald waren einige Mädchen beisammen und gingen gegen das uralte Wallfahrtskirchlein am obersten Ende des Dörfchens hinauf.

Die Jünglinge standen schon plaudernd auf der Wiese, und als nun die Mädchen kamen, grüßte man sich mit Nicken und Neigen.

Die Höhe, wo das uralte Wallfahrtskirchlein von St. Moritz steht, ist einer der herrlichsten Orte im Engadin.

Das Auge schaut in die wechselvolle, entzückende Gebirgs- und Wasserlandschaft gegen den Maloja und darüber hin auch ferne, traumschöne Spitzen, über die sich italienische Bläue spannt, es versinkt in das Lichtmärchen des St. Moritzersees, es steigt hinauf zu den reinen weißen Flammen der Berge und schweift hinab durch das Thal des Inns bis wieder zu fernen kühnen Höhen.

Die Gesellschaft labte sich an dem Bild. Da zog einer der jungen St. Moritzer, die sich den Freunden angeschlossen hatten, eine Mundharmonika aus der Tasche und blies darauf ein Tänzchen. Alsbald tanzte die Gesellschaft auf dem kurzen frischen Rasen in Luft und Sonne den Ringelreihen und nachher machte sie ihre Pfänderspiele.

Konradin von Flugi und Menja Driosch waren besonders glücklich. Alte Sitte schützte das Recht der Jugendgesellschaften, und selbst Junker Flugi oder Driosch hätten es nicht gewagt, ihre Kinder zu tadeln, daß sie sich im gemeinsamen Spiel freundlich begegneten.

Als dann aber wieder ein Ringelreihen beendet war, wandte sich Fortunatus Lorsa, der kraftvolle Jüngling, mit glühendem Gesicht an die Jungmannschaft und den Mädchenkranz.

»Freunde, Freundinnen,« rief er, »mich und Konradin von Flugi brennt ein Wort, das unser liebes Fräulein Cilgia Premont in der Trinklaube des Sauerquells gesprochen hat! Sie sagte: ›Vergeßt nicht, daß ihr a Portas, des großen Menschenfreundes, Schüler seid!‹ Und vergessen wollen wir es nicht, sondern Freunde der Menschen sein, Freunde vor allem der bedrängten Heimat. Wir Jünglinge, wir wollen uns zu einer Gesellschaft, ›Gioventüm d'Engadina‹, ›Jugend des Engadins‹, zusammenschließen und uns vorbereiten, daß wir da sind und jeder seinen Mann stellt, wenn die enge oder die weite Heimat ruft!«

Da stürmte Konradin von Flugi in flammender Begeisterung auf den Sprecher los und umarmte ihn: »O, Fortunatus, woran ich ersticke, das sagst du!«

Lorsa aber fuhr fort: »Und ihr, edle Mädchen, mögt mit uns sein, wenn wir die Zukunft beraten, damit eure Gegenwart die Freude am Werke erhöhe und euer Beifall uns anfeuere. Es ist ein alter Brauch, daß sich die Jugend des Engadins, im Winter zumal, bald zu St. Moritz, bald zu Madulein oder Zuoz, bald zu Samaden oder Pontresina begegnet. Das laßt uns in Zukunft häufiger thun und uns dann nicht nur der edeln Unterhaltung, sondern auch ernster Rede widmen, indem wir das besprechen, was dem Engadin frommt. Laßt rechtschaffene Jünglinge und Jungfrauen aus allen Dörfern zu uns treten! Du, lieber Konradin, den die Muse geküßt hat, magst unser Spielmann sein, und gemeinsam mit dir will ich, wenn unsere Zeit da ist, am Gesundbrunnen von St. Moritz eine Stätte gründen, wo viele Leidende Freude, Trost und Erquickung finden! Du aber, bedächtiger Saratz, der du den Blick für die derbe Wirklichkeit hast, werde der, der uns Straßen baut, und du, kluger Luzius von Planta, der du die Gabe feiner Beredsamkeit hast, bereite dich auf die Ratsäle vor, daß du dort mit gewichtigem Wort für das Gedeihen des Engadins kämpfest! So gründen wir denn die Gioventüm, den Bund der Jugend!«

Es war eitel Freude und Begeisterung im Kreise, und die Wangen der Jünglinge und Mädchen glühten.

Als nun aber Lorsa fragte, was für Jünglinge und Mädchen in den Dörfern man noch zur »Jugend des Engadins« laden wollte, und niemand einen ersten Vorschlag wagte, da trat Cilgia mit ruhiger Festigkeit vor und sagte:

»Ich empfehle euch Markus Paltram von Madulein, Büchsenmacher zu Pontresina.«

Eine Bewegung entstand, niemand hatte diesen Namen erwartet, und Luzius von Planta fragte vorsichtig: »Ist sein Ruf auch gut?«

Nun aber wehrte sich Konradin von Flugi für Markus Paltram und rühmte sein heldenmütiges Wesen, das er durch die Rettung des Tirolers bewiesen, und Lorsa sagte: »Brauchen wir mehr als das Wort unserer Freundin Cilgia?«

So sollte Paltram in den Freundeskreis der »Jugend des Engadins« eingeladen werden.

Vorschläge und Namen folgten sich nun, man tanzte und spielte, man schwärmte bis zum Sonnenuntergang, der eine Garbe Goldes auf das Thal und den See von St. Moritz streute und funkelnde Lichter an den Bergen entzündete, für den Jugendbund.

*

Ein freundlicher Abend, dann standen die beiden Freundinnen am Fenster ihres gemeinschaftlichen Schlafkämmerchens und schauten in die schweigende Hochgebirgsnacht und auf den See, in dem sich die Sterne spiegelten.

»Der Vater,« erzählte Menja, um die Cilgia den Arm gelegt hatte, »hätte es gar nicht ungern gesehen, wenn Lorenz Gruber mich statt Eurer für seinen Sohn gewollt hätte. Er hält so große Stücke auf den Handelsfreund – Gott sei Dank, hat sich Gruber nicht um mich gekümmert.«

Da gab Cilgia der kleinen Freundin lachend einen Kuß. »Nein, liebe Menja, bleibe du unserem Herrn Konradin treu!«

»Das kann ich nicht anders!« erwiderte Menja und blickte lächelnd und hoffnungsreich zu Cilgia auf.

»Und gefragt hätte ich dich gern schon oft,« flüsterte sie, »hast du auch einen Jüngling lieb?«

»Still, still, Menja!« versetzte Cilgia heftig, und »Ich weiß es selber nicht!« fügte sie lachend hinzu.

»Lorsa?« fragte Menja flüsternd.

»Lorsa? – nein!« erwiderte Cilgia träumerisch. »Wir wollen schlafen gehen, Menja – und beten, daß auf der Jugend des Engadins der Segen Gottes ruht.«


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