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Zwanzigstes Kapitel.
Eine Börsenpanik

Hauptmann a. D. Hamilton besaß eine Eigenschaft, welche vielleicht mehr als jede andere dazu beigetragen hat, Aufklärung und Kenntnisse unter den Menschen zu verbreiten: er war neugierig! Womöglich wünschte er alles, was gerade vorging, mit eigenen Augen zu sehen und sich über das Thun und Treiben anderer Leute genau zu unterrichten. In einer Stadt aber wie New-York findet der wißbegierige Fremde ein wahrhaft unerschöpfliches Feld der Beobachtung; unter die vielen dortigen Sehenswürdigkeiten darf auch das Schauspiel gerechnet werden, welches Wall-Street bietet, wenn die Spekulation an der Börse gerade im vollsten Gange ist, so daß die Notierungen steigen und sinken, einander drängen und treiben, wie die Wellen eines vom Sturm gepeitschten Meeres.

Kurz nach den oben erwähnten Ereignissen befand sich der Hauptmann eines Morgens am untern Ende vom Broadway, als er durch einen glücklichen Zufall Gilbert Cowran's breiten Rücken eine kleine Strecke vor sich gewahr wurde. Seinen Schritt beschleunigend hatte er den Advokaten bald eingeholt.

»Sieh' da, Hamilton,« rief dieser, »Sie kommen gerade zur rechten Zeit, um einen Spaß mit anzusehen! Haben Sie eine halbe Stunde frei?«

»Ich stehe Ihnen mit Vergnügen zu Diensten,« erwiderte jener erfreut; »ist heute etwas Besonderes los?«

»Man sagt, ein paar Börsenkönige hätten einen großen Beutezug vor; wir wollen einmal sehen, wie sich das Ding anläßt!«

»Das kommt mir sehr erwünscht,« versetzte der Hauptmann. »In Paris war ich mehrmals auf der Börse, aber hier noch nicht; einmal stand ich sogar in der Nähe, als ein junger Mensch ruhig zur Thür herauskam, oben an der Treppe seinen Revolver zog und sich eine Kugel durch den Kopf jagte. Hier soll die Sache aber noch weit aufregender sein, wie ich höre.«

»Der Revolver spielt bei uns selten eine Rolle dabei,« entgegnete Cowran, »wir machen mehr gymnastische Uebungen und weiten unsere Lungen aus! Der Amerikaner faßt die Dinge von Haus aus nicht tragisch auf, wer ein oder zweimal zu Falle gekommen ist, bekennt sich deshalb noch lange nicht für besiegt – er fängt meist einfach wieder von vorn an und leiht auch andern gern eine Hand dazu. Bisweilen wird die Sache aber doch so ernsthaft, daß einem der Spaß vergeht. Ich weiß das aus eigener Erfahrung.«

»Richtig,« entgegnete der Hauptmann lachend, »von damals her, als Ihnen Golding den kleinen Streich gespielt hat.«

»Was diese Angelegenheit betrifft,« sagte Cowran nach einigem Zögern, »so habe ich mich Ihnen gegenüber neulich vielleicht etwas zu stark ausgedrückt. Anfangs war ich aufgebracht gegen Golding, weil ich glaubte, er habe mit boshaftem Vorbedacht gehandelt, um mir zu schaden; auch später bewahrte ich meinen Groll und sprach meine Meinung über ihn bei jeder Gelegenheit rückhaltslos aus. Neuerdings bin ich jedoch zu der Erkenntnis gelangt, daß ich ihm Unrecht gethan habe. Er wußte nicht, daß ich überhaupt bei dem Geschäft beteiligt war, und hatte die Zufälligkeiten nicht vorhersehen können, die ihn nötigten, seine gesamten Pläne ganz unerwartet über den Haufen zu werfen. – Als er mir die Angaben machte, sprach er in gutem Glauben! – Sobald der Würfel gefallen war und ich an den Bettelstab gebracht, suchte ich ihn auf und sagte ihm meine Meinung ohne höfliche Redensarten. Er erwiderte kein Wort als ich geendet, sondern wandte sich einfach um und schrieb weiter. Das versetzte mich in noch größere Wut – aber ich sehe jetzt wohl, daß ich sein Schweigen falsch gedeutet habe. Er war zu stolz, um sich auf Erklärungen einzulassen, nachdem ich ihm Vorwürfe gemacht hatte, ohne auch nur einmal zu fragen, wie die Sache zugegangen sei. Ich nahm als selbstverständlich an, daß er später alles that, um mich nicht wieder aufkommen zu lassen, aber er ist kein so kleinlicher Charakter als ich glaubte und scheint wirklich über persönliche Feindschaft erhaben. Erst kürzlich habe ich entdeckt, daß er mir im Gegenteil durch seine Vermittlung die Wege geebnet hat, um mich wieder hinaufzuarbeiten, dabei aber zugleich Sorge getragen, daß ich von seiner Hilfe nichts erführe, wahrscheinlich in der Voraussicht, ich würde ihm für seine Gunstbezeugungen wenig Dank wissen! Nun ich erkannt habe, daß ich im Irrtum war, werde ich die erste Gelegenheit ergreifen, ihm dies einzugestehen.«

»Das freut mich aufrichtig,« rief der Hauptmann mit herzlichem Ton, »begraben Sie getrost den alten Zwist!«

Inzwischen hatten sie die Stelle erreicht, wo Wall-Street in den Broadway mündet. Hier herrscht zu allen Tageszeiten das lebhafteste Treiben, jetzt aber war das Gedränge größer denn je.

Während sich Cowran und sein Gefährte die Straße hinunter mühsam weiterarbeiteten, wurde das Gedränge auf Augenblicke größer und lauteres Rufen oder Geschrei übertönte dann und wann das allgemeine Stimmengewirr. Wo Wall-Street mit der Breiten Straße zusammenstößt, in welche sie nun bogen, bot sich ein Schauspiel dar, das niemand betrachten konnte, ohne selbst mehr oder weniger von der herrschenden Aufregung ergriffen zu werden. Die ›Breite Straße‹ trägt ihren Namen mit Recht und ist eigentlich nichts, als ein in die Länge gezogener, breiter Platz. Sie war in diesem Augenblick dicht besetzt mit einer Menschenmenge, die unaufhörlich nach allen Richtungen durcheinanderstürzte, dem Anschein nach auf völlig zwecklose Weise, in Wahrheit jedoch mit Verfolgung ganz bestimmter, höchst dringender Angelegenheiten und Geschäfte. War das Geschrei in Wall-Street schon betäubend gewesen, so wurde es hier zu einem ohrenzerreißenden, nervenerschütternden Gebrüll. Den höchsten Grad erreichte das Drängen und Hin- und Herwogen vor dem Portal eines Gebäudes mit weißer Marmorfassade an der Westseite der Straße, unweit der Ecke von Wall-Street. Auf den Stufen, die zu der Eingangsthüre führten, wälzte sich eine dichte Masse durcheinander, hinauf und herunter, hinein und heraus strömte die brandende Flut, wallte und wirbelte, prallte an, wurde zurückgeworfen und rollte von neuem vorwärts, mit einer Gier, als seien alle Schätze und aller Ruhm der Welt hinter jenen Pforten verschlossen! Hier kämpften einige mit eiserner Hartnäckigkeit, um hineinzugelangen, dort stürzten andere mit bleichen Gesichtern in rasender Eile heraus, als ob Satan selbst ihnen auf den Fersen wäre! – Einen seltsamen Gegensatz zu dem wirren Lärm und Aufruhr bildete der weiße Marmorbau, der kalt und wie unbeteiligt mitten in dem Getöse stand, dem verzweifelnden Ringen und Kämpfen gleichgiltig zuschauend.

»Durch diesen Eingang kommen wir nicht hinein.« schrie Cowran seinem Begleiter ins Ohr, »wir müssen es an einer Seitenthür versuchen!«

Sie wandten um und arbeiteten sich die Straße wieder hinauf. Nach einem viertelstündigen lebhaften Kampf hatten sie sich endlich an einer weniger belagerten Thür den Eingang erzwungen. Immerhin war dabei Hamiltons einer Rockschoß fast abgerissen worden und Cowrans hoher Seidenhut so flach gedrückt wie ein Suppenteller. Beide Männer waren ganz außer Atem und in Schweiß gebadet, obgleich das Thermometer tief unter dem Gefrierpunkt stand.

»So weit sind wir glücklich gelangt,« keuchte Cowran, der bemüht war, seine Kopfbedeckung wieder zurecht zu bringen. »Jetzt nur hinauf, und oben in der Gallerie nehmen Sie dreist die Ellenbogen zu Hilfe.«

Mit diesen Worten ging er voran, die Treppe hinauf und landete, vom Hauptmann gefolgt, auf einer obern Gallerie, von wo aus man in eine hohe, geräumige Halle hinabblickte. Die Gallerie war gedrängt voll Zuschauer, aber Cowran schob sie ohne viel Federlesen beiseite und eroberte für sich und Hamilton einen Platz unmittelbar an der Balustrade, der ihnen den Ueberblick des ganzen Schlachtfeldes gestattete.

Alles was sie draußen gesehen hatten, schwand in nichts zusammen, im Vergleich zu dem, was sich hier dem Auge bot. Die große Halle war in allen ihren Teilen mit einer so dichten Menschenmasse gefüllt, daß kein Apfel zur Erde gekonnt hätte; jeder einzelne aber wand und krümmte sich, focht wütend mit den Armen in der Luft, tauchte im Strom unter und kam wieder zum Vorschein in verwegenem Ringen. Die Luft hallte wieder von Kreischen, Lärmen, Heulen und Angstgeschrei, einem verzweifelten Rufen und Flehen wie von Seelen, die in den Höllenschlund geschleudert werden sollen und in Todesqual nach Hilfe jammern. Die Menge glich einem einzigen Riesentier, das sich in tausendfältiger Wut aufbäumt und niederkauert, um sich in immer erneuter Raserei wieder aufzuraffen. An gewissen Stellen der Halle schien der blinde, tolle Wahnsinn noch wilder zu toben, als anderswo, obgleich eine Steigerung kaum möglich schien. Als Mittelpunkt eines solchen Kreises von Tollhäuslern stand dann, unerschütterlich wie ein Fels im tosenden Meer, ein einzelner Mann, ruhig, gefaßt, mit Notizbuch und Stift in der Hand, von Zeit zu Zeit langsam und mit gleichgiltiger Miene eine Zahl oder ein Wort niederschreibend. Sein Blick glitt dabei gedankenvoll über die Schar der unsinnig Rasenden hinweg, fast als suche er einen halbvergessenen Reim oder schwebe in höheren Regionen. Der wilde, wahnsinnige Taumel rings umher schien diese Philosophen nicht im mindesten zu berühren oder aus ihrer Ruhe zu bringen; sie hatten anscheinend so wenig damit zu schaffen, als seien sie Bürger eines fremden Planeten oder hätten wie die alten Hexenmeister einen Zauberkreis um sich gezogen, den das höllische Heer nicht zu überschreiten vermag und an dem sein Wüten und Toben unsichtbar und unhörbar abprallt.

Dergleichen kreisende Strudel gab es zuerst mehrere im Innern der mächtigen Halle, jedoch allmählich schienen sie von einem einzigen großen Wirbelstrom verschlungen zu werden. Auf diesen Hauptpunkt vereinigte und häufte sich nun alles was von Gier und Leidenschaft um die frühern Mittelpunkte getobt hatte, bis die Wutausbrüche zuletzt die Grenzen menschlicher Kraft und Natur zu übersteigen drohten. Wäre das Weltall plötzlich in Splitter gegangen und sämtliche Bewohner unseres und der übrigen Planeten durcheinander in einen tiefen Schlund gestürzt, aus dem sie sich innerhalb der nächsten dreißig Sekunden befreien mußten, wenn sie nicht ewiger Verdammnis anheimfallen wollten – es würde noch mehr Ordnung und Sitte unter ihnen geherrscht haben als hier. Jeder einzelne schien soviel wie möglich zu der allgemeinen chaotischen Verwirrung beitragen zu wollen, und doch – so wunderbar das klingen mag – hatte jeder eine klare Vorstellung von dem, was er that und bezweckte, jeder wußte, was es alles bedeute, worauf es hinauswolle, bei welchem Punkt eine Veränderung zu erwarten stand! Nicht selten wandte sich jemand, der noch soeben in einem Anfall von Fieberwahnsinn getobt hatte, zur Seite, um Gruß und Scherz mit einem Bekannten zu tauschen, oder sich zu einem Geschäftsfreund zu gesellen, ihn vielleicht auf einen gemütlichen Abendimbiß nach Schluß der Börse zu laden. Dann stürzte er plötzlich wie besessen in den Kreis zurück, im Augenblick wieder in einen wilden, rasenden Tollhäusler verwandelt.

»Was zum Henker soll denn das heißen?« schrie der Hauptmann Cowran ins Ohr.

»O nichts!« versetzte dieser, »irgend ein Spekulant treibt die Pacific-Eisenbahnaktien in die Höhe; im Lauf der letzten zwei Stunden sind sie fast um dreißig gestiegen. Bald wird der Rückschlag kommen! Die Sache ist nicht ernst gemeint, es sind bloß Allotria; bei ernsthaften Geschäften geht es noch ganz anders her!«

»Sie selbst sind vermutlich nicht daran beteiligt?« fragte der Hauptmann.

»Ich? O nein, ich mische mich schon lange nicht mehr in solche Dinge. Wenn man sein Geld durchaus los sein will, kann man's ja gleich in den Hudson werfen, das macht weniger Mühe!«

Inzwischen war einige Minuten lang eine verhältnismäßige Stille eingetreten, die Menge zerteilte sich und stürzte hierhin und dorthin, als wandere sie in der Irre oder als sei die Welt aus den Fugen gegangen und jeder trachte dem Untergang zu entrinnen, so gut er könne. Plötzlich aber erhob sich ein Gebrüll, das alles frühere Lärmen übertraf; die einzelnen Strudel kreisten von neuem, die Aktien, die eben erst in die Höhe getrieben worden waren, sanken mit gleicher Schnelligkeit wieder herab.

»Kommen Sie,« sagte Cowran nach einer Weile, »wir haben jetzt alles gesehen, was für heute der Mühe lohnt; sie treiben es nun noch ein paar Stunden so weiter bis die ganze Geschichte wieder genau auf demselben Punkte steht wie zu Anfang. Einige sacken den Gewinn ein, die übrigen haben den Verlust; nächste Woche giebt es dann wieder einen Tumult ähnlicher Art. – Haben Sie genug gehabt? Dann wollen wir gehen!«

Sie gelangten glücklich wieder auf die Straße und trennten sich auf dem Broadway. Cowran begab sich in sein Bureau, der Hauptmann dagegen nach dem Astor-Haus, wo ihn etwa zwei Stunden später ein schlanker, junger Mann mit scharfen Gesichtszügen noch antraf, welcher ihm zunickte, an den Tisch trat und rasch ein paar Gläser Wasser hinuntergoß.

»Ein heißes Stück Arbeit,« murmelte er und ließ sich neben den Hauptmann in einen Stuhl fallen; »gerade als hätte man den ganzen Tag Fußball gespielt oder ein paar Dutzend Gänge im Ringkampf gemacht!«

»Nun, was ist dabei herausgekommen? Habt Ihr ihn in der Falle?«

»Bewahre! Er muß sich gar nicht beteiligt haben. Es geht über mein Verständnis. Entweder ist ihm etwas zugestoßen oder er hat Verdacht geschöpft und die Hand aus dem Spiele gelassen!«

»Dann sind wir also ganz ebenso klug wie zuvor?«

»Doch etwas klüger, denn wir wissen jetzt, daß wir nichts wissen!« –


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