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Zehntes Kapitel.
Eine Schlittenfahrt

Ein neuer starker Schneefall hatte über Nacht im Zentral-Park eine herrliche Schlittenbahn geschaffen. Die vornehme Welt von New-York beeilte sich, diese gute Gelegenheit zu benützen. Das Vergnügen war doppelt groß in der zwar kalten aber windstillen Luft, die nur durch die schnell dahineilenden Schlitten bewegt wurde. Die Sonne schien klar vom wolkenlosen Himmel auf die funkelnde Winterlandschaft und bei dem lauten Geklingel der Schlittenglocken, das sich bald nah, bald wieder fern vernehmen ließ, klopften die jugendlichen Herzen höher, floß das Blut lustiger in den Adern. In warme, weiche Pelze gehüllt, fuhren sie blitzschnell auf der Bahn dahin, unter ihnen manches liebende Paar, das wohl träumen mochte, seine Fahrt durchs Leben werde auch so glatt und ungehindert von statten gehen. Den Pferden schien die rasche Bewegung kaum weniger Freude zu machen, sie klappten die Ohren zurück und flogen mit Windeseile über die weiße Fläche, die der flüchtige Huf kaum berührte. Auf dem See war die Bahn glatt gefegt, da tummelten sich die Schlittschuhläufer, zogen ihre Kreise und schossen an einander vorbei, bald in kühnen, bald in anmutigen Windungen. Die Bäume starrten nicht länger dürr und kahl in die Luft, sie beugten sich tief unter ihrer weichen Schneelast, die kein Windhauch von den Zweigen schüttelte. Kemeys bronzene Pantherin, die zum Sprung bereit auf dem überhängenden Felsen kauert, schaute mit dem grimmigen Haupt aus der weißen Decke hervor, unter der sie auf ihre Beute zu lauern schien. »Die Nadel der Kleopatra« ragte schlank und aufrecht in die Höhe. Zwei Jahrtausende lang hatte sie auf ihrem Posten verharrt am Ufer des heiligen Nilstroms unter der brennenden Sonne Egyptens; jetzt stand sie Schildwache in einem neuen fremden Lande bei Frost und Eis.

In einem der Schlitten, welche am schnellsten dahinsausten, saßen zwei Herren, die so tief in ihren warmen Pelzen steckten, daß es unmöglich schien, ihre Züge zu erkennen. Sie selbst kümmerten sich wenig um die Scharen der anderen Schlittenfahrer, die an ihnen vorbeieilten. Der größere von beiden hielt die Zügel in der Hand und die Augen auf die zu durchlaufende Bahn geheftet, doch hinderte ihn das nicht, den Worten seines Gefährten ein aufmerksames Ohr zu leihen und von Zeit zu Zeit selbst eine Bemerkung fallen zu lassen. Eine bessere Gelegenheit zu geheimer und vertraulicher Besprechung hätten die beiden Herren gar nicht finden können. Mitten in dem unruhigen Drängen und Treiben der Großstadt konnten sie ungestört und unerkannt zusammen verhandeln, als wären sie allein in einer menschenleeren Wüste.

»Was Sie von der Unterhaltung berichten,« sagte der Rosselenker, »spricht weder für noch gegen seine Schuld. Er haßt Golding, weil er ihm Schaden zugefügt hat – das wußten wir schon vorher. Es mag wohl mehr als hundert Leute in New-York geben, die diese Gesinnung teilen. Freilich deuten einige seiner Aeußerungen darauf hin, daß er nicht abgeneigt wäre, gewaltsame Maßregeln zu ergreifen. Daß Sie ihm den Zeitungsartikel vorlegten, war ein guter Schachzug; nur schade, daß er zu keinem bestimmteren Ergebnis geführt hat.«

»Mir scheint es immerhin von Gewicht,« entgegnete der andere, »daß kein Verdacht gegen sonst welche Persönlichkeit vorliegt. Bei Cowran's Lebensgeschichte und äußerer Lage ist die Sache doch nicht undenkbar.«

»Aber höchst unwahrscheinlich für einen Mann von seinem Charakter. Er gilt für zuverlässig, offenherzig, kühn, hat sich nie mit zweideutigen Geschäften abgegeben. Sein warmes Blut gerät leicht in Wallung, es könnte ihn zu Gewaltthätigkeiten verführen, wenn man ihn reizt. Alles in allem ist er keine Persönlichkeit, die anonyme Briefe schreibt.«

»Die Briefe sind doch gewaltthätig genug.«

»Meines Dafürhaltens nur in ihren Ausdrücken, nicht der wirklich damit verknüpften Absicht nach. – Das ist ein wichtiger Unterschied. Sie drohen Golding zwar mit dem Tode, aber nur zu dem Zwecke, Geld von ihm zu erpressen. – Die Antwort, welche wir auf den zweiten Zeitungsartikel erhielten, läßt darüber keinen Zweifel. Sie haben sie doch gelesen?«

»Nein, nur davon gehört.«

»Er geht auf unsern Vorschlag ein, daß wir für seine Frau und Kinder sorgen wollen. Nach einigem, unnützem Wortschwall sagt der Briefsteller, daß er persönlich gegen Golding keine Feindschaft hege und gern sein Leben schonen möchte, wenn es der Wille des Herrn sei. Für sich selbst würde er nun und nimmermehr Geld annehmen, doch wäre er wohl im stande, es für seine Pflegebefohlenen zu thun.«

»Hat er angegeben, auf welche Weise ihm die Unterstützung zukommen soll?«

»Ja, und die Methode, die er ersonnen hat, ist höchst praktisch für einen religiösen Schwärmer. Golding soll ihn im voraus von dem Steigen oder Fallen der Börsenpapiere benachrichtigen. Er schlägt zu diesem Zwecke eine Geheimschrift vor, unter welcher die Berichte in einer bestimmten Zeitung erscheinen sollen.

»Gibt er selbst die Geheimschrift an?«

»Ja, und sie ist vortrefflich gewählt, leicht verständlich für den, welcher den Schlüssel hat, und nicht ausfallend genug, um die Neugier Unbeteiligter zu reizen. Augenscheinlich war der ganze Plan von vornherein darauf angelegt. Zum Schluß sagt er, Golding solle sich wohl hüten, ihm falsche Berichte zu senden, sonst sei es um sein Leben geschehen. – So lange das Werkzeug des Herrn also Geld an der Börse gewinnt, wird die Vergeltung schlummern! – Ein so feiges, hinterlistiges Verfahren paßt nicht für einen Mann wie Cowran. Er würde vielleicht in der Wut seinen Gegner zu Boden schlagen. Unser Bursche ist von ganz anderm Schrot und Korn.«

»Wird Mr. Golding auf den Plan eingehen?« fragte der andere nach einer Pause.

»Versteht sich – der Unbekannte wird auch das Geld einsacken. Ich sehe kein anderes Mittel, seiner habhaft zu werden.«

»Sie wollen durch die Börsenmakler, an die er sich wendet, auf seine Spur kommen?«

»Ja, aber wenn er sich so schlau erweist wie bisher, so kann er uns leicht aus dem Netze schlüpfen. Ich hoffte, er würde eine bestimmte Geldsumme fordern, dann wäre er mir nicht entgangen!«

»Natürlich wird er sich doch nicht bei einem Gewinn beruhigen, er wird immer wieder kommen und dabei früher oder später einmal die Vorsicht außer acht lassen.«

»Wohl möglich, nur könnte mir das leicht zu lange dauern. – Sie sind doch in Cowran's Bureau gewesen?«

»Gestern sprach ich dort vor, um mit Cowran eine Verabredung zu treffen. Ich fand niemand Besonderes da. Den ersten Schreiber Namens Talbot, ein Fräulein das an der Schreibmaschine arbeitet, und mehrere junge Leute – keinen, der aussieht, als könne er dabei beteiligt sein. Cunliffe sagte mir, er kenne Talbot schon seit Jahren und halte ihn für harmlos wie ein Kind.«

»Sprechen Sie von Frank Cunliffe, dem Mitglied des League-Klubs?«

»Von demselben.«

»Ich sah ihn neulich zufällig im Vorbeigehen. Was wissen Sie von ihm?«

»Er lebt von seinen Zinsen, und was ihm fehlt, erwirbt er durch Theaterkritiken. Er ist ein gebildeter Mensch, lebt in der Welt und kennt die halbe Stadt. Zu Cowran hat ihn ein Prozeß geführt. Eingehend habe ich mich noch nicht mit ihm beschäftigt.«

»In einer Angelegenheit, bei der wir noch so ganz im Dunkeln sind, darf nicht das Kleinste vernachlässigt werden. Niemand kann sagen, durch wen uns auf die Sprünge geholfen wird. Ist Cunliffe mit Golding bekannt?«

»In meiner Gegenwart hat er ihn nicht erwähnt.«

»Forschen Sie ohne Aufschub danach. Wie lange ist Talbot schon in Cowrans Bureau?«

»Wenigstens zehn Jahre.«

»Dann muß er Golding kennen und seinen ganzen Streit mit Cowran; – und Cunliffe, der mit Talbot bekannt ist, weiß höchst wahrscheinlich manches über Golding, was uns von Nutzen sein kann. Möglich, daß dies zu etwas führt! – Je mehr ich mir die Sache überlege, desto klarer wird mir, daß der Briefsteller keinen persönlichen Groll auf Golding hat, sondern nur ein schlauer Spekulant ist. – Besäße Cunliffe genügende Geldmittel, er würde nicht für Zeitungen schreiben. Der flüchtige Eindruck, den ich von ihm hatte, war nicht gerade günstig. Oft wissen die abgefeimtesten Betrüger in der Gesellschaft den Schein zu wahren. Ich würde lieber auf einen geringen Verdacht hin gegen einen Mann wie Cunliffe vorgehen als Cowran beargwöhnen, selbst wenn ich Beweise gegen ihn in Händen hätte.«

»Ich werde ohne Zögern seine Spur verfolgen. Soll ich auch Talbot überwachen?«

»Für's erste noch nicht. Wir werden ihn wahrscheinlich nur brauchen, wenn der Verdacht gegen Cowran dringender werden sollte; durch Cunliffe können Sie stets genügende Auskunft über ihn erhalten. Da Sie die Untersuchung dieser Angelegenheit so gut wie allein zu führen haben – bis jetzt sind Sie im allgemeinen recht geschickt zu Werke gegangen, – so versuchen Sie lieber nicht, an mehreren Orten zu gleicher Zeit zu sein. Zum Glück sind Cunliffe und Cowran beide Mitglieder desselben Klubs, und – – Hollah!« Bei diesem Ausruf zog er die Zügel fest und brachte die Pferde zum stehen. Zugleich schob er die Pelzmütze von der Stirn zurück und knöpfte den hohen Kragen auf, wobei die wohlbekannten Züge des Inspektors Byrnes zum Vorschein kamen. Ein anderer Schlitten, der in der entgegengesetzten Richtung herbeikam, fuhr dicht an den seinigen heran. Der Kutscher desselben war als Kosack gekleidet, im Innern saß Mr. Owens.

»Entschuldigen Sie, Mr. Owens, daß ich Sie angerufen habe,« sagte der Inspektor. »Sie erlauben wohl, daß ich Ihnen meinen Freund Mr. Hamilton vorstelle, der bei Verfolgung der gewissen Sache beteiligt ist. Ich wollte die Gelegenheit nicht vorüber gehen lassen, um mich zu erkundigen, ob Sie etwas Neues wissen.«

»Es ist mir lieb, daß ich Sie treffe,« versetzte Owens, »es liegt in der That ein neuer Umstand vor, der mir zu denken giebt – oder nochmehr.«

»Wann kann ich Sie sprechen?«

»Das beste wird sein, wir fahren gleich nach meinem Hause; Mr. Hamilton kommt vielleicht mit. Ist Ihnen das genehm?«

»Vollkommen.«

Owens befahl dem Kutscher den Schlitten zu wenden, der Inspektor und Hamilton folgten mit dem ihrigen und bald darauf saßen die drei Männer um den Tisch in Owens' Bibliothekzimmer.

»Erstens ist hier ein neuer Brief des Unbekannten; lesen Sie ihn und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

Der Inspektor nahm das Schreiben und studierte den Inhalt genau.

»Er antwortet auf die letzte Anzeige und sagt, daß er nächsten Mittwoch die Effekten kaufen wird, die ihm Golding rät.«

»Ja, aber es steht noch mehr darin.«

»Was das bedeutet, verstehe ich nicht. Es scheint auf ein früheres Geschäft mit Golding Bezug zu haben, von dem ich nichts weiß.«

»Ich will es Ihnen erklären: Als Cowran mit Golding in Streit geriet, hatte er Privatpapiere von ihm in Verwahrung, noch von einem Prozesse her. Sie enthielten Aufschluß über Goldings geheime Geschäftspraxis.«

»Ich verstehe. Fahren Sie nur fort.«

»Der Inhalt dieser Papiere war außer Golding niemand bekannt als Cowran und mir. Aus Versehen waren sie in Cowrans Händen geblieben, während Golding der Meinung war, er habe sie zurückerhalten.«

»Ganz recht. Und die Andeutung in diesem Briefe – – –«

»Die Andeutung in diesem Briefe kann nur von jemand herrühren, der den Inhalt der fraglichen Papiere kennt.«

»Aha,« stieß Hamilton heraus, seinen Vorgesetzten anblickend, »das scheint mir ziemlich klar.«

Der Inspektor strich sich nachdenklich das Kinn und schwieg eine Weile.

»Hätte nicht Cowran den Inhalt der Papiere in der Zwischenzeit einem dritten mitteilen können?« fragte er endlich.

»Möglich ist das wohl, aber höchst unwahrscheinlich. Er hätte es nur in der Absicht thun können, Golding zu schaden, ein Zweck, der sich weit besser erreichen ließ, wenn er das Geheimnis in den Zeitungen aller Welt verkündete, statt es einem einzelnen zu verraten.«

»Sehr wahr. Sie kommen also zu dem Schluß, daß Cowran die Briefe geschrieben hat?«

»Das wäre die logische Folge. Doch muß ich gestehen, ich halte Cowran noch immer für unschuldig. Absichtlich wird er das Geheimnis schwerlich offenbart haben, es könnte höchstens aus Zufall zu jemandes Kenntnis gelangt sein, ohne sein Zuthun, vielleicht ohne sein Wissen. – Aber das ist noch nicht alles.«

»Richtig. Sie sprachen von zweierlei. Was gibt es noch?«

»Diesen Morgen brachte ein besonderer Bote aus Cowran's Bureau ein versiegeltes Paket für Mr. Golding; beim Oeffnen fand er darin – was meinen Sie wohl?«

»Die Privatpapiere?«

»Ja, in bester Ordnung, es fehlte keins! Nun sagen Sie mir, Herr Inspektor, wie reimt sich das zusammen?«

»War kein Brief, keine Notiz von Cowran dabei?«

»Der Bote brachte nur eine Quittung, die Golding unterschreiben sollte.«

»Das ist seltsam,« bemerkte der Inspektor, »und will reiflich überlegt sein. Zwischen beiden Thatsachen scheint kein Zusammenhang zu bestehen und doch lassen sie sich nicht gut von einander trennen. Was ist Ihre Ansicht von dem Vorgang, Hamilton?«

»Er dient vielleicht nur zum Deckmantel.«

»Nicht unmöglich, denn ein zufälliges Zusammentreffen läßt sich nicht gut annehmen. Geben Sie mir zwei Tage Frist, Mr. Owens, dann sollen Sie wenigstens Gewißheit haben, ob Cowran der Urheber ist oder nicht. Bis dahin leben Sie wohl!« –


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