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Sechzehntes Kapitel.
Vermutungen

Nur selten ließ sich Hauptmann Hamilton auf dem Polizeiamt blicken – die Beteiligten mochten wohl dazu ihre besondern Gründe haben. Erschien er ja einmal dort, so kam er nicht als Angestellter, sondern als ein fremder Herr, der Rat oder Hilfe sucht. Außer dem Inspektor war sein eigentlicher Beruf keinem Menschen bekannt.

Als er an jenem Tage gegen ein Uhr im Hauptquartier eintraf, zeigte er sich denn auch mit den verschiedenen Gängen und Zimmern des Gebäudes völlig unbekannt und konnte sich ohne genaue Führung durchaus nicht zurecht finden. Kaum hatte sich jedoch die Thür zu dem Bureau der Geheimpolizei hinter ihm geschlossen, als in Gegenwart seines Chefs aller Schein des Fremdseins von ihm abfiel wie ein Gewand.

»Cunliffe ist auf und davon,« waren seine ersten Worte, »seit heute morgen!«

»Haben Sie alle Erkundigungen eingezogen?«

»Ja, aber er hat mehrere Stunden Vorsprung!«

Nun stattete er kurzen Bericht ab über die Ereignisse des Morgens, den Besuch bei Miß Clive jedoch nur flüchtig erwähnend, da er aus verschiedenen Gründen nicht allzu lange bei dem zu verweilen wünschte, was er im Hause der jungen Dame gehört und gesehen hatte.

»Ein Beweis, daß er die Stadt verlassen hat, liegt nicht vor,« bemerkte der Inspektor.

»Es ist aber so gut wie erwiesen, daß er unser Mann ist,« erwiderte jener; »er hat sein Schäfchen im Trocknen und macht sich aus dem Staube!«

»Darüber wollen wir bald in's reine kommen. Rücken Sie eine Anzeige ein, die umgehende Antwort verlangt! Erfolgt dieselbe schnell, so wissen wir, daß er in der Stadt ist und die Sache weiter fortführen will. Bleibt die Antwort aus, so hat er sich entweder fortgemacht, weil er Argwohn schöpft, oder er ist noch am Ort, will aber den Plan fallen lassen.«

»Die Briefe hat er geschrieben, davon bin ich überzeugt,« sagte Hamilton.

»Inzwischen,« fuhr der Inspektor fort, »können wir an den Bahnhöfen die gewöhnlichen Erkundigungen einziehen, ob die zu beschreibende Persönlichkeit irgendwo gesehen worden ist. Mir scheint der Umstand seiner Abreise eher zu seinen Gunsten zu sprechen. Ein etwaiger Verdacht gegen ihn – das muß er einsehen – wird durch seine Flucht nur verstärkt; ist er aber schuldig und weiß nicht, daß wir ihn beargwöhnen, so sehe ich keinen Grund, warum er sich aus dem Staube machen sollte.«

»Wer in's Bockshorn gejagt ist, überlegt oft nicht lange! Wenn er nach Kanada oder nach Europa entkommt, wird es schwer halten, seiner wieder habhaft zu werden!«

Die Nachfragen an den verschiedenen Bahnhöfen und Landungsplätzen ergaben, daß ein Mann, auf welchen Cunliffe's Beschreibung paßte, an jenem Morgen eine Fahrkarte nach Boston gelöst hatte. Genaue Auskunft über den Reisenden war nicht zu erlangen, aber war er wirklich der, welchen man suchte, so befand er sich aller Wahrscheinlichkeit auf dem Wege nach Kanada. – Inzwischen erschien die Anzeige, wie verabredet, am nächsten Morgen in der Zeitung. Am Abend wurde Inspektor Byrnes schleunigst zu Mr. Owens bestellt.

Als der Inspektor mit Hamilton bei Mr. Owens vorsprach, zeigte ihnen dieser einen in Folge der Anzeige geschriebenen Brief, aus welchem klar hervorging, daß Cunliffe noch in New-York sein mußte, wenn er der Verfasser war. Der Brief besprach die Punkte, welche auf die Anzeige Bezug hatten und schloß dann wie folgt:

»Sie suchen vergebens zu entdecken, wer ich bin. Außer mir selbst kann niemand mein Geheimnis enthüllen. Ich weiß alles, was geschieht, um meine Spur aufzufinden, und treffe meine Maßregeln demgemäß. Stellen Sie Ihre Bemühungen ein, sonst nehme ich es zum Zeichen, daß der Herr nicht länger zögern will, mit Ihnen in's Gericht zu gehen. Hören Sie meine Warnung und handeln Sie danach!«

Als Hamilton einsah, daß seine zuversichtlichen Prophezeiungen auf Täuschung beruhten, war er zuerst sehr niedergeschlagen; darauf zeigte er sich zerstreut und schweigsam und nahm keinen Teil an der Beratung, die Mr. Owens mit dem Inspektor pflog. Um seine Meinung befragt, begnügte er sich damit, den Herren in allem beizupflichten. Einen wesentlich neuen Vorschlag brachte keiner vor, ja, sie mußten stillschweigend eingestehen, daß der Unbekannte bis jetzt die Oberhand behalten habe. Ehe sie auseinandergingen, äußerte jedoch Mr. Owens eine Mutmaßung, auf die bisher noch niemand gekommen war.

»Ich fange wirklich an zu denken,« sagte er, »daß wir es nicht mit der Bosheit eines einzelnen Menschen zu thun haben, sondern mit einer ganzen Verschwörung, die angezettelt worden ist, um Golding den Untergang zu bereiten. Es mögen Männer daran beteiligt sein, die hohe städtische Aemter bekleiden und imstande sind, sich Kenntnis von jedem unserer Schritte zu verschaffen. Wenn meine Vermutung begründet ist, stehen wir wahrscheinlich erst am Beginn unserer schwierigen Aufgabe. Dies alles sind nur Vorbereitungen auf einen Hauptschlag, den sie auszuführen gedenken, um eine unerhörte Panik zu erregen und uns alle ins Verderben zu stürzen. Golding ist ein mächtiger Mann; sein Fall würde unzählige Privatpersonen mit sich reißen und das öffentliche Interesse ungemein schädigen. Ein solcher Geheimbund, der, sich über jeden Grundsatz der Moral hinwegsetzend, vor keinem Mittel zurückschreckt, kann unendlich viel Böses anrichten und sich weit leichter gegen unsere Angriffe schützen, als dies ein einzelner Verbrecher vermöchte.«

»An das Vorhandensein einer solchen Verschwörung kann ich nicht glauben,« entgegnete der Inspektor bestimmt. »Die Genossen würden nicht lange zusammenhalten, sie wären keinen Augenblick sicher vor einem Verräter aus ihrer Mitte. Die ihnen drohende Gefahr wäre zu groß, die Strafe des Gesetzes zu schwer!«

Owens schüttelte zweifelnd den Kopf: »Die Versuchung wäre auch besonders stark, die zu erlangende Beute keine gewöhnliche! – Bündnisse gewissenloser Menschen sind schon oft lange Zeit geheim gehalten worden, mindestens so lange bis sie großen Schaden angerichtet hatten. Erst wenn die Verschworenen sich bei der Teilung des Raubes entzweien, entsteht für sie die Gefahr der Entdeckung, welche uns, wenn das Unheil einmal angerichtet ist, wenig mehr nützen kann. Bedenken Sie, was dabei alles auf dem Spiele steht! – Golding's ungeheures Vermögen ist unbedeutend im Verhältnis zu den weitverzweigten Unternehmungen, die er leitet, zu den Börsengeschäften, deren Schlüssel er besitzt! Gelingt es seinen Feinden, durch wohlangelegte Minen und Kenntnis der inneren Verbindungsfäden, sich den Ertrag dieser Unternehmungen anzueignen, so würde es schwer halten, sie des Betruges zu überführen, und ihr Gewinn wäre ganz unberechenbar. Bei der großen Eifersucht und Feindschaft, die in der Geschäftswelt gegen Golding herrscht, würden selbst Menschen, die nicht persönlich gegen ihn vorgegangen sind, über seinen Fall frohlocken! – Unmöglich ist, was ich vermute, durchaus nicht, Herr Inspektor, und dadurch würde sich auch erklären, warum alle unsere Bemühungen, den Schriftführer der Bande zu entdecken, bisher vergeblich gewesen sind.«

»Wieviel hat denn der Unbekannte bis jetzt ungefähr eingesackt?« fragte Hauptmann Hamilton.

»Das läßt sich im Augenblick noch nicht feststellen, die Summe ist wahrscheinlich nicht unbedeutend, aber, wie gesagt, ich glaube, das ist nur der erste Versuch!«

»Neulich wunderten Sie sich über mein Mißtrauen gegen die Menschen, Mr. Owens,« sagte der Inspektor, »und jetzt sprechen Sie, der eine so gute Meinung von seinen Mitmenschen hat, einen so schwarzen Verdacht gegen sie aus!«

Owens lächelte: »Was ich Ihnen eben auseinandersetzte, ist das Ergebnis meines abstrakten Nachdenkens über das Problem und hat mit meinem persönlichen Wohlwollen für die Menschen durchaus nichts zu schaffen.«

»Es sind alles nur Mutmaßungen,« versetzte der Inspektor, »von denen ich sagen muß, daß sie mich nicht überzeugen! Meiner Meinung nach wird die ganze Sache zu Ende sein, sobald wir einmal den Schreiber der Briefe ausfindig gemacht haben. Selbst wenn Sie recht hätten, müßte dies der erste Schritt sein, um der ganzen Bande habhaft zu werden. Können wir nur erst den einen überlisten, so nehme ich es auf mich, die andern einzufangen.«

»Was sagen denn Sie zu meiner Annahme, Mr. Hamilton?« fragte Owens.

»Unwahrscheinlich kommt sie mir nicht gerade vor,« war die Antwort. »Zwei oder drei Kapitalisten, ein paar Makler, nebst andern Genossen, würden schon einen mächtigen Bund bilden, der uns auf falsche Fährten leiten und die Entdeckung sehr erschweren könnte. Der, welcher die Briefe geschrieben, braucht nicht einmal die Glieder der Verschwörung oder ihre wahren Absichten zu kennen, so daß seine Festnehmung ihnen geringe Gefahr brächte und sie reichlich Zeit behielten, sich vor Verfolgung zu schützen.«

»Alle diese Vermutungen,« entgegnete der Inspektor, »können vielleicht aus der Luft gegriffen sein und dürfen in keinem Fall unsere Handlungsweise beeinflussen. Ehe wir nicht den Briefsteller aufgespürt haben, können wir keine weitern Schritte thun; ihm müssen wir zuerst unsere volle Aufmerksamkeit zuwenden!«

»Darin stimme ich ganz mit Ihnen überein, Herr Inspektor,« sagte Owens, »aber alle unsere Maßnahmen zu diesem Zwecke sind ja bisher vollständig erfolglos geblieben.«

»Die Anzeigen, die wir eingerückt, die Winke, die wir ihm gegeben haben, die Börsengeschäfte, die er hat machen dürfen, haben bisher noch nichts genützt. Bei letzteren waren auf beiden Seiten so viele Makler beteiligt, daß sich nicht feststellen ließ, welcher derselben die Geschäfte des Unbekannten besorgte. Versuchen wir es noch einmal in größerem Maßstabe!«

»Auf welche Weise denn?«

»Ungefähr so, – haben Sie die Anweisung für die Geheimschrift vielleicht bei sich?«

»Jawohl,« entgegnete Owens und nahm aus seiner Brieftasche einen Zettel, der folgende Liste enthielt:

» Hausse   Altstadt«
» Baisse   Neustadt«
» Western Union   Aktien Windsor«
» Erie-Eisenbahn   Schreibzeug«
» Manhattan   Heiligung«
» Pacific Mail   Eintracht«
» New-York   Zentralbahn Berlin«
» Lake Shore   Aktien Buchhandel«

Noch andere Börsenpapiere waren vermerkt und ihre Namen durch ein beliebiges Wort ersetzt, das an deren Stelle gebraucht werden sollte.

Der Inspektor warf einen Blick auf das Verzeichnis. »Mein Vorschlag,« sagte er, »geht dahin: Sie wählen eins dieser Papiere aus, das entweder weit unter oder hoch über Pari steht und aller Wahrscheinlichkeit seinen Wert in nächster Zeit nicht verändern wird. Steht es niedrig, so raten Sie in der Anzeige dem Burschen, zu kaufen so viel er kann – steht es hoch, so empfehlen Sie ihm, zu verkaufen; für Hausse oder Baisse – je nachdem – würden Sie sorgen, so daß sein Glück ein für allemal gemacht wäre!«

»Aber, auf ähnliche Weise ist ja die ganze Zeit verfahren worden!«

»Das wohl, nur der Maßstab soll ein anderer sein. Sie wählen z. B. ein Papier, das auf 50 steht und dessen Steigen niemand erwartet, und kündigen dem Mann Ihre Absicht an, es in die Höhe zu treiben. Er erteilt hierauf seinen Maklern Auftrag, alles zu kaufen, was sie bekommen können. Sie selbst aber schicken einen Vertrauensmann auf die Börse, um die Käufer zu beobachten. Im Anfang werden höchstens zwei Makler auf die Papiere bieten und der, welcher das Geschäft am großartigsten und ruhigsten betreibt – darauf können Sie sich verlassen – ist von dem Unbekannten beauftragt. Wenn er nach Herzenslust gekauft hat, springen Sie ein, fangen an mitzubieten und treiben das Ding in die Höhe mit allen Mitteln, die Ihnen zu Gebote stehen! Benachrichtigen Sie zugleich den Mann in der Zeitung, daß Sie nicht über einen gewissen Punkt hinausgehen können; sobald der erreicht ist, soll er wieder verkaufen. Wenn das Papier bis zu dieser Zahl hinaufgetrieben ist, muß Ihr Agent beobachten, welcher Makler am meisten verkauft. Es wird höchst wahrscheinlich derselbe sein, der zuerst so stark beim Kauf beteiligt war, und ohne Zweifel der Geschäftsführer unseres Unbekannten. Der Verkauf muß natürlich in einem Augenblick beginnen, wenn man allgemein noch ein weiteres Steigen der Aktien erwartet, so daß der Unbekannte jedenfalls der erste Verkäufer ist, mögen die andern seinem Beispiel folgen oder nicht.«

»Dies Verfahren,« entgegnete Mr. Owens, »scheint allerdings mehr Erfolg zu versprechen, als unsere früheren Versuche. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß die Börse ein sehr unsicheres Operationsfeld ist; jedes außergewöhnliche Vorkommnis bringt leicht eine Panik hervor und das Resultat dürfte sich dann weit weniger klar herausstellen, als Sie erwarten. Besonders, wenn meine Hypothese in Betreff des Geheimbundes begründet ist, würde sich vielleicht ein halbes Dutzend Makler unsern Wink zu nutze machen, und wir wären so klug wie zuvor. – Indessen will ich Goldings Meinung einholen; ich weiß ein Papier, das, wie ich glaube, unsern Zwecken vollkommen entsprechen würde.«

Als der Inspektor mit Hamilton das Haus verlassen hatte, fragte letzterer, ob er nicht vielleicht in der Zwischenzeit bis zur Ausführung des neuen Planes noch einen Versuch anstellen solle, Nachrichten über Cunliffe's Verbleib einzuziehen.

»Haben Sie denn irgend einen neuen Anhaltspunkt gefunden?« erkundigte sich der Inspektor.

»Mir ist ein Mittel eingefallen, das ich bisher noch nicht versucht habe, und da der Mann mir durch die Finger geschlüpft ist, möchte ich thun, was ich kann, um seine Spur wieder zu entdecken.«

»Handeln Sie nach Belieben,« antwortete jener, »nur lassen Sie mich stets wissen, wo Sie zu finden sind, im Fall ich Sie schnell zur Stelle haben möchte.«


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