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Elftes Kapitel.
General Weymouth

Die Wohnung des Generals Weymouth auf dem Irving-Platz war zwar weder geräumig noch elegant, doch herrschte militärische Ordnung und Sauberkeit darin. Eins der Zimmer ging auf die Straße, das andere auf den Hinterhof, zwischen beiden lag ein kleines Badezimmer. An der Wand des Wohnzimmers hingen zwei Stahlstiche, Portraits von General Grant und Abraham Lincoln. Das einfache Büchergestell in einer Ecke enthielt fast nur Gedichtbücher und theologische Schriften, um andere Zweige der Litteratur bekümmerte sich der General offenbar nicht. In der andern Ecke lehnte ein Violoncell, ein schönes Instrument, das gleichwohl dem General wegen seiner musikalischen Uebungen die geheime oder offene Feindschaft der Mitbewohner zugezogen hatte. Er stand gern früh auf, und die ersten Morgenstunden waren ihm die liebste Zeit, um den Saiten seiner Riesengeige Harmonieen zu entlocken, die er für höchst melodisch hielt.

Seine Tageseinteilung war ganz regelmäßig. Nach dem Frühstück las er etwa eine Stunde in einem theologischen Buch und ging bei gutem wie bei schlechtem Wetter eine oder zwei Stunden lang spazieren. Eine geraume Zeit widmete er dann seinem Anzug, worauf er sich zum Mittagsmahl begab. Nachmittags schrieb er Briefe und las Gedichte. Eine halbe Stunde vor dem Nachtessen machte er einen kurzen Spaziergang; den Abend brachte er in der Oper oder im Konzert zu und vor dem Schlafengehen kam noch einmal die Theologie an die Reihe. Die ganze Nacht hindurch schlief er ruhig und fest in seinem schmalen eisernen Feldbett, und wenn er morgens erwachte, fielen seine Blicke zuerst auf ein Bildnis Beethovens, das am Fuße seines Bettes hing.

So gleichförmig und ereignislos flossen die Tage eines Mannes dahin, der einst mit Ehren und Auszeichnung im Bürgerkriege gefochten und später mehrere Jahre lang eine hervorragende Stellung im politischen und gesellschaftlichen Leben eingenommen hatte. Seine Abgeschiedenheit von der Welt, mochte sie nun eine freiwillige oder gezwungene sein, ertrug er mit ruhiger Würde und Heiterkeit; er klagte nie und quälte seine Mitmenschen weder mit hochtrabenden Berichten über seine frühere Glanzzeit, noch mit bittern Anspielungen auf seine schlecht gewürdigten Verdienste. Er hüllte sich einfach in Schweigen, war höflich und rücksichtsvoll (außer in Betreff des Violoncells) und kümmerte sich nur um seine eigenen Angelegenheiten.

Wer seine Gewohnheiten kannte, mußte übrigens wahrgenommen haben, daß in letzter Zeit eine Veränderung mit ihm vorgegangen war: Häufig versäumte er seinen Morgenspaziergang, auch seine Frühübungen betrieb er nicht mehr ganz so streng und regelmäßig wie sonst. Stundenlang hörte man ihn im Zimmer auf und abgehen und bei den Mahlzeiten zeigte er sich ungewöhnlich schweigsam und zerstreut. Auf die besorgten Fragen seiner Wirtin, ob ihm etwas fehle, erwiderte er jedoch, er befinde sich vollkommen wohl. Da er zudem den vierteljährlichen Mietzins pünktlich bezahlte, beruhigte sie sich, sah ein, daß er seine etwaigen Sorgen für sich behalten wolle, und behelligte ihn nicht mit unnützen Fragen.

Eines Morgens kündigte er an, er habe Geschäfte in der Stadt und werde nicht zu Mittag kommen. Erst gegen Abend kehrte er mit umwölkter Stirn zurück. Tags darauf sah man ihn in seinen besten Kleidern mit fester, entschlossener Haltung die Straße hinunterschreiten. Eine halbe Stunde später betrat er den Empfangssalon von Miß Kitty Clive, der beliebten Sängerin.

Das Fräulein empfing ihn mit heiterer, freundlicher Miene. Die Bühnenlaufbahn war ihr augenscheinlich recht vorteilhaft gewesen. Ihr Aeußeres hatte sehr gewonnen: sie hielt sich besser, die schlechte Gesichtsfarbe war verschwunden, ihre Gestalt voller. Der kluge angenehme Ausdruck ihrer Züge ließ auf verborgene Geistesschätze schließen, und der tiefe Wohlklang ihrer Stimme, der für keine oberflächliche Natur paßte, schien dies zu bestätigen.

»Mich freut, daß Sie gerade heute kommen, Herr General,« sagte sie nach der ersten Begrüßung, »ich bin den ganzen Morgen über verstimmt gewesen, in Ihrer Gesellschaft fühle ich mich stets zufriedener mit mir selbst und der Welt im allgemeinen.«

»Ich begreife,« erwiderte der General, »daß die Gewißheit Freude zu bereiten, Sie selbst erfreut. Das stimmt ganz zu Ihrem hochherzigen menschenfreundlichen Charakter. Aber ich komme heute, um Ihre Liebenswürdigkeit auf eine starke Probe zu stellen, ich möchte nämlich mit Ihnen von mir selber sprechen.«

»Das wird mich in hohem Grade interessieren! Glauben Sie aber ja nicht, daß ich irgendwelche Aufschlüsse beanspruche. Ich schätze Ihre Freundschaft – was ich selbst von Ihnen sehe und höre, sichert Ihnen meine Achtung, ohne daß es weiterer Bürgschaft bedarf. Eine Frau verläßt sich meist auf ihr Gefühl, auf eigene Eingebung, und die sagt mir, daß ich Ihnen vertrauen kann.«

»Ich danke Ihnen, liebes Kind, von ganzem Herzen,« sagte der General. »Auch glaube ich Ihr Vertrauen zu verdienen, denn ich habe mir nichts Unehrenhaftes vorzuwerfen; während meines ganzen Lebens habe ich stets gehandelt, wie es einem Manne, einem Soldaten geziemt. Aber nicht darüber wollte ich mit Ihnen sprechen; was ich zu sagen wünsche bezieht sich auf mein Verhältnis zu Ihnen selbst. Ich muß Ihnen das klar auseinander setzen, damit Sie sich ein verständiges Urteil über eine Angelegenheit bilden können, die ich Ihnen später unterbreiten werde.«

»Wie feierlich das klingt! Sie machen mich wirklich neugierig. Lassen Sie doch hören!«

»Ich habe Ihnen gegenüber schon früher auf meine Beziehung zu dem großen Finanzmann Maxwell Golding angespielt,« begann der General. »Ich erwähnte, er habe mich aufgefordert, unter sehr günstigen Bedingungen an die Spitze eines großen Unternehmens zu treten. Auch teilte ich Ihnen mit, daß ich das Anerbieten ausschlug. Warum ich dies jedoch that und wie es kam, daß mein Lebensweg von jener Zeit an eine so ganz andere Richtung genommen, habe ich Ihnen noch nicht gesagt.«

Er hielt inne, strich mehrmals mit der Hand über seinen grauen Schnauzbart und starrte gedankenvoll ins Feuer. Kitty betrachtete ihn seufzend und sinnend: er war gewiß in seiner Jugend ein tapferer schöner Mann gewesen, aber Kummer und Sorgen hatten ihm ihren unverkennbaren Stempel aufgedrückt – freilich auch die Zeit, wie allen Menschenkindern. Daß das Leben dem ehrenwerten braven Mann bittere Enttäuschungen gebracht haben müsse, ging klar aus seinen Worten hervor. »Muß denn Ehrlichkeit und Geradheit stets gleichbedeutend sein mit Unglück und Mißerfolg!« dachte Kitty bei sich. »Sollte es nicht gerechtfertigt erscheinen, dieser alltäglichen Erfahrung zum Trotz einmal die Leitung des Geschicks selbst in die Hand zu nehmen, dem Bösen zu seiner Strafe, dem Guten zu seinem Lohn zu verhelfen?«

»Zu Ende des Krieges,« hub der General wieder an, »war ich dreißig Jahre alt und besaß ein ansehnliches Vermögen. Ich hatte zwar eine Kugel in die Brust erhalten, aber die Wunde war geheilt, und ich durfte hoffen, die beste Hälfte meines Lebens noch vor mir zu haben. Der Friede im Lande schien für die Dauer zu sein; auf aktiven Dienst war keine Aussicht, mir genügte daher die militärische Laufbahn nicht länger. Ich wollte der Regierung nicht zumuten mir für nichts und wieder nichts mein Generalsgehalt auszuzahlen – so trat ich aus der Armee. Der innere Wiederaufbau des Staats nach dem Kriege nahm mein Interesse in Anspruch, ich wurde zum Politiker. Mein Ansehen, meine ganze Kraft wollte ich daransetzen, damit die Vertretung des Landes in bessere Hände käme, als die, welchen sie bisher anvertraut gewesen. Eine Politik sollte zur Herrschaft gelangen, deren ganzes Streben nur auf den Ruhm und die Größe unseres Vaterlandes gerichtet wäre. Ich trug mich mit großen Plänen, bei welchen ich auf die Unterstützung vieler trefflicher Männer rechnen konnte, die noch jetzt auf dem angebahnten Wege weiterschreiten. Ob ihre Bestrebungen je von praktischen Erfolgen gekrönt sein werden, wage ich nicht zu entscheiden; meine eigenen Erfahrungen sind wenig ermutigend.

»Mehrere Jahre lang setzte ich meine Wirksamkeit fort; ich trat nicht selbst als Kandidat auf, sondern begnügte mich damit, den Wählern ehrliche, thatkräftige Männer in Vorschlag zu bringen und diesen meine Unterstützung zuzuwenden. Das Gehenlassen, die Gleichgiltigkeit ist der Fluch unseres Volkes – wir lassen die Mißbräuche wachsen, bis wir ihrer nicht mehr Herr werden können! – Bald kam ich zu der Ueberzeugung, daß es die Uebermacht des Reichtums ist, von welcher unserer nationalen Freiheit die größte Gefahr droht. In verhältnismäßig kurzer Zeit läßt sich in unserm Lande ein ungeheures Vermögen erwerben, wer aber bürgt uns dafür, daß die angehäuften Schätze nicht in den Besitz unwissender oder gewissenloser Menschen gelangen? Nach Gelderwerb drängt ein jeder und wer Glück hat, gilt meist für den Fähigsten!

»In meinem vierzigsten Jahre lernte ich meine Frau kennen. Ja, Miß Clive, ich bin verheiratet gewesen, aber das wissen nur wenige. Sie war damals ein auffallend schönes Mädchen, auch gebildet, – daß sie auch alle andern weiblichen Tugenden besäße, nahm ich als selbstverständlich an. Nach ihrer Familie zog ich keine genaueren Erkundigungen ein – bei uns fragt man ja nicht viel nach dem Stammbaum! Es genügte mir zu glauben, daß sie mich liebe und selber liebenswert sei. Wir verlobten uns, und wenige Monate später sprach der Geistliche den Segen der Kirche über uns aus.

»Vier Wochen lang waren wir auf der Hochzeitsreise. Am Tage nach unserer Rückkehr wurde mir auf mein Bureau in der Stadt eine Karte gebracht; der Herr, der sie abgegeben, wünschte mich zu sprechen. Ich gab Befehl ihn vorzulassen. Ein hübscher Mann von etwa achtundzwanzig Jahren trat ein, dessen Ausdruck mir sofort unangenehm auffiel: es lag etwas Spitzbübisches in seinem Gesicht. Er benahm sich übrigens höchst anständig, war wohl gekleidet und schien gebildet. Ich fragte nach seinem Begehr. – ›Ich will Ihnen gleich von vornherein gestehen,‹ sagte er, ›daß der Name auf der Karte ein angenommener ist – ich kann aus guten Gründen meinen eigenen nicht führen. Aber gegen Sie wünsche ich offenherzig zu sein.‹

»Ich erwiderte, er möge das halten wie er wolle, es ginge mich durchaus nichts an.

»›Es geht Sie mehr an als sonst jemand auf der Welt,‹ entgegnete er. ›Ihnen werde ich meinen wahren Namen nennen, Sie mögen entscheiden, ob je ein anderer Mensch ihn hören soll.‹

»›Bemühen Sie sich nicht weiter,‹ sagte ich, ›Sie sind mir ganz unbekannt.‹

»Er aber fuhr fort: ›Ich habe meinen Namen nicht ohne Grund verändert. Wer thut das auch! Entweder ist der Name häßlich und man wünscht einen wohlklingenden anzunehmen, oder man hat etwas gethan, das ihn in schlechten Geruch bringt. Letzteres ist mein Fall.‹

»›Ich wiederhole Ihnen, daß mich das nichts angeht. Wenn Sie ein Verbrecher sind, wie ich aus Ihren Worten entnehme, so werden Sie gut thun, mein Bureau auf der Stelle zu verlassen. Im übrigen habe ich nichts mit Ihnen zu schaffen.‹

»›Sie irren,‹ erwiderte er, ›auch werden Sie mich nicht aus Ihrem Bureau weisen!‹

»Ich begann jetzt den Menschen für verrückt zu halten. Möglicherweise verwechselte er mich aber mit einer andern Person, war im Besitz eines derselben nachteiligen Geheimnisses und wollte sich sein Schweigen abkaufen lassen! Mein Gewissen war rein, ich fürchtete niemand – so beschloß ich denn ihn anzuhören.

»›Sagen Sie mir, was Sie herführt,‹ rief ich, – ›und dann gehen Sie Ihrer Wege.‹

»›Kann uns hier niemand hören?‹ fragte er; ›es liegt ebenso sehr in Ihrem Interesse als in dem meinigen, daß wir unbelauscht bleiben!‹

»Ich beruhigte ihn hierüber.

»›Nun denn, so hören Sie: Vor drei Jahren wurde ich wegen eines Vergehens festgenommen, dessen Natur ich nicht zu erwähnen brauche, mein Name wird genügen, es Ihnen ins Gedächtnis zurückzurufen!‹

»Hier nannte er mir seinen wirklichen Namen, den eines feigen, erbärmlichen Schurken, dessen Verbrechen seiner Zeit großes Aufsehen erregt hatten. ›Ich ward verhört und überführt,‹ fuhr er fort, – ›auch kann ich Ihnen im Vertrauen sagen, daß die Geschworenen ganz recht hatten; ich war wirklich schuldig. Der Richter verurteilte mich zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit: es war kein zu harter Spruch.‹

»›Und das geschah vor nur drei Jahren?‹

»›Wie Sie sagen! Und trotzdem stehe ich hier vor Ihnen in ganzer Figur!‹

»›Sind Sie aus dem Gefängnis entsprungen?‹

»›Nein, auch bin ich nicht begnadigt worden. Ich habe meine Freiheit auf eine weit bessere Weise erlangt. Meine Verteidiger entdeckten einen Formfehler in dem Prozeßverfahren und fußten darauf. Jetzt bin ich so frei und geborgen, als hätte ich den tugendhaftesten Lebenswandel geführt.‹

»›Zum letztenmal frage ich Sie: was wollen Sie von mir?‹

»›Nun,‹ erwiderte er, ›für heute genügen mir zehntausend Dollars; gegen Ende des Monats aber, das sage ich Ihnen im voraus, werde ich mehr brauchen.‹

»›Holen Sie sich die zehntausend Dollars, wo Sie wollen, und machen Sie auf der Stelle, daß Sie hinauskommen!‹

»›Wenn ich Ihnen folgte und mich zu einer Dame begäbe, die sich Mrs. Weymouth nennt,‹ erwiderte er, ›wäre ich sicher, daß sie mir nichts verweigerte.‹

»›Wagen Sie es den Namen meiner Frau noch einmal zu nennen, und ich werfe Sie die Treppe hinunter!‹ rief ich.

»›Ihrer Frau?‹ gab er zurück, – ›mein bester Herr, ich habe das Weib vor fünf Jahren geheiratet: geschieden sind wir nicht, und das kleine Intermezzo mit Ihnen thut meinen gesetzlichen Ansprüchen keinen Abbruch.‹«


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