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Achtzehntes Kapitel.
Cunliffe's Wohlthäter

Da Miß Claverhouse schon verraten hat, daß Cunliffe einen Brief an seinen Freund Talbot geschrieben, wollen wir dem Leser denselben nicht vorenthalten. Vielleicht dient er auch dazu, Licht über eine Angelegenheit zu verbreiten, welche sich nachgerade in allzu großes Dunkel hüllt.

Der Brief war lang und kam aus Boston, einige Tage nach Cunliffe's geheimnisvollem Verschwinden. Nach kurzem Eingang hieß es darin wie folgt:

»Nun aber zu dem Grunde meiner plötzlichen Abreise! Als ich neulich spät am Abend aus dem Klub nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Brief, dem Poststempel nach aus Boston. Die Handschrift war mir unbekannt, ich vermutete einen Mahnbrief, obwohl ich dort keine Schulden hatte. Müde, wie ich war, beschloß ich, ihn erst am nächsten Morgen zu lesen. Als ich jedoch im Schlafrock am Feuer saß und mir eine Zigarette angezündet hatte, besann ich mich anders, öffnete den Brief und sah zuerst nach der Unterschrift.

Ich weiß nicht, ob ich dir gegenüber Fowler Morgan je erwähnt habe? Wahrscheinlich nicht, denn ich hatte ihn selber fast vergessen; wir waren zusammen auf der Universität und das ist jetzt schon lange her. Er hatte sich, obgleich ich weit jünger war, an mich angeschlossen; mein Umgang schien ihm angenehm, mir war aber der seinige durchaus nicht zuträglich. Es lag etwas in seinem Wesen, was mich anzog und zugleich abstieß; in mir schien ein Keim zu schlummern, der bei ihm schon zur vollen Reife gediehen war. Ich kannte seine Gesinnungslosigkeit. Stundenlang erzählte er mir oft auf meinem Zimmer von seinen Erlebnissen, seinen Absichten und welche Rolle er in der Welt zu spielen gedenke. Ich hörte ihm zu, obgleich mir dienlicher gewesen wäre, ich hätte von vielem, was er sagte, nie Kenntnis erhalten. Seine Lebensauffassung war unedel und niedrig, das fühlte ich wohl; ich stimmte ihm durchaus nicht bei, aber, wie gesagt, seine Persönlichkeit hatte einen gewissen Reiz für mich und ich zog seine Gesellschaft jeder andern vor. Seine Mutter hatte sich Opfer auferlegt, damit er die Rechtsschule besuchen könne, doch gestand er mir ein, er betreibe das Studium nur, um einst mit größerer Sicherheit die Gesetze umgehen oder ihnen trotzen zu können. Er pflegte zu sagen, die Gesellschaft sei nichts, als eine Rotte Schwindler, von denen jeder sofort die Ehrlichkeit an den Nagel hängen würde, wenn es sich ungestraft thun ließe. Religion, Ehre und Tugend seien Sachen des Gefühls.

›Du bist ein netter Kerl,‹ sagte er oft zu mir, ›du gefällst mir, aber es fehlt dir an freier Bewegung; alte Vorurteile von Ehrsamkeit und Rechtschaffenheit engen dich nach allen Seiten ein. Du wirst es nie zu etwas bringen und arm bleiben wie eine Kirchenmaus, wenn dich nicht jemand mit Geld versorgt. Man sagt wohl: Gott hilft denen, die sich selber helfen. Ich aber sage, der Teufel hilft denen, die die Hände in den Schoß legen. Ich will dein Glück machen, Frank. Bei meinem Tode – ich werde schwerlich allzu alt – will ich dir mein Vermögen hinterlassen. Das thue ich, so wahr ich hier sitze. Bis dahin hast du es längst vergessen, aber vielleicht kommt es dir dann gerade wie gerufen.‹

Ich legte natürlich keinen Wert auf seine Worte und vergaß sie richtig ganz und gar. Bald darauf verließ er die Universität, und was aus ihm geworden ist, habe ich nie erfahren. In langen Zwischenräumen traf ich wohl dann und wann mit ihm zusammen; er begrüßte mich stets mit derselben alten Vertraulichkeit; die Wege, die er wandelte, schienen mir aber das Licht zu scheuen, wenigstens warnte er mich gelegentlich davor, ihn bei seinem eigentlichen Namen zu nennen. Eine Zeitlang hat er auch im Gefängnis gesessen, aber ich weiß nicht wegen welchen Vergehens. Daß ich nicht gerade stolz auf meine Bekanntschaft mit ihm war, kannst du dir denken, aber der Mensch besaß noch immer eine eigene Gewalt über mich. Später hat er sich, wie ich glaube, unter einem angenommenen Namen in die Politik gestürzt und dabei muß er wohl zu seinem Vermögen gekommen sein. Ich vermied es stets mir Gewißheit darüber zu verschaffen, ob er wirklich ein so ausgemachter Schurke sei, wie ich argwöhnte. Mehr als einmal, wenn er auf seine Erlebnisse zu sprechen kam, unterbrach ich ihn und sagte, ich wolle lieber nichts weiter davon wissen.

So lagen die Sachen zwischen uns, und ich hatte ihn seit Jahren ganz aus dem Gesicht verloren, als ich an jenem Abend den Brief öffnete, unter welchem sein Name stand!

Ich las Fowler Morgans seltsames Schreiben mit großer Aufmerksamkeit und wachsender Spannung. Es war unzusammenhängend und voller Abschweifungen; doch ersah ich daraus, daß der Mann krank sei, ja sich dem Tode nahe fühle. Dies Geständnis war mit allerhand gottlosen Reden verbrämt, die ihm ganz ähnlich sahen, aber unter den obwaltenden Umständen einen besonders widerwärtigen Eindruck machten. Er schien ganz allein auf der Welt zu stehen; sein Arzt und sein Advokat waren wohl die einzigen Menschen, die in seine Nähe kamen.

›Mich verlangt dich zu sehen, Frank, ehe ich ins Gras beiße,‹ hieß es weiter in dem Brief, ›aber du darfst keinen Augenblick zögern, dich hierher aufzumachen. Wir waren ja in gewisser Weise immer gute Kameraden. Es fehlte dir an Einsicht, sonst hätte ich einen Mann aus dir gemacht; trotzdem bist du der einzige, für den ich je eine Schwäche gefühlt habe, und ich will dir noch einen Beweis meiner Vorliebe geben, ehe wir zwei mit einander fertig sind. Halte mich aber nicht für solchen Narren, daß ich glaubte, du würdest um diese Jahreszeit eine Reise von zweihundert Meilen machen, bloß um einen Kameraden sterben zu sehen, der keine Menschenseele hat, die sich seiner annimmt! Nein, so dumm bin ich nicht! Aber komme nur, Frank, du wirst sehen, es ist das beste Geschäft, das du je im Leben gemacht hast. Dies ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, den du verstehen wirst! Erinnerst du dich noch an mein Versprechen, als wir auf der Universität waren? Ich habe es nicht vergessen und kann mein Wort halten, so gut wie einer, wenn es mir paßt! Komm' mit dem nächsten Zug, mein Junge, und laß mich dir beweisen, daß dem so ist!‹

Ich steckte mir eine zweite Zigarette an und las den Brief noch einmal. Bevor ich ans Ende kam, war mein Entschluß gefaßt, tags darauf nach Boston zu fahren. Mancherlei Gründe bewogen mich hierzu. Erstens hatte ich mich in letzter Zeit in einer Unruhe, einer Aufregung befunden, die mir einen Wechsel des Ortes höchst wünschenswert erscheinen ließ; ich konnte nämlich die Vorstellung nicht loswerden, – mochte sie noch so eingebildet sein, – daß mir die Geheimpolizei auf Schritt und Tritt folge, – hier bot sich nun eine Gelegenheit, sie von meiner Spur abzuleiten! Zudem war mein Wunsch, Morgan in seinen letzten Stunden zur Seite zu stehen, größer als du denken magst und als ich selbst für möglich gehalten hätte, und endlich – das gestehe ich offen – war auch sein Hinweis auf die Erbschaft nicht ohne Einfluß auf mich. Meine Geldklemme machte mir schon lange große Sorge, ich wußte kaum mehr, wo aus, noch ein. Die Reise versprach mir eine Lösung aller Schwierigkeiten und ich zauderte nicht, sie zu unternehmen. Um den Herren Polizisten – mochten sie nun wirklich oder eingebildet sein – zu entkommen, ging ich sogar in meiner Vorsicht so weit, schon um halb sechs Uhr aufzustehen und eine Stunde später das Haus zu verlassen, nachdem ich zuvor meinem Dienstmädchen fünf Dollars zugesteckt hatte, mit der Anweisung, niemand in mein Zimmer zu lassen und auf etwaige neugierige Fragen über mein Verbleiben keine Antwort zu erteilen.

Mir war zu Mute, als sei ich ein betrügerischer Bankkassierer, der sich aus dem Staube macht; nur trug ich keine gestohlenen Gelder in der Tasche. Ich frühstückte in einer Restauration der Sechsten Avenue, las die Zeitung, rauchte eine Zigarre und begab mich nach dem Bahnhof; zum Unglück kam mir noch an der Ecke der 42. Straße ein Bekannter in die Quere. Indessen, ich fuhr unbehelligt ab und kam gesund und wohlbehalten hier an. Zuerst begab ich mich in ein Hotel, ließ mir ein Zimmer geben und einen Imbiß, worauf ich Morgans Wohnung aufsuchte; die Adresse stand im Briefe.

Das Haus, in der äußeren Fremont-Straße gelegen, war anständig, aber ganz gewöhnlich und schmucklos, sowohl außen wie innen; nichts deutete auf eine besondere Eigentümlichkeit oder Liebhaberei des Besitzers. Wahrscheinlich hatte ein Tapezierer Auftrag erhalten, es für eine bestimmte Summe nach dem herrschenden Geschmack zu möblieren. Die Kahlheit und Unwirtlichkeit der Einrichtung gab mir eine neue Einsicht in Morgans Herzensleere und Geistesarmut. Es fehlte ihm an inneren Hilfsquellen, an Charakter, an einem moralischen und geistigen Kern, aus welchem Früchte hätten hervorwachsen können; nur sein Verstand war ohne Unterlaß geschäftig, Ränke zu spinnen und schlaue Pläne zu schmieden. So war er im stande das größte Unheil anzustiften, aber der ganze Mensch hatte weder Saft noch Kraft!

Als ich meinen Namen nannte, ward ich sofort eingelassen und in sein Schlafzimmer geführt. Ich fand ihn im Bette und eine Wärterin bei ihm zur Pflege. Er sah totenbleich aus und war dürr wie eine Mumie; Bart und Haupthaar aber wohlgepflegt und das Kinn frisch rasiert. Auf seine hübsche äußere Erscheinung hatte er stets großen Wert gelegt und sein stutzerhaftes Wesen auch jetzt noch beibehalten.

Er streckte mir eine magere, kalte Hand entgegen und lächelte grinsend, so daß seine weißen Zähne sichtbar wurden und die schlaffe Haut um Mund und Augen sich in zahllose Falten zog. Seine Stimme war tonlos, aber er führte noch gerade so leichtfertige Reden im Munde wie früher. Ueber das Böse, das er in seinem Leben verübt haben mochte, fühlte er offenbar nicht die geringsten Gewissensbisse. – Ob eine Bekehrung auf dem Totenbette einen erbaulichen Eindruck machen kann, weiß ich nicht, aber nie habe ich so lebhaft empfunden, als bei Morgans Anblick, wie schmählich und furchtbar es sein muß, zu leben und zu sterben, ohne je daran gedacht zu haben, etwas Gutes und Nützliches in der Welt zu thun!

›Ich weiß, was dich herführt, Frank,‹ sagte er, ›mein Geld ist es, du verdammter Kerl, leugne es, wenn du kannst! Nun, ich fahre zur Hölle und brauche es nicht mehr, da magst du's haben. Wohl bekomm's dir alter Junge, trinke dich dafür alle Tage so voll wie ein Faß und frage nichts nach Himmel und nach Erde! Sieh zu, ob du so lustig leben kannst wie ich. Was mir im Wege stand, habe ich mit Füßen getreten, wer mir zu nahe kam, hat sich die Finger verbrannt – ich ließ nicht mit mir spaßen! Feiglinge und Betrüger sind sie alle, ich sagte dir's schon damals, als wir in die Welt traten, aber ich bin wie ein Satan unter sie gefahren und habe meine Lust dabei gehabt!‹

Er mochte wohl in meinem Gesichte lesen, was ich bei seinen Reden empfand, denn er sah mich etwas von der Seite an, fuhr dann aber sogleich mit derselben eiteln Prahlerei fort:

›Was thut's, wenn ich morgen schon im Sarge faule! Kein Mensch kann sagen, er habe jemals eine weichherzige Schwäche bei Fowler Morgan entdeckt! Der Gedanke macht mir das größte Vergnügen, das kannst du glauben. Schade, daß ich ihnen nicht noch eine Tücke anthun kann, ehe ich sterbe!‹

Warum soll ich dir aber alle die Faseleien wiederholen, in denen sich der arme Teufel gefiel; es war schon schlimm genug, sie einmal anhören zu müssen. Augenscheinlich ging es rasch mit ihm zu Ende, das wußte er auch, und suchte sich durch sein Gerede Mut zu machen und das Grausen zu verscheuchen, das er in Wahrheit vor dem Tode empfand. Seine Stimme wurde immer tonloser, so daß ich ihn kaum mehr verstehen konnte. Gegen zehn Uhr abends erschien der Doktor. Die Krankheit war ein Darmleiden und jetzt im letzten Stadium. Morgan sah den Arzt, einen schönen, starken Mann in den besten Jahren, mit seltsamen Blicken an, vielleicht war es ihm verhaßt, ihn so frisch und wohl zu sehen, und doch gewährte ihm seine Nähe einen gewissen Trost, denn er sprach endlich: ›Hören Sie, Doktor, was soll ich Ihnen geben, wenn Sie die Nacht hindurch hier bleiben?‹ – Der Arzt erwiderte, das könne er nicht.

›Was? Nicht für tausend Dollars – ich gebe sie Ihnen bar!‹ Jener schüttelte den Kopf. Morgan steigerte sein Gebot bis auf zehntausend Dollars, wenn er ihn bis zum andern Morgen nicht verlassen wollte. Der Doktor sah ihm voll in's Gesicht und sagte: ›Wenn ich Ihnen helfen könnte, bliebe ich ohne besondere Vergütung. Aber meine Gegenwart nützt Ihnen nichts und ich habe andere Kranke, die auf mich warten. Ich verlange nur mein gewöhnliches Honorar.‹

Wenn Sie nicht bleiben,‹ stöhnte Morgan, ›verdammt! dann sollen Sie gar nichts haben. Also: zehntausend Dollars oder nichts! Dabei zerrte er mühsam eine Geldtasche unter seinem Kissen hervor und holte wirklich zehn Tausenddollarscheine heraus, die er dem Doktor hinhielt; laut sprechen konnte er nicht mehr, er hauchte nur im Flüsterton: ›Hier, sehen Sie, zehntausend Dollars – oder nichts!‹

Der Doktor wandte sich ohne Erwiderung zu der Wärterin und erteilte ihr Anweisung wegen der Arznei. Ich erwartete, Morgan werde in Wut geraten, statt dessen beruhigte er sich plötzlich und fragte: ›Doktor, sagen Sie, wie steht's mit mir, wie lange kann ich's noch treiben?‹

Der Arzt sah ihn an. ›Wollen Sie die Wahrheit hören?‹ fragte er.

›Ja, wenn Sie sie wissen!‹

Er schien einen Augenblick zu überlegen, ob er ihn beim Wort nehmen solle oder nicht, darauf erwiderte er: ›Länger als bis morgen mittag können Sie nicht leben‹ und verließ das Zimmer.

Morgans Gesicht nahm einen entsetzlichen Ausdruck an, doch bald zwang er sich zu einem verächtlichen Grinsen. ›Der Narr lügt,‹ sagte er, ›er denkt, er kann mich in's Bockshorn jagen, aber ich habe mehr Mut als er! Das Geld fließt eben in deine Tasche, Frank, statt in seine – das ist der ganze Unterschied!‹ –

Er stopfte die Scheine in die Geldtasche zurück und lag lange – es mochte wohl eine Stunde sein – ohne ein Wort zu reden. Was für Gedanken ihn beschäftigen mochten, ließ sich nur vermuten. Für nichts in der Welt hätte ich sie haben mögen! Endlich schreckte er empor, sein Blick schweifte im Zimmer umher und blieb auf mir haften. Eine Veränderung war mit ihm vorgegangen, die Furcht gewann die Oberhand und von Zeit zu Zeit schauderte er zusammen, wie von Todesangst geschüttelt.

›Recht so, Frank,‹ sagte er sich an mich wendend. ›du bleibst bei mir, nicht wahr? Ich will dir's schon vergüten, sei nicht bange. Um diese Zeit geht mir's immer schlecht, bis morgen ist's wieder besser!‹ Dabei fröstelte er wieder und der Ausdruck seines Gesichts wurde immer fahler und verstörter – es war ein schauerlicher Anblick! Nach einiger Zeit holte er wieder die Tasche hervor und händigte mir einen Schlüssel ein, mit dem ich das Pult bei seinem Bett aufschließen sollte und ihm bringen, was es enthielt. Ich fand zwei Testamente, die das gleiche Datum trugen; als er sie öffnete, sah ich, daß beide unterschrieben und beglaubigt waren. Er deutete auf das eine und flüsterte: ›Dies macht dich zum Erben. Wärest du nicht gekommen, ich hätte es verbrannt und das andere behalten!‹

In jeder Hand eines der Testamente, lag er da, fröstelnd und wild umherstarrend, wobei er dann und wann ein leises Röcheln hören ließ – so verging die Zeit, bis fast vier Uhr morgens.

Mich verlangte nicht nach Schlaf, aber es waren die entsetzlichsten Stunden meines Lebens. Ich hätte alles in der Welt darum gegeben, den Ort verlassen zu können. Unmöglich – ich fühlte, ich müsse bleiben, so lange noch Atem in ihm war. Um vier Uhr richtete er sich im Bett in die Höhe und begehrte in die Nähe des Feuers gebracht zu werden.

Vor dem offenen Kamin, in welchem ein Kohlenfeuer brannte, stand ein Sopha, auf dem die Wärterin gewöhnlich schlief. Wir hoben ihn auf, legten ihn hin und schoben das Sopha so nahe als möglich an den Kamin, da Morgan über Kälte klagte. Als er sich zurechtgerückt hatte, wie er wollte, schielte er mich mit schlauem Lächeln an und sagte: ›Nun bist du mein! – Rührst du dich aus dem Zimmer, so verbrenne ich dein Testament. Bleibst du bis der Doktor am Morgen kommt, so werfe ich das andere in's Feuer.‹ – Ich erwiderte nichts, doch empfand ich den größten Ekel über meine ganze Lage.

›Weißt du, für wen das andere ist?‹ fuhr er fort, ›für den Menschen, den ich am grimmigsten hasse auf der ganzen Welt!‹

So saß ich denn und wartete – worauf weiß ich nicht. Es kam mir vor wie eine Art wahnsinnigen Wettlaufs zwischen dem Tod, Morgan und mir. Der Tod mußte ihn unfehlbar bald eingeholt haben, doch er war bereit, dem einzigen Menschen, den er auf der Welt seinen Freund genannt hatte, noch den größten Tort anzuthun, im Fall dieser den Wettlauf aufgab, ehe er zu Ende war. – Während ich so dasaß, flößte mir der Gedanke an Morgans Geld und daß ich es erben könne, einen solchen Abscheu ein, ich fühlte solchen Widerwillen, diese elende Ungewißheit auch nur noch einen Augenblick länger zu ertragen, daß ich mehr als einmal auf dem Punkte stand, aufzuspringen und das verhaßte Testament mit eigenen Händen in's Feuer zu werfen oder das Zimmer zu verlassen, damit er es thäte. Aber ich bezwang mich, nicht, wie ich aufrichtig glaube, aus irgend einem niedrigen Beweggrund, sondern weil der Mann im Sterben lag und meine Nähe begehrte. Er behandelte mich wie den erbärmlichsten Schurken und Erbschleicher, und doch war ich seiner Meinung nach einer der besten Menschen auf der Welt, an dem er so viel Anteil nahm als ihm das bei seiner Natur überhaupt möglich war! Die widerwärtigen Gefühle, die in mir stürmten, werde ich nie vergessen!

Während der letzten Stunden der Nacht sprach kein Mensch eine Silbe. Ich starrte meist regungslos in's Feuer, aber mit dem Bewußtsein, daß Morgan den Blick keine Sekunde von mir abwandte, sondern mich unablässig beobachtete, wie die Katze die Maus oder vielmehr wie jemand einen Mann, von dem er erwartet, er wolle einen Mordanschlag auf sein Leben ausführen. Die furchtbare Spannung, das fühlte er wie ich, mußte ihm die wenigen Stunden verkürzen, die er noch zu leben hatte, auch wurde er zusehends schwächer, aber er hielt aus mit grimmiger, verzweifelter Zähigkeit – es war der letzte Faden, an den er sich klammerte.

Endlich drang das Dämmerlicht des Morgens durch die Spalten der Läden in das vom Gas erhellte Gemach. Der Wind erhob sich und fegte frisch und kühl die Straße hinunter, ich konnte die dumpfe, heiße Luft des Krankenzimmers kaum mehr ertragen. Das Leben draußen erwachte, die Schritte der Vorübergehenden schallten herauf, man vernahm das Geklingel der vorbeifahrenden Pferdebahn. Mit Morgan ging eine abermalige Veränderung vor, er sank plötzlich in sich selbst zusammen, der Kopf fiel ihm auf die Brust, er atmete in kurzen, scharfen Zügen und versuchte, sich die trockenen Lippen zu befeuchten, während seine Blicke in stummem Entsetzen hierhin und dorthin schweiften. Ich hielt ihm ein Glas Wasser zum Munde, aber er konnte nicht trinken. Unten erklang die Hausglocke; der Ton fuhr Morgan wie ein galvanischer Schlag durch den ganzen Körper. Er richtete sich auf, keuchte nach Atem und reckte den Hals. Schritte kamen die Treppe hinauf – es war der Doktor.

Morgan stieß einen Schrei aus – war es Triumph, war es Wut, oder nur der letzte Aufschrei ohnmächtiger Erschöpfung – ich weiß es nicht! Er wandte sich nach dem Feuer, lehnte sich nach vorn über und warf das Testament auf die Kohlen, aber er hatte nicht die Kraft, sich wieder aufzurichten. Wir sprangen beide herzu, ihm zu helfen, und legten ihn auf das Sopha zurück. Seine Züge waren schon ganz entstellt; er mag wohl noch einige Minuten gelebt haben, wenn es nicht nur das letzte Aufzucken der Nerven war.

Unterdessen verbrannte das Testament, das er in den Kamin geworfen, zu Asche, ohne daß wir darauf achteten. Als Morgan tot war, hob der Doktor das zweite Dokument vom Boden auf, sah es an und sagte in etwas frostigem Ton:

›Man darf Ihnen wohl Glück wünschen, General Weymouth; das ist doch Ihr Name, wenn ich nicht irre?‹

›Mein Name ist Cunliffe,‹ entgegnete ich verwundert.

›Entschuldigen Sie, in diesem Testament ist General Weymouth zum Erben eingesetzt, da das andere verbrannt worden, glaubte ich, Sie müßten es sein. Ich weiß, das vernichtete Dokument war zu Gunsten eines Mr. Cunliffe abgefaßt, ich selbst habe die Unterschrift beglaubigt. Hoffentlich hat der Unglückliche nicht doch zuletzt aus Irrtum das Papier zerstört, welches er erhalten sehen wollte,‹ fügte der Doktor mit einem schnellen Blick auf mich hinzu.

Im ersten Augenblick begriff ich nicht, um was es sich handle; als es mir jedoch klar wurde, fiel mir eine wahre Last von der Seele! Ich fühlte mich wie neugeboren, ein Freudenstrom durchrieselte alle meine Glieder und ich dankte Gott, wie nie zuvor. Sobald ich Worte finden konnte, sagte ich: ›Es ist kein Irrtum vorgefallen, Herr Doktor, Mr. Morgan hat ganz nach meinen Wünschen gehandelt.‹

›So?‹ erwiderte jener, mich abermals scharf anblickend. ›Nun, wenn Sie zufrieden sind, hat sich niemand zu beklagen! Es wird jedoch gut sein, einen Advokaten zur Stelle zu schaffen, damit die Sache ihren ordnungsmäßigen Gang geht. Wenn Sie nichts dawider haben, will ich sogleich dafür sorgen.‹ Er klingelte und schickte den Diener mit dem Auftrag fort. – Während der Doktor und die Wärterin um den Toten beschäftigt waren, öffnete ich das Fenster und blickte hinaus.

Dem Himmel sei Dank, daß alles so gekommen ist! Aber es wäre doch interessant, zu wissen, ob Morgan wirklich das Testament aus Irrtum verbrannt hat und ob ihm noch vor dem Tode klar geworden, daß sein Reichtum dem Manne anheimfällt, den er seinen schlimmsten Feind genannt hat.«


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