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Drittes Kapitel.
Ein Bündel Briefe

Mr. Owens hatte bei diesen Worten den Schlüssel umgedreht; aus der geöffneten Schublade des Mosaiktischchens nahm er ein Paket Briefe heraus, das von einem Gummiband zusammengehalten wurde, und überreichte es dem Inspektor.

»Aus dem Poststempel ist ersichtlich,« bemerkte er, »daß alle aus der Zeit der letzten drei Wochen herrühren. Golding kümmerte sich nicht weiter darum, außer daß er seinem Sekretär befahl, sie aufzubewahren. Anonyme Drohbriefe hat er schon früher erhalten; hat es doch Zeiten gegeben, da er in der Stadt fast nur feindseligen Blicken begegnete. Er ist aber eine Art Fatalist und läßt sich, wie ich Ihnen schon sagte, nicht so leicht aus seiner Ruhe bringen. Wenn hinter seinem Stuhl eine Bombe platzte und ein Loch in den Boden seines Bureaus schlüge – er würde es kaum der Mühe wert halten sich umzuwenden. Es war der reinste Zufall, daß ich überhaupt etwas von der Sache erfuhr. Ich erkundigte mich nach dem Befinden seiner Frau, die leidend gewesen war, worauf er mir sagte, ihre Nerven wären etwas angegriffen infolge des letzten Briefes, den sie erhalten. Nun fragte ich weiter, bis er mir endlich das ganze Bündel zeigte.«

»Hat er denn gar keine Schritte gethan, um den Schreiber der Briefe zu ermitteln?«

»Nicht den geringsten. Golding meinte, mit der Zeit werde er sich schon selbst verraten, es verlohne sich nicht, deshalb Nachforschungen anstellen zu lassen. Nur aus Rücksicht für seine Frau hat er endlich eingewilligt. Ihre Gesundheit litt darunter, nicht sowohl weil sie sich selbst bedroht sah, als auch weil sie in fortwährender Angst um ihn schwebte. Nachdem ich die Briefe gelesen, riet ich ihm, sofort die nötigen Maßregeln zu ergreifen. Er lachte mich zuerst aus und wollte nichts davon hören, doch gab er schließlich nach. Das war heute früh, und ich zögerte keinen Augenblick, mich an Sie zu wenden.«

Der Inspektor streifte das Gummiband ab und betrachtete die Aufschriften der Couverts. Es war etwa ein halbes Dutzend, alle von derselben Hand an Mr. oder Mrs. Maxwell Golding adressiert; kleine, gedrängte, unregelmäßige Buchstaben, als sei der Schreiber bemüht gewesen, seine Schrift zu verstellen oder wisse überhaupt die Feder nur ungeschickt zu führen. Briefpapier und Couverts eine billige, gewöhnliche Sorte. Dem Poststempel nach waren die Briefe sämtlich in New-York aufgegeben; sie trugen weder Namen noch Unterschrift. Was also das Aeußere betraf, so konnte jeder von den Millionen Bewohnern der Großstadt sie geschrieben haben.

»Fangen wir beim Anfang an,« sagte der Inspektor, den ersten Brief entfaltend, und begann zu lesen:

»Maxwell Golding bereite Dich zu sterben. Deine Stunde ist gekommen. Du sollst die Welt verlassen, den Schauplatz Deiner Ungerechtigkeit. Dein verderblicher Lauf geht zu Ende. Du zählst Dich zu den Großen und Mächtigen der Erde, aber du bist sterblich wie sie und Dir naht der Tod. Gott sei Deiner Seele gnädig. Ich bin das erwählte Werkzeug, um Dich zu töten. Der Herr hat es gegeben, der Herr wird es wieder nehmen. Er hat Dir Deine Reichtümer verliehen, Du aber hast sie mißbraucht; jetzt bedient er sich meiner Hand, um Dein böses verwerfliches Leben zu enden. Ich muß thun nach seinem Gebot, ich werde Dich schlagen und nicht verschonen; nur um Deine unsterbliche Seele zu retten, gewähre ich Dir noch eine kurze Frist zur Vorbereitung auf die furchtbare Ewigkeit. Ob Deine Frau und Kinder gleichfalls dem Tode verfallen sind, vermag ich noch nicht zu sagen. Wahrscheinlich wird es des Herrn Wille sein, daß der Stamm mit der Wurzel ausgerottet werde. Noch einmal wirst Du von mir hören und dann nicht wieder, bis Du Dich zu meinen Füßen in Deinem Blute wälzest. Nur wenige Tage sind noch Dein, mich verlangt danach, das Werk des Herrn auszuführen. Meine That wird gerecht erfunden werden und aller Menschen Lob ernten. Ich werde ein Held heißen und ein Befreier. Aber nicht meinen Ruhm begehre ich – ich gehorche nur dem Befehl des Herrn, Dich zu töten. Der Name des Herrn sei gepriesen! Nimm Abschied von Frau und Kindern und bestelle Dein Haus, denn ich schwöre zu Gott, du bist nur noch wenige Tage am Leben.«

»Nun, was sagen Sie dazu, was ist Ihr Eindruck?« fragte Mr. Owens, als der Inspektor den Brief wieder zusammenfaltete und in das Couvert steckte.

»Eine besonders angenehme Würze zur Mahlzeit ist es gerade nicht,« entgegnete der Polizeichef. »Aber ich muß offen gestehen, mir klingt der Brief nicht natürlich; es ist etwas Gemachtes darin, als ob der Schreiber nicht selbst vom religiösen Wahnsinn ergriffen wäre, sondern vielmehr versuchte, im Stil eines solchen Irrsinnigen zu schreiben. Indessen – ich kann mich täuschen!«

»Gesetzt, wir haben es mit einem Betrüger zu thun – was könnte er für Zwecke verfolgen?«

»Vielleicht keinen andern als Mr. Golding in Schrecken zu setzen. Es giebt weit mehr boshaften Mutwillen in der Welt als man meint. Höchst wahrscheinlich hat er aber sehr praktische, greifbare Absichten, obgleich nichts davon in dem Briefe steht.«

»Sie meinen, er will Geld erpressen. Warum deutet er das dann nicht wenigstens an?«

»Das wird später kommen; er verfährt ganz methodisch. Uebrigens kündigt der Brief Mr. Golding an, daß er in wenigen Tagen eine Leiche sein werde. – Seitdem sind drei Wochen verflossen und Golding ist noch am Leben. Das scheint mir verdächtig.«

»Wollen Sie nicht die andern Briefe durchgehen?« erinnerte Mr. Owens.

Der Inspektor vertiefte sich in die Schriftstücke und eine Viertelstunde lang vernahm man im Bibliothekzimmer keinen andern Laut als das Knistern der Scheiter im Kamin und das leise Ticken der Bronzeuhr. Der Polizeichef begnügte sich nicht damit die Briefe zu lesen, er durchforschte auf's genauste alle Einzelheiten, verglich die Schrift gewisser Worte, einzelner Buchstaben, untersuchte, mit was für Federn, mit was für Tinte sie geschrieben sein mochten, hielt den Inhalt des einen Briefs mit dem der andern zusammen, erwog jeden Satz, jeden Ausdruck und suchte aus dem Wortlaut auf Geist und Sinn des Schreibers zu schließen. Auch bei Satzbau und Stil verweilte er, um zu entscheiden, ob der Verfasser ein ungebildeter Mensch sei, der den Schein der Bildung anzunehmen versuche, oder ein gebildeter, der bestrebt sei, unwissend zu erscheinen. Endlich streifte er das Gummiband wieder um die Briefe und legte das ganze Bündel auf den Tisch.

»Haben Sie Ihre Meinung geändert?« fragte Mr. Owens.

»In gewisser Beziehung,« erwiderte der Inspektor bedächtig. »Erstens glaube ich, daß der Unbekannte den bessern Ständen angehört.«

»Ich bin zu dem entgegengesetzten Schluß gelangt. Von der Handschrift ganz abgesehen, würde doch kein einigermaßen gebildeter Mensch in so eckigem, ungelenkem Stil schreiben.«

»Nicht wenn er, so zu sagen, in seinem eigenen Namen spräche, aber er spielt eine Rolle. Er ist ein kluger geriebener Geschäftsmann, der sich bemüht, für einen halb verrückten, religiösen Schwärmer zu gelten. Der Schein ist vortrefflich gewahrt, aber hier und da giebt er sich doch eine Blöße; mancher Satz und mancher Gedanke paßt nun und nimmermehr für einen Menschen, wie er ihn darzustellen sucht. Auch zeugt das Ganze von zu viel Selbstbewußtsein.«

»Sie mögen recht haben, doch ändert das im Grunde wenig. Ob ein gebildeter Mensch oder ein Tagelöhner Golding nach dem Leben trachtet, kommt schließlich auf eins heraus.«

»Durchaus nicht, wenn der gebildete Mann seine Lebensstellung zu verbergen strebt.«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil er einen Grund für diesen Mummenschanz haben muß. Daß er seinen Namen verschweigt, ist ganz natürlich, aber in welcher Absicht sollte er sich den Anschein geben, als käme er aus niederm Stande? Das bringt ihn seinem Ziel nicht näher! Doch behaupte ich, daß er gar keinen Mord beabsichtigt, sondern einen andern Zweck verfolgt.«

»Geld meinen Sie?«

»Ohne Zweifel. Er will Mr. Golding in Schrecken setzen, um ihn seinen pekuniären Plänen geneigt zu machen. Unter allerlei Vorwänden verschiebt er die Ausführung der That von einem Tag zum andern. Die Gründe dafür sind schlau erdacht, aber nicht schlau genug, um die Schlauheit nicht durchblicken zu lassen. Er hat noch etwas im Hinterhalt und ich müßte mich sehr irren, wenn er nicht bald damit herausrückt. Er wird Geld verlangen oder die Mittel es sich zu verschaffen, als Preis dafür, daß er Goldings Leben schont.«

»Sie meinen vertrauliche Mitteilungen über den jeweiligen Stand des Geldmarktes?«

»Nichts anderes. Uebrigens scheint das Individuum genau von Golding's Thun und Treiben unterrichtet zu sein – man sollte meinen, er stünde in unmittelbarer Beziehung zu ihm. Nur so erklärt sich, daß er in dem Brief behauptet, er könne den Mord nach Belieben zu jeder Stunde des Tages ausführen.«

»Ja, das ist mir auch aufgefallen!«

»Natürlich ließe sich auch annehmen, daß er sich die Kenntnis auf Umwegen verschafft hat, und um die Angst seines Opfers zu erhöhen, vorgiebt, er befände sich stets in dessen Nähe, damit Golding sich nirgends mehr sicher fühlt, selbst nicht im Schoos seiner eigenen Familie. In jedem Geschäftsfreund, jedem näheren Bekannten, selbst in seinem Privatsekretär soll er den geheimen Feind argwöhnen müssen.«

»Sie glauben also, es sei nur ein Kunstgriff?«

»Das nicht gerade. Doch wünscht der Schreiber offenbar, ich möchte es dafür ansehen. Meiner Meinung nach sind die Briefe nämlich nicht nur für Mr. Golding bestimmt, sondern auch für das Auge der Polizei. Der Schreiber weiß, daß ich sie früher oder später zu Gesicht bekomme, und versucht daher, mich von der Fährte abzulenken. Er nimmt an, ich werde auf indirekte Weise aus den Briefen den Schluß ziehen, daß er mit Golding persönlich bekannt ist, deshalb sagt er es mit dürren Worten, damit ich es nicht glauben soll.«

»Er verläßt sich darauf, daß Sie ihn für einen Betrüger halten, und sagt deshalb die reine Wahrheit! – Verstehe ich Sie recht, so ist das Ihre Meinung.«

»Er sagt die Wahrheit in diesem Punkte, ja. Sie sehen, was daraus folgt. – Steht er Golding wirklich so nahe, dann ist es weit leichter, ihn zu entdecken. Die Wahl wird dadurch ungemein beschränkt. Von hunderttausend Möglichkeiten sind wir mit einem Schritt auf zehn oder zwanzig herabgekommen.«

Mr. Owens warf dem Polizeichef einen bedeutungsvollen Blick zu.

»In der That, Sie verdienen Ihren Ruf, Herr Inspektor,« bemerkte er nachdenklich.

Der andere lächelte. – »Noch ist das Dunkel nicht gelichtet,« versetzte er. »Um etwas mehr Klarheit hineinzubringen, gestatten Sie mir wohl einige Fragen: Wüßten Sie nicht – von dem Standpunkt aus, den wir der Sache gegenüber jetzt einnehmen – irgend jemand zu nennen, auf den ein Verdacht fallen könnte?« –

Owens schüttelte langsam den Kopf. »Mir fällt auch nicht eine Persönlichkeit ein.«

»Sie kennen alle Leute, die mit Golding in Berührung kommen?«

»Ich glaube wohl.«

»Ist nicht jemand darunter, dem er zu irgend einer Zeit geschadet hat, mit dem er in Streit geraten ist, den er sich aus dem oder jenem Grunde zum Feinde gemacht hat?«

Owens stützte den Kopf nachdenklich in die Hand.

»Wer mit Golding arbeitet, oder für ihn,« sagte er nach einer Pause, »ist meist Feuer und Flamme für seine Interessen. Selbst wer ihn persönlich nicht mag, bewundert ihn doch und ist bereit, alles für ihn zu thun. Wie die Soldaten ihrem General, so hängen ihm alle an; gilt er gleich für einen Tyrannen und strengen Zuchtmeister, er begeistert sie doch und sie gehorchen seinen Befehlen, weil sie fühlen, daß er weiß was er will und die sichersten Mittel für seine Zwecke wählt. Goldings Untergebene oder Genossen würden sich eine strenge, ja rauhe Behandlung von ihm gefallen lassen, ohne daran zu denken, sich gegen ihn zu erheben. Jedenfalls könnte ich Ihnen nach dieser Richtung hin keinen Fingerzeig geben. Wie soll ich wissen, wer einen Groll auf ihn hat?«

»Ist Ihnen niemand bekannt, der früher mit ihm auf freundschaftlichem Fuße gestanden und aus irgend einem Grunde mit ihm gebrochen hat, entweder öffentlich oder insgeheim?«

Owens schien plötzlich ein Gedanke zu kommen; er biß sich auf die Lippen, machte ein bedenkliches Gesicht und sagte zuletzt mit lächelnder Miene:

»Mir fiel eben jemand ein, auf den Ihre Beschreibung vollkommen paßt. Aber er ist nicht der Mann, den wir suchen.«

»Wie wissen Sie das so genau?«

»Weil es unmöglich ist! Ich kenne keinen größeren Ehrenmann in New-York; sein Ruf in der Geschäftswelt ist unantastbar. Von ihm kann gar nicht die Rede sein.«

Der Polizeichef sah dem Sprecher voll in's Gesicht.

»Mr. Owens,« sagte er, »in einer Angelegenheit wie die vorliegende ist kein Mensch über unsern Argwohn erhaben. Je größer die Unwahrscheinlichkeit, um so mehr Grund zur Untersuchung liegt vor. Ein anonymer Brief kann von jemand herrühren, den Sie für Ihren liebsten Freund halten, von dem Kirchenältesten der Gemeinde ebensogut wie von Ihrem Bankier. Offen gestanden – ich halte es durchaus nicht für erwiesen, daß Sie selbst nicht der Schreiber der Briefe sind.«

»So weit gehen Sie also in Ihrem Argwohn!« erwiderte lachend der andere.

»Vielleicht erweist es sich als ein Ding der Unmöglichkeit, den wirklichen Urheber zu entdecken,« entgegnete der Inspektor; »zum voraus können wir jedoch von keinem Menschen bestimmt sagen, daß er es nicht ist. Ich rede im vollsten Ernst. Auf Ihr Verlangen bin ich hergekommen, um zu thun, was in meinen Kräften steht, damit wir der Sache auf den Grund kommen. Soll mir dies gelingen, so müssen Sie mich wenigstens insoweit unterstützen, als Sie mir die Namen solcher Leute nennen, welche die Briefe möglicherweise geschrieben haben können. Indem Sie das thun, geben Sie nicht etwa zu verstehen, daß Sie an die Schuld der betreffenden Personen glauben. Meine Nachforschungen werden vielmehr dazu dienen, dieselben von jedem unbegründeten Verdacht zu reinigen.«

»Sehr wohl, Herr Inspektor,« erwiderte Owens, indem er sich erhob und mit dem Rücken an den Kamin lehnte. »Ich will Ihnen den Namen des Mannes nennen, an den ich gedacht habe. Im übrigen aber wasche ich meine Hände in Unschuld! – Haben Sie je von Gilbert Cowran gehört?«


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