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Das zehnte Abenteuer

zeigt Till immer noch unter den Zigeunern. Drei Vetteln treiben seltsames Hokuspokus um das Feuer herum, das Tillen übel bekommt. Bleierne Träume legen sich auf ihn. In diesem Zustand empfängt er Besuch eines jungen Offiziers, der ihm ein Kirchhoferlebnis aus der verflossenen Kriegszeit erzählt. Er muß ein Gespräch mit dem Satan bestehen. Er wohnt einem weltgeschichtlichen Morde bei. Till erstarrt endlich zu Stein und erwacht, Gott sei Dank, zugleich. Was das Abenteuer sonst noch enthält, ist belanglos.

 

Quarkspitz lächelte fein und mit kindlich, fast süßlichem Ausdruck,
als er solches gesägt. »Wohin reisest du?« fragte er Till dann.
»Immer wieder vom Orte der Qual nach dem Ort des Genusses!« –
»Warum bleibst du denn nicht an dem Ort des Genusses?« so Quarkspitz. –
»Weil den Ort des Genusses Genuß selbst zur Wüste verwandelt.
Doch im Ernste: ich bin auf dem Weg nach der seligen Insel,
die ich schon als Knabe ersehnt und auch manchmal erblickte.
Hat sie je meine Ferse betreten? Ich wage das Nein nicht.
Wenn es aber geschehen, so hab' ich nur kurz dort gerastet.
Liebster Quarkspitz, betrachte dir doch jene warnende Wolke
unterm Mond ob dem Wald, diese ist's, wenn du willst – und ich will es!
Metakosmion du, Wohngelände der seligen Götter!
Doch im Ernste: ich haudre vom Schlachthof zum Gral sozusagen.
Wie es kommt: unter Tag oder oben im Licht geht die Fahrung.
Meine Tunnels sind lang, und ich grabe sie selber. Verstürzte,
leere Berge, mühselig zerhämmert, verhindern den Rückweg.
Durch! hindurch! und zudem schenkt die Nacht, die das Sichtbare auslöscht,
Unsichtbares dem blinden Gesichte des staunenden Sehers.
Hat nicht, blind, der erhabene Milton die Himmel entriegelt?
Nein, im Ernst: meine Straße, sie führt ins Dorado, ins Goldland,
denn ich gehe nunmehr damit trächtig, das Glück mir zu kaufen.
Sagte doch sehr mit Recht Makedoniens Herrscher Philippos:
Keine Burg widersteht mir, vermag ich nur einen mit Golde
schwer beladenen Esel zu treiben hinan bis ans Torloch.
Doch im Ernste: ich nenne mich allbereits Christoph-Kolumbus-
Till! so närrisch wie er und so steuerlos reise ich westwärts:
heute klingeln ja noch deine Schellen, Gevatter. Ich höre
sie und höre wie du, und ich sehe wie du die vier Ströme
rauschen, welche das Paradies unseres Herrgotts bewässern.
Doch im Ernste: genug des Spaßes! Ich werde zu Köln mir
eilig noch jenen Stein in der Krypte des Domes betrachten,
den der Satan dereinst nach den Heil'gen Drei Kön'gen geschleudert.
Und dann reise ich fort, immerfort durch die Wüste des Daseins,
durch die Wildnis der Welt und hinaus aus den Grenzen der Menschheit,
bis ich endlich den Ort in der Stille der Wälder gefunden,
wo man tritt in den Berg. Und ich trete hinein, und ich finde
dort am Tische bedient drei ehrwürdige Greise von Jesus:
drei Gevattern, genannt Zoroaster und Gotamo, endlich
Konfutse! Und allhier nun erwart' ich das Zeichen zum Ausgang.
Denn es hat dieser Berg zwei der Tore: Durch das man hineingeht,
ist das eine. Nie kehret zurück, wer hier einmal hindurchging.
Durch das andre entfernt man sich wieder, wohin, das weiß niemand.« –
Till erwog, seine Pferdchen zu schirren, um aus dem Bereiche
des Zigeunergetriebes den fahrenden Hausstand zu lösen.
Doch es brummelte leis hinterm Wald wie von fernen Gewittern,
und die Schwüle nahm zu, so daß Müdigkeit Till übermannte.
Gähnend streckte er sich und versank, offnen Auges, in Halbschlaf.
»Blaßgesicht, schlafen ruhig! Agole wird niemand bestehlen!«
Bikaneskero sprach's und fuhr fort: »Schlafen sicher! Zigeyner
gute Freind! Bikaneskero stoßt jeden nieder, wo nah kommt!
Braucht jemalen der Herr Offizier eine Klinge, wo sicher
abtut Feind: Bikaneskero rufen, der eins, zwei, drei Schluß macht.«
Und der lupuszerfressene Wicht tupfte Tillen den Scheitel,
hielt dann Wache und scheuchte ihm Mücken, solange er dalag. –
Vetteln traten ans Feuer, dem träumenden Blicke des Landschelms
Hexen! Eine von ihnen riß Federn vom Rumpf einer Krähe,
bis sie nackt war. Dem offenen Schnabel entsickerte Purpur.
Jene andre, ein bärtiger Zwitter, sie ward Grauer Löwe
angerufen und trug, wie der Jäger das Reh, auf dem Rücken
einen Hund. Er war schwarz, einem Fleischer wahrscheinlich gestohlen,
an ein Lachter gehängt mit gefesselten Läufen, geknebelt
und nicht tot. Es befiel ihn zuweilen ohnmächtiges Rasen,
wie Till schaudernd erkannte in alphaft gebundenem Hinblick.
Pulver schüttete eine, die dritte der Hatschen, ins Feuer,
und es sprühte hoch auf und mit Funkengeknister gen Himmel.
Wetter macht sie, wahrhaftig, denkt Till, und nun hab' ich's gesehen.
Alsogleich bricht ein schweigendes Licht in der schweigenden Nacht auf,
wetterleuchtend, gehorsam dem Zauber der Hexe zu Diensten.
Sie verhext mich, denkt Till. Es umwölken mich beißende Dünste,
schwer betäubend und doch eine peinvolle Klarheit verbreitend.
Aufgerissen von diesen Megären, mit Kettengerassel,
sind die Höhlen der Not, jene Höhlen, aus denen die Menschheit
schöpft den ewigen Fluch ihres Lebens, das heißt ihres Kampfes.
Sind es Hämmer? Wird Eisen vom Schmiede ums Hirn mir geschweißet,
wie es einst dem Prometheus geschah an der Felswand der Wahrheit?
Obre, himmlische Welt, wo nur bist du, in die ich einst auszog,
kinderselig, vom Glücke der Unschuld betäubt und beflügelt,
gläubig!? gläubig von jenem allmächtigen Glauben, der Sonne
ist und letzter Triumph über alles, was häßlich und schlecht ist. –
Morgendunkel umgibt den von finsterstem Alpdruck Gewiegten,
ihn, den irrenden Ritter der Narrheit. Es ziehen die Schwestern –
sind es Hexen? sind's bärtige Parzen? – ums kohlende Feuer
Fäden, scheint es, durch Eimer voll Blut. Dazu krähen die Hähne,
die sie schlachten, den schrecklichen Morgen des Todes verkündend.
Und es hört Till die Hähne, es werden im Traume Millionen,
die hervor aus den Hälsen den Weckruf, den schmetternden, stoßen:
»Hört und seht und erwacht, ihr im eignen Kot eurer Sünden
fast erstickenden Völker! Was blühet an euch, blüht auf Blutkot!
Puritaner Neu-Englands, kalvinische Christen, was sagt ihr
auf die Frage des ewigen Richters nach Abel, dem Bruder?
Wieder nur das fluchwürdige Wort, das vor Zeiten auch Kain sprach:
Hüter bin ich der Herden, doch nicht meines Bruders? Dann werden
Scharen kommen und Scharen und Scharen rothäutiger Männer,
Greise, Weiber und Kinder, bestohlen von euch und erschlagen
oder aber verkohlet im beizenden Feuer des Mordbrands:
Opfer allzumal eures grausam-blutrünstigen Rechtsbruchs.
Diese alle, zerschroten, sie bilden den Mörtel des grausen
Bossenwerkes, auf dem euer prunkendes Kaufhaus emporragt.«
Was ist das? Till erblickt einen Trapper mit Büchse und Fellwams,
jung und breit, blauen Blickes wie Stahl, in der Linken die Bibel.
Dieser hat einen Baumstumpf ersprungen und stößt ein Gekräh aus,
wie zehn Hähne zumal. In dem Kampf um ein Weib und ein Wigwam
hat er eben den Bruder besiegt, den getreuen Kam'raden,
Grenzer, Mitchrist: er hat ihm die Augen gequetscht aus dem Kopfe,
und, o Greul aller Greueln, er hat ihm die Gurgel durchbissen.
Till will schreien, er will sich befreien, gelähmt, er vermag's nicht.
»Spanier, tretet heran!« klingt die Stimme des ewigen Richters.
»Montezuma ist hier und verklagt euch im Namen des Heilands.
Atahualpa ist hier, wie der andre von Spaniern getötet.
Was ihr brachtet, war niemals mein Reich: es war Raub und war Totschlag!
Kannibalen? Ihr waret es selbst, denn ihr fraßet von Völkern
leer das Land, wie die Heuschrecke Kahlfraß und Wüste zurückläßt.«
Unausdrückbar ist das, was in Tillens Verzauberung lebte,
während, seltsamer immer, die Kreise der Hexen ums Feuer
Schleifen zogen, den blutigen Faden auf Spindeln verspinnend.
Schneller als auf der Geige die perlenden Läufe des Herzogs
ging der Zug der belasteten Menschheit an Tillen vorüber.
Alle Stände und Orden und Völker, sie zeigten das Mordmal
an der Stirn. Nein, das Gute ist niemals gewesen und ist nicht!
spricht's in Till, und ich habe durchaus allen Glauben verloren.
Jedes Banner, es lügt, hat doch das mit dem Kreuze gelogen.
Und nun tanzten um Till nackte Männer mit blinkenden Schwertern,
stark und wild an Bewegung und Kraft. Runde Schellen gereihet
trug ein jeder, geriemet als Kranz, überm Knie. Und sie lärmten.
Zum metallenen Gellen erschollen die Kehlen der Tänzer:
»Gellen! gellen! es sollen die Schellen euch gellen! und gellen
Gott zum Ruhme, Gesellen, im blutigen Tanze zu fällen
Feind und Freund! So begießet die Schwellen mit schwärzlichen Wellen
Bluts, ihr Tänzer des Herren, den Acker des Herrn zu bestellen! –
Und nun wieder: es dröhnen die Gleise, die Schienen des Bahndamms.
Donner füllet den Wald: wiederum ein verkehrender Bahnzug.
Es genügt, eine Welt in der Seele des Gauklers zu wecken.
Heimwärts rennen die schweren Maschinen mit donnerndem Radschwung.
Und sie schleppen die Wagen voll Kämpfer, die Züge voll Heimweh.
Schlangen jagen von Westen nach Osten, unzählig und ruhlos,
Züge, Züge! Sie schleppen marode und bresthafte Menschen.
Dicht erfüllen die Leiber die inneren Räume der Wägen.
Und als hätte man klebrige Stäbe, Leimruten, gezogen
durch schwarzwimmelnde Ameisenberge, so hingen die Männer
außenher um den Zug, Dach und Wände der Wagen bedeckend.
Till sah mehr noch im Traume, viel mehr, und wild stieß ihn sein Herzschlag.
Und noch gellen die Schellen der Tänzer des Herrn. Ein berußter
Maschinist sagt: »Die Züge sind schwer, und sie wollen nicht vorwärts,
weil der Toten weit mehr sie bevölkern als selbst der Lebend'gen.«
Und Till sah die Gespenster sich drängen, gepfercht in die Lücken
der Lebend'gen, bald mit ihnen eins, bald gepfercht in Tornister,
in Feldflaschen, in Koffer und hingezwängt auf das Gepäcknetz.
Heimat! Heimat! sie wollen nun einmal die Heimat nicht lassen:
nicht die Mutter, den Vater und nicht die verwaiste Geliebte.
Hui! wie keuchen die Züge, wie stampft die Maschine, wie wirbelt
Nachtgewölke, umhüllend die furchtbar schmerzzitternde Hetzjagd.
Blätter sausen: der Herbst! Oh, du furchtbar verwelkender Herbsttag!
Wirbel! Wirrwarr! erstickender Staub! nachtverbreitende Asche!
Untergang! spricht die Stimme in Till. »Mein Geliebter, da bist du!«
sagt er plötzlich. Und siehe, es steht einer vor ihm, ein Jüngling.
»Leih mir«, spricht er, »Geliebter, dein Ohr, denn ich muß dir's erzählen!« –
»Was?« fragt Till. – »O nicht viel: ich bestand es soeben!« der Leutnant,
»und es war an der Zeit, denn so hab' ich den Bruder gerettet.« –
»Lebt er noch?« fragte Till. »Er verunglückte doch mit dem Flugzeug.
Es geriet doch in Brand, und er klammerte sich mit den Händen
außen, wie man mir sagt, an den Rand, bis er endlich doch losließ.
Ist es nicht so? Nun, Gott sei gedankt! Und er ist nicht zerschmettert?« –
»Er ist tot«, sprach der Bruder, »man hat ihn begraben in Frankreich.
Heute grub ich ihn aus, heute nacht, guter Till, und nun soll er
friedlich ruhn, guter Till, und in heimischer Erde bestattet.
Wo er lag, war das Lärmen zu groß! ja, das magst du mir glauben.
Blitz und Krach der Granaten umgab uns, es wurden die Hügel
weggefegt und die Gräber geöffnet, die Särge zersplittert
und die Leichen koppskegelgeschleudert im höllischen Kehraus,
so als wollte der Satan die Urständ des Fleisches verspotten.« –
»Freund, dort hast du den Bruder besucht und ihn gleichsam dem Teufel
aus dem Rachen geholt? Warum tatst du das, wenn er schon tot war?« –
»Till, er wollte nach Haus. Und ich hörte ihn rufen. Da schwur ich,
ihn zu holen, es koste, was immer. So stark war mein Wille,
daß ihn niemand zu brechen vermochte, vor allem ich selbst nicht.
Also zogen wir nachts, ohne Licht, tapfre Bayern entschlossen
mit mir. Schwer war die Fahrt, und wir suchten beim Licht der Granaten
stundenlang nach dem Kreuz, das den Namen des Bruders verriete.
Zehnmal stürzten wir hin auf den Bauch und erhoben uns wieder,
wenn der Krach der Granate verscholl und die Trümmer des Kirchleins
nur noch Kalk und Gesteine abrieselten. Endlich erkannte
mein aufzuckendes Licht, was ich suchte. Der Name des Bruders
drang mir kaum in die Brust, und mein Weinen antwortete ›Bruder‹
kaum, so gruben wir schon mit nun hastig beflügelten Spaten.
Jetzt erst jagte uns Furcht. Und wir zogen den Sarg aus der Erde.
Doch er kippte. Es fiel der Verstorbne heraus, so als wollte
er zurück in sein Grab und das Grab nicht verlassen. Fast schien er
eigensinnig zu sein oder spaßhaft. Und als wir ihn endlich
hatten, so wie wir wünschten, gestreckt auf die Bahre, da blitzt' ich
mit der Lampe ihn an. Was geschah? Die so reichlich geflutet,
meine Tränen, die fast vor dem einzelnen Stiche des Spatens
jedesmal mir die Erde erweicht, sie versiegten urplötzlich.
Alles schien mir auf einmal skurril bei dem Anblick der Maske,
die hier lag und von der man, sie wäre mein Bruder, behauptet.
Dafür wagt' ich mein Leben und wagte das Leben der andern?
Narrenpossen! Ein Bündel aus Flicken, Gebein und Verwesung!
Witz und Trick! Ach, ich fand mich verhöhnt durch ein albernes Kunststück,
eine Puppe, die ausgespielt auf dem Jahrmarkt des Lebens,
aus der Maskengarderobe der Welt einen Lumpen des Fundus.« –
»Ja«, spricht Till, »du hast recht!« Und sofort ist der Jüngling verschwunden.
Bruder! klingt es in Till. – »Was denn heißt das?« so schnarrte ein Laut jetzt.
»Sage Bruder, so sagst du so ziemlich dasselbe wie Todfeind!
Sieh, ich hinke wie einstens Hephaistos, der Grobschmied im Ätna.
Doch du wirst mich als höllischen Fürsten, als Satan erkennen.
Satanas ist mein Name, Satanisches will ich dich lehren.
So unflätig hat niemand den Satan geschmähet als Luther,
Lächerlichstes berichtet von ihm Athanasius. Lügner
sind sie beide, die Lügner und Geist der Verneinung mich nennen.
Vor dir stehet der Dämon der Wahrheit, Freund Till. Solche Mitgift
hinzuschleppen durchs öde Gebiet zwischen Himmel und Erde
ist nun freilich kein Spaß. Wenn es heißt, daß die Wahrheit versteinet,
trifft das zu, wo ein Mensch sie erblickt. Doch du hast ja dein Reittier,
Pegasos ist sein Name, das mit der Medusa verwandt ist.
Und so magst du vielleicht vor dem Anblick der Wahrheit gefeit sein.
Gott, der Herr über alles, verdammte mich – 's ist nicht zu leugnen –,
inkarnierte in mir, nun verstehe das recht, die Verdammnis.
Also siehe mich an, Mensch: Ich bin die Verdammnis! Nichts andres
bin ich, war ich von jeher. Und also auch bin ich ganz schuldlos,
frei von Sünde durchaus! Gott erschuf mich. Er schuf mich nur einmal.
Oder war ich mißraten zuerst, daß er später mich umschuf?
Dann entbehrt er der Allmacht. Verdarb er mich später, so will er
statt des Guten das Schlechte. Und wäre dem so, wär' es Wahnsinn.
Höre aber: In mir ist ein Fremdes, in mir ist ein Tropfen,
der sich gegen das schwärende Blut der Verdammnis, das in mir
raset, täglich empöret, und deshalb nur heiß' ich Empörer!
Dieser Tropfen, er wünschet dorthin wiederum sich, woher er
stammt, und müßt' er deshalb auch das Reich der Verdammnis vernichten:
das bin ich, denn in mir ist das Reich und der Herrscher verbunden.
Nun, es hat mich besiegt, guter Till, dieser Tropfen im Blute.
Keinen Pfifferling gilt mir mein Thron und mein Reich der Verdammnis!
Abzudanken versucht' ich auf vielerlei Weise, erlaß mir's,
all dies saure und bittre Bemühn hier umständlich zu schildern,
eh ich's wagte, vor ihm zu erscheinen, den Worte nicht nennen,
und ihm selber die Not meiner angstvollen Brust zu verraten.
Und ich trat vor ihn hin, als ansonst mir nichts half, und ich sagte:
›Schöpfer, der du mich schufst, ich bin müde des Daseins! O töte
mich, vernichte mich, Herr! Denn ich mag nicht mehr leben, will Nichtsein!
Lösch, Allmächt'ger, mich aus, wie du willst: mir bedeutet's Erlösung!
Sieh, du schufest in mir das Böse. Allein irgend etwas
hat das Böse in mir so verdorben wie Stahl, den der Rost deckt.
Darum schleudre mich fort! Und verlöschet mit mir die Verdammnis,
nun, so bring' ich ein Opfer dir dar, deines Sohnes nicht unwert;
nahm er doch die Verdammnis hinweg durch das Blut seines Opfers,
wie man sagt, nur bis heut nicht von mir, was mir bitterlich weh tut.
Opfre mich, großer Vater! Vollbringst du's, so willst du das Gute,
wie das Gute in mir dir zum Opfer das Böse nun darbringt!
Nimm das Opfer nicht an, und so willst du das Böse: dann bist du,
Gott, das Böse fortan, ich dagegen fortan bin das Gute!‹
Jetzt vernimm: Gott verweigerte es, meinem Wunsch zu willfahren!« –
Bilder, Bilder! Dem Traum nicht enthoben, denkt Till. Wo denn bin ich?
Hat mich jemals im Wachen befallen so scheußlicher Alpdruck?
Macht doch Licht! Schafft mir Luft! Und was ist's für ein pfeifender Sturmwind,
der die Mauern berennt mit dem Hauche sibirischer Frostnacht?
Übel riecht's nach gekeimten Kartoffeln und jauchichtem Spülicht,
abgewürgeten Hühnern und Tauben, gesengeten Federn.
Chlorduft hebet den Ekel nicht auf, den das Schmutzloch verursacht,
dieses Kellergelaß, welches halb aus der Erde hervorragt.
Und man führt einen Mann in den Raum und sein Weib, seinen Knaben,
seine Töchter, es sind ihrer vier und von adligster Schönheit.
Dieser Mann war einst Zar aller Reußen. Sein Haupt trug die Krone
des gewaltigen Russischen Reichs, dem die Erde erbebte.
Oh, Till kannte ihn gut, Till erkannte ihn wieder. Er hatte
ihn erblickt bei den großen Paraden, mit Säbel und Kolpak,
unter ihm den arabischen Schimmel, das Silber der Trense
kauend, rosige Nüstern gebläht und bewußt seines Reiters.
Zar! Der Zar! Gospodar! Ein Verweser der menschlichen Allmacht
und im Winke Gehorsam erzwingend in allen fünf Zonen!
Hatte damals die Welt nicht gelauscht? Und wo war wohl ein menschlich
Auge nicht nach der Stadt an der Seine gerichtet, als diese
ihre blumigen Tore dem König der Könige auftat
und ihn jauchzend und tanzend empfing und vor allem auch kriechend!?
Zar, da warst du ein Gott und warst göttlich verehrt, und es klangen
dir die Glocken von Notre-Dame, nicht Marien und Christo;
diese waren entthronet. Die Stelle Mariens, du nahmst sie
ein, o Zarin, und duftig umquoll dich ein Himmel von Weihrauch.
Wahrlich knieten vor euch nicht allein die Drei Könige. Alle
knieten damals vor euch, denen jemals ein Sklave gehorcht hat.
Ja, es knieten vor euch alle Völker der Welt in den Staub hin. –
Und sie treten herein in den Keller, der Zar und die Zarin.
Die Kanonen erdonnern nicht mehr und die Glocken zum Willkomm.
Hart auftreten die Schuh' der sich Nahenden auf dem Zementgrund.
Einsam ist dieser Laut, er ist namenlos schweigsam und trostlos.
O wie nüchtern ist dies, ach wie häßlich, wie ganz ohne Schönheit:
rohe Schurken begleiten den Zug, alle stinken nach Branntwein.
Tabakslauge entrinnt ihren Bärten. Nicht tun sie sich Zwang an,
wenn es etwa sie reizet, zu rülpsen und sonst sich zu lüften.
Schlächter sind es, nicht mehr, und es ist ihnen eins, was sie metzgen,
sei es Kalb oder Schwein oder Mensch. Heute wird es der Zar sein.
Er! – die Zarin! – ihr Sohn! – und vier köstlich erblühete Töchter! –
Woran denkst du jetzt, Zar, als du, fast schon ein Leichnam, hereintrittst?
Oh, ich weiß es: nicht mehr an Paris und auch nicht an Paraden.
Doch da gibt es ein hölzernes Hüttlein im hessischen Buchwald,
tief verborgen im Laub, und dort möchtest du sein und verbleiben
mit den Deinen, versteckt, als ein schlichter, vergessener Landmann.
Warum hat dir der Herrgott im Himmel den Wunsch denn verweigert,
nur ein einfacher Landmann zu sein, statt der Zar aller Reußen?
Etwa um eine Lehre dir ernsthaft zu geben, wie nichtig
aller irdische Glanz und so jegliche irdische Größe?
Ach, das wußtest du längst! Vielleicht war's deine einzige Weisheit,
dieses Wissen, o Zar, und du durftest es doch nicht verwerten.
Also Karma: du sündigtest also in frühren Geburten
übermenschlich, dieweil übermenschlich die Art, wie du's abbüßt! –
»Du mußt sterben mit allen den Deinen!« sagt einer der Schlächter. –
»So erlaubt mir«, erwidert der Zar, den Zarewitsch im Arme,
»Abschiedsworte, ihr Männer, an Mutter und Brüder zu richten,
nur ein flüchtig gekritzeltes Wort!« Dann erstarrt ihm die Zunge. –
Traum, Till fühlt es, auch dies ist nur Traum, und er wünscht zu erwachen.
Doch es weicht nicht das furchtbare Bild und der grausige Alpdruck!
Wieder hört Till die Hähne, es werden im Traume Millionen,
die hervor aus den Hälsen den Weckruf, den schmetternden, stoßen:
»Hört und seht und erwacht, ihr im eigenen Kot eurer Sünden
fast erstickenden Völker! Was blühet an euch, blüht aus Blutkot!« –
»Mordet mich denn zuerst!« spricht der Zar. Und er denkt bei sich selber:
Heldenhafter vielleicht ist es noch, als der letzte zu sterben.
Wie unwirklich ist dies, wie unmöglich dies alles. Wie einfach
dacht' ich selber im stillen von mir. Doch nun scheint es, daß Gott nicht
für so einfach mich nimmt als ich selbst, da er solcherlei Schicksal
zu erleben für schuldig mich hält. Und so grübelt er weiter:
Gnadenlos ist dies alles, das Ende ist da und kein Ausweg.
Ich erkenne dich, furchtbare Lüge, wahnwitzige Täuschung!
Wo sind Menschen? Wo sah ich sie je? und wo gibt es dergleichen?
Und schon spritzt sein Gehirn unterm Beilhieb und klebt an den Wänden,
und die gnadenlos-wütende Axt, sie vollendet ihr Blutwerk. –
Nein, dies ist kein Erwachen! denkt Till. Und er fühlt, wie er Stein wird:
eisig hauchet und eisiger immer es über sein Rückgrat,
langsam ringt und versteinert sein Herz. Es versteinern die Lungen,
Tillens Kehle wird Stein, und nur mühselig ringt er nach Luft noch.
Gräßlich preßt ihn die Angst, als die bleierne Lähmung sein Hirn packt.
Er will schreien, die Bande zerreißen. Er krallt mit den Händen
wütend gegen den Mund, der verschlossen und hart wie Granit ist.
Auch die Finger erstarren zu Stein nun, Gelenke und Glieder
werden Stein – und in Stein ist der Gaukler lebendig begraben.
Ja, er lebt, denn noch lebt, einem glimmenden Funken vergleichbar,
seine Seele im Stein. Sie verlöscht – und im selbigen Nu ist
Till erwacht! Und er reibt aus den Augen sich Gräser und Flugsand. –
»So, nun sei es genug! höret auf mit Gegump und Geräucher,
Wetterhexen! Ich habe nicht Lust, euren sengrigen Weihrauch
fernerhin in die Lungen zu ziehn: Eure eklen Gewölke,
aus dem glimmenden Brand blutgetränkter Lappen gesogen,
sollen weder die Brust noch den Himmel mir ferner begraben.« –
»Die Zigeuner sind fort!« spricht die Gule und schüttelt den Träumer,
der einstweilen nur lallt, denn er ist noch nicht voll bei Besinnung.
Morgendunkel erfüllet den Abgrund der Wälder. »Sie haben
mich verhext, diese lausigen Weiber!« spricht Till. »Mir ›vergeben‹
irgendwie, denn ich spüre den giftigen Tropfen im Blute.
War es Hekate selbst, die mit Ohnmacht mich schlug? jene Göttin,
Hunde liebend, als Stumme bleich dämmernd die Nächte durchwandelnd,
die das Erdreich beweget und Geister aus Gräbern emporsaugt?
Und wie heil' ich mich dann, wie entsühn' ich mein Blut, drin die Nacht schwärt,
die mein Lachen mir stiehlt und den heiteren Tag meiner Seele?« –
»Komm doch zu dir! komm zu dir!« bestürmet den Gaukler die Gule.
»Das Zigeunergelichter ist plötzlich und heidi verduftet.
Faxen haben sie freilich gemacht über dir und auch mir, Till,
und besonders dort drüben am Wasser, im Nebel der Wiesen,
Hokuspokus mit allerlei fremden Gebräuchen getrieben.
Und dann brieten sie lange und aßen, ich will's nicht beschwören,
was, doch schien's mir ein Hund, denn sie brachten ein tropfendes Hundsfell.«
Aufrecht saß nun der Alpdruckbefreite. »Ich muß es versuchen,
Gule«, spricht er, »den Traum zu vergessen, der jetzt mich beehrt hat,
denn sonst hör' ich nur immer und ewig denselbigen Wutschrei
der verknäuleten Kämpfe der Welt.« Und er springt auf die Füße.
»Meine Kogge! mein Wrack! meine ratternde Schule der Narrheit!
Rumpelkammer des Lebens, mein Wäglein! wo bist du? wo steckst du?«
Tätig ist allbereits um die grasenden Rößlein die Gule,
schirrt sie an, drückt sie rückwärts mit vielem Geschimpf an die Deichsel,
die sie glücklich nun trennt. Und es stehen die Pferdchen und stampfen,
eines beißt in den Hals des Gefährten, indessen das Mädchen
Zugblatt riemet um Zugblatt mit hurtigen Griffen ans Ortscheit. –
»Prinz, mein Pudel, was hast du gesehen? was ist dir begegnet,
daß die Rute fortwährend, gekniffen, dir unter dem Bauch liegt?
Scherenschleifer- und Rastelbindergesindel: der Teufel
hol' es! würde ich sagen, wo nicht heute morgen der Satan
mich mit Achtung erfüllt für sein Los und mit herzlichem Mitleid.«
Zwischen Dämmer und Tag liegt die Lichtkraft der lautlosen Landschaft.
Nun erhebt, wie auf Taktschlag, sich rings ein Gelärme von Vögeln,
ein bestürztes, erschrockenes Glück in wildhastigem Aufschwung,
ein Gedränge, Gedrängel, zudringlicher Sturm vieler Stimmen:
jede, scheint's, will zuerst vor dem hohen Gestirn musizieren,
dessen Nahen im Herzen durch inneres Schauen erkannt wird.
Dienst am Höchsten! der Schwingenbedachten. Till kennt ihn von Kind auf.
Oh, wie oft nahm er teil an der heiligen Messe des Sperlings.
So auch jetzt: lange steht er, vertieft und die Hände gefaltet,
lautlos betend und wortlos: O Äther, der ohne Geschmack ist,
ohne Ruch und Gestalt, welchen keine Berührung berühret!
Tönender, des Getön zu vernehmen, kein irdisches Ohr taugt!
Dich zu fühlen allein, es macht rein! – Hui, da knallte die Peitsche,
Prinz, der Pudel, gab Laut, und es strafften bereits sich die Sielen.
»Los!« erklang's von den Lippen der Gule. Dann mahlte das Fahrzeug
langsam erst durch den Sand, bis es mählich dann besser in Gang kam.
Sollt' ich nicht diese magische Straße jetzt lieber verlassen?
sinnt der Gaukler. Allein, er getröstet sich bald und erwägend,
daß der wachsende Tag ja dem Volk der Gespenster verhaßt ist.
Trotzdem kehrt er sich um und nicht ganz ohne Scheu nach den Orten,
wo das Reisig gebrannt, die Zigeuner dem Monde geopfert,
Naso lag, Bikaneskero wachte, der geigende Herzog
Salz ins Feuer getan und die tanzenden Vetteln gezaubert.
Doch da war nichts zu sehn als ein Häuflein erkalteter Asche,
Gras und Birken und Sand und nicht einmal im Sand eine Fußspur.
Und Till schlug in die Seele das große Verhallen von allem!


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