Jaroslav Hasek
Von Scheidungen und anderen tröstlichen Dingen
Jaroslav Hasek

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Der Verkehr zwischen Eltern und Kindern.

I.

Professor Schwolba hatte bereits mehrere Bücher über den gesellschaftlichen Verkehr zwischen Eltern und Kindern veröffentlicht, wobei er nachgewiesen hatte, daß das gegenseitige Band von Eltern und Kindern unleugbaren Anzeichen nach die natürlichste Gemeinschaft von Menschen untereinander darstelle. Einige seiner Vorträge, die in verschiedenen Vereinen 153 – von Frauen und Mädchen im »Frauenklub«, von der Leitung der Halbmonatsschrift »Die Familie«, die der Annäherung zwischen Eltern und Kindern dienen sollte – veranstaltet wurden, hatten ihm den Ruf eines Sonderlings eingetragen, insbesondere, als er im Leitartikel der ersten Nummer der Zeitschrift »Die Familie« nachwies, daß Eltern und Kinder unleugbar Reiser desselben Stammes sind und diese logische Verbundenheit in keiner Weise unterschätzt werden dürfe, wobei er sich auf den alten Zeremonienmeister und Kammerherrn am Weimarer Hof, Adolf Knigge berief. Sein wissenschaftlicher Ruf stach jedoch recht traurig von seiner Karriere ab, denn es schien, daß dem närrischen Herrn nur durch einen großen Zufall die Erziehung der studierenden Jugend hatte anvertraut werden können, und daß das Schicksal mit dem Herrn Professor ein seltsames Spiel trieb, denn statt sich bei schönen Wetter in dem Garten irgendeines Sanatoriums zu ergehen, sass er weiterhin hinter den Kathedern verschiedener Gymnasien.

Die höheren Schulinstanzen versetzten ihn nämlich von Ort zu Ort, sobald er lange genug in den Tschechischstunden an einunddemselben Ort ausgeführt hatte, daß die Eltern die Kinder zeugen und dadurch die Familie erhalten. Die Hausarbeiten, die er seinen Schülern zur Ausarbeitung vorlegte, hatten eine gewisse philosophisch-pädagogische Richtung; z. B.: 154 »Sollen die Eltern an den Exzentrizitäten ihrer Kinder teilnehmen?« Einer solchen Aufgabe halber pilgerte Professor Schwolba von Ort zu Ort, von Nord nach Süd, von Süd nach Ost, vom Osten nach dem Westen der Republik.

Schließlich befand er sich wiederum an einem neuen Ort, diesmal im Südwesten, und sein erstes Auftreten vor den Studierenden der fünften Klasse des Gymnasiums war ein interessanter Vortrag darüber, daß der Sohn, der seinen Vater bereits von Geburt an kennt und ohne Maske sieht, den edlen Eigenschaften seines Vaters den Vorzug geben muß, damit ihm der Vater nicht zuwider werde. Der Sohn soll sich dabei jedoch immer der Schwächen seiner Eltern bewußt bleiben, sich davor hüten, sie etwa nachzuahmen. Den Abschluß des Vortrags bildete eine den neuen Schülern auferlegte Hausarbeit mit der vielversprechenden Überschrift: »Selbst wenn die Kinder begründete Ursache haben, sich der Schwächen ihrer Eltern zu schämen, bleibt dennoch die Dankespflicht bestehen.« Zu dieser Aufgabe diktierte er bestimmte Thesen, Punkte, nach denen die Schüler bei Ausarbeitung der Aufgabe vorgehen sollten.

»1. Aufzählung der Schändlichkeiten, Roheiten, Unsitten, Schwächen und Schandtaten meiner Eltern. 2. Verbergen meine Eltern die oben angeführten Fehler vor mir? 3. Weshalb soll ich diese Mängel 155 meiner Eltern nach Tunlichkeit vor der Öffentlichkeit verbergen? 4. Warum soll ich ihre Fehler nicht nachahmen? 5. Herrscht zwischen meinen Eltern Unfrieden? 6. Warum soll ich mich bei häuslichen Skandalen vernünftig und überlegt betragen?

»Ja, meine lieben Schüler,« sagte Professor Schwolba feierlich, »mein Grundsatz bezüglich der Ausarbeitung Euerer Hausarbeiten stellt ein vollständig neues pädagogisches System dar. Es handelt sich um die Annäherung zwischen den Eltern und ihren Söhnen. Früher hielt man es beinahe für unzulässig, meine lieben Schüler, daß die Eltern den Kindern bei der Ausarbeitung der Hausarbeiten halfen, ich aber bestehe geradezu darauf, daß die Eltern bei der Ausarbeitung der Hausarbeiten mitwirken und es wird auch mein Bestreben sein, in der allernächsten Zeit Zusammenkünfte Euerer Herren Eltern mit mir zu veranstalten, bei welcher Gelegenheit ich über den Aufbau der Familie sprechen und die Frage stellen werde, wie weit die Zusammenarbeit Euerer Eltern an Euerem häuslichen Studium, an Eueren Hausarbeiten vorgeschritten ist.«

Obwohl die Quintaner, die bereits das fünfte Jahr mit allen möglichen Professoren kämpften, abgehärtet waren, wankten und erbleichten sie dennoch gewissermaßen beim Anblick dieses Fanatikers, denn seine hagere Gestalt, seine Art vorzutragen und die 156 Thesen für die Hausarbeit erinnerten sie an den gestrengen und fürchterlichen Savonarola, dessen Antlitz von einem der historischen Bilder an der Wand auf sie herabblickte. Dann, als Professor Schwolba gegangen war, in der Pause vor der nächsten Stunde, gab die ganze Klasse das einstimmige Urteil ab, Professor Schwolba sei ein pathologisches Individuum, man müsse vor ihm auf der Hut sein und im Hinblick auf die gegebene Hausarbeit jedwede Zusammenarbeit mit den Eltern entschieden ablehnen.

II.

Als Quintaner Maschek, Sohn des Bezirkshauptmanns, mit den interessanten Punkten für die Hausarbeit aus der Schule nach Hause kam, versteckte er sorgfältig seine Notizen, unter denen sich die bewußten sechs Punkte befanden; auf die Frage des Herrn Bezirkshauptmanns beim Mittagessen, was es heute im Gymnasium Neues gegeben habe, ob sie vielleicht eine neue Hausarbeit hätten und wie der neue Herr Professor Schwolba ihnen gefalle, erwiderte der Quintaner, es gäbe nichts Neues, sie hätten keine Hausarbeit und was den neuen Herrn Professor Schwolba betreffe, sei er ein sehr sympathischer und angenehmer Herr. Der Sohn des Herrn Bezirkshauptmanns Maschek lebte in der letzten Zeit mit seinem Vater in einem sehr gespannten Verhältnis. Der Herr 157 Bezirkshauptmann hatte seinem Sohn nämlich verboten, Mitglied des Fußballklubs »Quinta A« zu werden, und hörte nicht einmal die Bemerkung an, daß die Vereinigung seinen Sohn aufgefordert habe, für den Fall, daß er Kapitän der Mannschaft werden wolle, einen neuen Fußball zu kaufen. Das bildete eine der hauptsächlichsten Differenzen zwischen dem alten und dem jungen Maschek, neben einer ganzen Reihe anderer mannigfacher Mißverständnisse. In den Unterredungen mit seinem Sohn behandelte der Herr Bezirkshauptmann diesen als einen völlig entarteten Menschen. Auch die vollständige Apathie des Sohnes religiösen Handlungen gegenüber gefiel ihm durchaus nicht und es war eine entsetzliche Überraschung für ihn, als er auf Amtswegen erfahren mußte, daß sein Sohn bei der Volkszählung, auf sein vollendetes vierzehntes Lebensjahr pochend, zu den »Adventisten des siebenten Tages« übertreten war. Der Junge hatte dies nur aus gewinnsüchtigen Gründen getan, denn jemand hatte ihm erzählt, wer zu den »Adventisten des siebenten Tages« übertrete, erhalte 250 Kronen und 12 Kilogramm Hammelfleisch. Der Junge glaubte, daß er für den Erlös des Hammelfleisches, dem er die für den Verrat der katholischen Kirche erhaltenen 250 Kronen hinzufügen wollte, einen guten englischen Fußball samt einer Reserveseele werde kaufen können. Er wollte einfach aus sportlichen Gründen die Religion 158 für einen Ball eintauschen. Leider wurde er auf der ganzen Strecke enttäuscht. Die Sekte der »Adventisten des siebenten Tages« schickte ihm eine Bibel in englischer Sprache, eine Sammlung von Kirchenliedern in zweiunddreißig Sprachen und eine Aufforderung in englischer Sprache, zwei Pfund Sterling zu Händen des Pastors Rosner zu bezahlen. So geschah es, daß der junge Maschek am Nachmittag oben in seinem Zimmer in der Erinnerung an seinen rohen Vater und an alle Enttäuschungen der Welt sich entschloß, alle Fragen der Hausarbeit wahrheitsgemäß zu beantworten, seinen Vater nicht zu schonen und den Kampf ebenso aufzunehmen, wie kürzlich die »Quinta A« den Fußballkampf mit der »Oktava B, Pilgram« aufgenommen hatte, obwohl sie wußte, daß sie unterliegen werde, was sich auch praktisch in dem Verhältnis 22 : 3 gezeigt hatte! Deshalb beantwortete er völlig kaltblütig die einzelnen Punkte. Er begann mit der ersten These der Hausarbeit: »Aufzählung der Schändlichkeiten, Roheiten, Unsitten, Schwächen und Schandtaten meiner Eltern.«

Er beantwortete diese Frage, indem er das Material zur weiteren Ausarbeitung der Hausarbeit vorbereitete: »1. Die Mutter hat eine Bekanntschaft mit Ingenieur Poupe von Firma Krulich und Kompanie, einer Kunstdüngerfabrik, die wohl auch mit den künstlichen Fehlgeburten meiner Mutter zu tun 159 hat, denn der Vater hat sich sehr aufgeregt, als er letzthin vor dem Dienstmädchen schrie, daß er schon genug davon habe. Wenn er dem Ingenieur Poupe nicht so viel schuldig wäre, hätte er sich schon längst scheiden lassen. Der Vater selbst geht täglich während der Amtsstunden in eine Weinstube, wo es drei Flitscherln gibt. Letzthin ist er mit einer nach Sazawa gefahren, woraus folgt, daß mein Vater, wenn meine Mutter ein Dutzend wert ist, vierzehn weniger zwei gilt. Was den Charakter meiner Eltern betrifft, so ist meine Mutter sehr heftig und gänzlich ungebildet, sie widmet den jüngsten Geschwistern nicht die geringste Sorgfalt und gerät über unschuldige, dem jugendlichen Alter angemessene Scherze in Entrüstung. Um die Hauswirtschaft kümmert sie sich überhaupt nicht und am liebsten würde sie den ganzen Tag vor dem Spiegel stehn und sich das Gesicht mit Krem und Puder beschmieren, sich frisieren und anziehn wie auf der Bühne. Der Vater ist ein alter Bureaukrat von niederträchtigstem Charakter. Zu seinem Kindern benimmt er sich ungewöhnlich rücksichtslos und hält die Disziplin bei ihnen nur durch die größte Rohheit aufrecht. Er gönnt ihnen keine Freude und verabscheut körperliche Erziehung und Sport. Wenn er aus der Weinstube nach Hause kommt, ist er gewöhnlich beschwipst und fängt an, sich vor seinen Kindern zu rühmen, wie gut er gelernt hat, daß er mit Auszeichnung studiert hat, daß 160 er in der Volksschule lauter Einser hatte, obwohl wir einmal im Schreibtisch seine alten Schulzeugnisse fanden, mit lauter Dreiern und Vierern, Reparaturen und ungenügenden Noten. In der ersten Volksschulklasse hat er scheinbar so schlecht gelernt, daß er sie zweimal wiederholen mußte.«

Den zweiten Punkt der Hausarbeit: »Verbergen meine Eltern die oben angeführten Fehler vor mir?« beantwortete er folgendermaßen: »2. Nein. Alles geschieht bei uns öffentlich und uns Kindern bleibt nichts verborgen, weil wir von allen Schändlichkeiten, die wir selbst nicht sehen, von fremden Leuten erfahren, wenn wir Besuche machen.« Den dritten Punkt: »Warum sollt Ihr diese Fehler Eurer Eltern vor der Öffentlichkeit verbergen?« beantwortete er mit einer Wendung, deren Inhalt er dem Vortrag Herrn Professor Schwolbas entnahm: »Weil wir ihnen dafür dankbar sein müssen, daß sie uns gezeugt haben.« Die Antwort auf die Frage: »Warum soll ich ihre Fehler nicht nachahmen?« war sehr schwer, nichtsdestoweniger entledigte sich der Sohn des Bezirkshauptmanns dieser verwickelten Aufgabe logisch auf folgende Weise: »4. Weil jeder Sohn einzig und allein überlegungs- und vernunftgemäß handeln soll, um sich auch in späterem Alter vor den Fehlern seiner Eltern zu hüten und damit er, wenn er eine ständige Stellung erreicht hat, für das Glück seines Säuglings sorgen kann, der ohne diese mütterliche 161 Pflege bereits längst im Grabe ruhen würde.« Die fünfte Frage: »Herrscht zwischen meinen Eltern Unfrieden?« war sehr leicht zu beantworten: »Es gibt keinen Tag, an dem es bei uns nicht zu irgendeinem häuslichen Skandal und schrecklichen Auftritten kommt.« Zur Lösung der letzten Frage: »Warum soll ich mich bei häuslichen Skandalen vernünftig und überlegt verhalten?« kam es nicht mehr.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter, nachdem er sich leise hinter seinen Rücken geschlichen hatte. Der unglückliche Quintaner hatte keine Zeit, sein Werk zu vernichten. Auf den Rücken klopfte ihm der Herr Bezirkshauptmann. Er war aus der Weinstube zurückgekehrt und war diesmal, wie durch einen merkwürdigen Zufall, in sehr guter, sozusagen humaner Laune. »Lieber Junge,« sagte er mit väterlichem Sanftmut, »ich sehe Dich fortwährend fleißig arbeiten. Du bist fast so gewissenhaft im Lernen, wie ich es war, als ich mit Auszeichnung studierte. – Du hast, was ich bisher gar nicht bemerkt habe, eine sehr ausgeschriebene Schrift – aber warum schreibst Du mit Bleistift? Das ist ein Konzept, gelt?« Er streichelte ihm das Haar und nahm die Aufzeichnungen des unglücklichen Sohnes in die Hand, wobei er liebevoll bemerkte: »Mein Junge, bleib nur brav und Du wirst sehn, daß Du doch noch einmal von mir den Ball bekommen und Fußball spielen wirst.« Hierauf begann er zu buchstabieren und die Handschrift seines Sohnes zu 162 entziffern. Je weiter er kam, mit desto größerem Interesse las er, wobei seine Brauen sich schrecklich zusammenzogen. Der arme Quintaner wich langsam zur Tür zurück, als der Bezirkshauptmann mit einem ungeheurem Sprung, wie ein Jaguar, auf seinen Sohn zusprang. Dann erfüllte sich aufs Wort, was der unglückliche Junge vor einer Weile niedergeschrieben hatte: »Zu seinen Kindern benimmt er sich sehr rücksichtslos und hält die Disziplin bei ihnen nur durch die größte Rohheit aufrecht.«

III.

Als die Schüler in der folgenden Woche Professor Schwolba die Hausarbeit ablieferten, gab der Sohn des Bezirkshauptmanns mit zitternder Hand sein Heft ab, wo unter dem Titel der Aufgabe: »Selbst wenn die Kinder die begründete Ursache hätten, sich der Schwächen ihrer Eltern zu schämen, bleibt dennoch die Pflicht zur Dankbarkeit bestehen,« folgender Text stand: »Ihre Thesen und Punkte habe ich im Amtswege dem Schulministerium zur Beurteilung übersandt.« Darunter befand sich die Stampiglie des Bezirkshauptmanns. Und in der Ecke die laufende Nummer der Akten: R. 6272/12b.

Professor Schwolba wurde nach Karpathorußland versetzt. 163

 


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