Jaroslav Hasek
Von Scheidungen und anderen tröstlichen Dingen
Jaroslav Hasek

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Herr Florentin contra Chocholka.

Herr Florentin war Klassenvorstand und Chocholka war Primaner. Herr Florentin war Chocholkas Klassenvorstand und Latein-Professor, während Chocholka furchtbar mit der lateinischen Sprache kämpfte, die für ihn nicht nur ein spanisches Dorf war, sondern spanische Stiefel, wie man sie zur Inquisitionszeit zu Gottes Ruhm benützt hatte. Aber Herr Florentin blickte auch verächtlich auf das 102 verstörte Gesicht der Primaners Chocholka, dessen Herz die ganze Lateinstunde hindurch klopfte, so daß es im wahrsten Sinn des Wortes die erste und die zweite Deklination verklopfte, und als der Zeitpunkt kam, an dem die dritte Deklination begann, verwandelte sich Chocholkas Herzklopfen in einen regelrechten Schüttelfrost. Und dann hob Chocholka, sooft Professor Florentin ihn anblickte, seine verstörten Augen zum Plafond und begann sich zu melden, er bitte, hinausgehen zu dürfen. In ähnlicher Weise pflegte er hinauszugehen, wenn die Reihe an ihn kam und er herausgerufen werden sollte. Und als die Schularbeiten begannen, da zitterte Chocholka ängstlich bei dem Gedanken, wie er die lateinische Schularbeit eigentlich überleben werde.

Es war die erste lateinische Schularbeit und als man nach dem Gebet die Hefte mit der Bemerkung verteilt hatte, es dürfe nicht abgeschrieben werden, wenn man übereinstimmende Fehler finden sollte, würden die, deren Fehler gleich waren, ganz ungenügend erhalten – ergriff Chocholka die Feder und schrieb mit zitternder Hand von der Tafel die Sätze ab, die er ins Lateinische übersetzen sollte; dabei hatte er nur den einen Gedanken, daß ihm Fehler gelingen mögen, die von den Fehlern seines Nachbarn verschieden seien, denn sonst würde er ganz ungenügend bekommen und verloren sein. Er schrieb das erste Wort ins Unreine und blickte verstohlen 103 daneben zu Nachbar Batek, von dem man wußte, daß er kein Kirchenlicht war. Dieser Blick in die nachbarliche Arbeit überzeugte ihn vollständig, daß er und der Batek verloren waren. Denn Batek fing gerade so zu übersetzen an wie er. Chocholka erschrak und sein tränenschwerer Blick wanderte an der Wand von dem traurigen Bild der Ruinen Trojas zu dem erlösenden Abortschlüssel. Und wie in den Zeiten der hellenischen Kultur die verfolgten Verbrecher einen sicheren Schlupfwinkel in den Asylen suchten, so rannte Chocholka mit dem Schlüssel auf den Abort, indem er die klassische Bildung verließ, die von der Schultafel herab in nachstehenden Sätzen erstrahlte: »Der Tisch ist weder hoch noch niedrig. Die Ferse ist ein Teil des Körpers, der Infanterist ist ein Krieger. Die Mutter ist keine Schwester. In Rom gab es viele Häuser. Im Garten sind Bäume,« – und ähnliche Wahrheiten. Das alles ließ er zurück und sein einziger Gedanke war, dort auf dem Abort, in jenem Versteck, jenem Asyl aller verfolgten Primaner bis zum Schluß der Stunde auszuharren, damit seine schriftliche Arbeit in einer Reinheit und Leere erglänze, in der man keine Fehler, weder gegen die Grammatik, noch gegen den Geist der lateinischen Sprache finden konnte. Und bis ihn der vergeßliche Klassenvorstand fragen wird, warum er nicht übersetzt hat, wird er mit fester Stimme antworten: »Ich war, bitte, die ganze Stunde am Abort.« Und 104 sollte er es ihm nicht glauben, wird er ihn hieherführen und hier wird über dem Brett aufgeschrieben stehen: »Wenzel Chocholka Ia, 16./XI.« Das schrieb er mit markanten Zügen auf die Wand und blieb zwar nicht ganz ruhig, immerhin aber mit einem gewissen Grad von Resignation in dem kleinen verriegelten Raum sitzen. Jemand lief über den Gang, pochte an die Tür und rief: »Chocholka, du sollst dich beeilen!« – »Ich kann nicht,« lautete Chocholkas Antwort auf die Botschaft Herrn Professors Florentins und während der Bote zurücklief, um die Komposition nicht zu versäumen, saß Chocholka unentwegt sehr ernst da; er hatte das Bewußtsein, daß er mit den Worten »ich kann nicht« gegen die Autorität seines Klassenvorstands Stellung genommen hatte. Der Kampf war erklärt. Fünf Minuten später trabte der Bote abermals zu dem letzten Schlupfwinkel des Primaners Chocholka und bestellte, während er an die Türe schlug: »Du sollst aber schon wirklich machen.« – »Ich kann nicht,« antwortete Chocholka abermals, diesmal so stolz, wie Leonidas in den Thermopylen den persischen Abgesandten geantwortet hatte. Wiederum trat auf dem düsteren Gang des Gymnasiums, wo jeder Schritt mächtig widerhallte, Ruhe ein. Chocholka zählte die Sekunden, die Minuten und hatte langsam beinahe sechs hundert gezählt, was beiläufig 10 Minuten seit der letzten Botschaft Herrn Professor Florentins bedeutete. 105

Dann ertönten schwere Schritte und ein kräftiges Pochen an die Tür erschreckte Chocholka. »Chocholka, kommen Sie schon heraus, Sie werden doch nicht mit der Komposition fertig werden.«

Es war die Stimme des Klassenvorstands Florentin, eine strenge und drohende Stimme, die Stimme eines nach dem unschuldigen kindlichen Blut der Primaner dürstenden Tyrannen.

»Ich kann nicht, Herr Professor,« erscholl Chocholkas zitternde und bescheidene Stimme.

»Ich befehle Ihnen herauszukommen!« Ein harter Kampf entspann sich in der Seele Chocholkas und die Meuterei siegte.

»Ich kann, bitte, nicht!« sagte er bereits mit fester Stimme.

»Sie wollen also nicht herauskommen?«

»Ich kann nicht, bitte.«

Herr Florentin lief ins Direktoriat. »Herr Direktor, ein Schüler namens Chocholka verbringt während der ersten Schularbeit die kurz bemessene Zeit auf dem Abort und weigert sich, ihn zu verlassen.«

Der Direktor erhob sich, seine Augen loderten auf vor Zorn ob dieser Verworfenheit und beide schritten ernsthaft dem Schlupfwinkel Chocholkas zu.

Als erster klopfte Herr Florentin an: »Chocholka, passen Sie auf, der Herr Direktor ist hier, kommen Sie aus dem Abort heraus.« 106

»Hören Sie, kommen Sie heraus,« ließ sich der Direktor vernehmen, »weigern Sie sich nicht, es wird Sie verdrießen, wo wohnen Sie denn?«

»Militärgasse Nummer 5, Herr Direktor.«

»Seine Mutter ist Bedienerin,« bemerkte der Klassenvorstand.

»Also sehn Sie, Chocholka,« fing der Direktor an ihm zuzureden.

»Ihre Mutter ist Bedienerin und statt daß Sie ihr, dieser bedauernswerten Mutter, mit einer schönen Note auf der lateinischen Komposition Freude bereiten, sitzen Sie auf dem Abort und rühren sich nicht. Ihr Mütterchen tut Ihnen nicht leid? Aber was heißt das, wozu lange herumreden, ich befehle Ihnen herauszukommen und zu Ihrer Pflicht zurückzukehren.«

»Ich kann nicht, ich kann noch nicht.«

»Halten Sie uns nicht zum Narren, Sie werden ins Klassenbuch eingetragen werden.«

»Ich kann nicht.«

»Sie werden aus dem Gymnasium ausgeschlossen werden.«

»Ich kann nicht.«

Die Massenpsychologie ist schwer verständlich! Die Augen des Herrn Professors blitzten, der Herr Direktor brüllte auf, wie ein gereizter Hirsch und beide Herren warfen sich mit vereinten Kräften auf die Türe des Aborts. Es war ein fürchterlicher Angriff 107 und Chocholka, der ihre Anstrengungen nach innen zu gelangen hörte, stemmte sich mit aller Gewalt gegen die Tür, um sich zu verteidigen. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich. Herr Florentin und der Herr Direktor griffen von außen mächtig mit ihren Leibern die Tür der Festung an; die Tür gab nach und sie drangen nach innen.

Aber die Festung war leer. Um nicht lebendig in ihre Hände zu fallen, hatte sich Chocholka, als er das Knattern der Tür vernahm, kopfüber in den Abort gestürzt.

»Es ist besser für ihn,« sagte Professor Florentin, »ohnedies hätte er in der Komposition lauter grobe Fehler gemacht.«

Aber der Direktor rief in jene Grube, die den wackeren Kämpfer verschlungen hatte: »Chocholka, Sie haben sechs Stunden Karzer!« 108

 


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