Jaroslav Hasek
Von Scheidungen und anderen tröstlichen Dingen
Jaroslav Hasek

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Mann und Weib in der Ehe.

Professor Hendrich, Geometrieprofessor am Gymnasium, stand hinter dem Katheder wie Cäsar, wie Gott, wie das höchste Wesen.

Mit dem Ausdruck der höchsten Vollkommenheit auf die Klasse blickend, verkündete er der Schar Gymnasiasten zu seinen Füßen in den Bänken: »Eine Gerade kann eine Kurve schneiden und dann heißt sie Sekante, oder sie kann die Kurve berühren und dann heißt sie Tangente. Eine Gerade, 47 die zwei Punkte einer Kurve verbindet, heißt Sehne.« Und indem er mit einer energischen Geste auf die Figur wies, die er mit einem großen Zirkel auf die schmierige Schultafel gezeichnet hatte, rief er feierlich: »Die Geraden S, S1 sind, wie Sie sehen, Sekanten, die Geraden T, T1 sind Tangenten und die Geraden ab, cd sind Sehnen.«

Er war schön, schauerlich schön und erhaben, als er seine Hand langsam von der Tafel in die Tasche gleiten ließ und unverwandt auf die Schulbänke blickte.

Während er mit zwei schnellen Schritten rücklings zur Tafel schritt, erinnerte er an einen bengalischen Tiger, der sich zu einem Sprung auf einen traurigen, zu den Quellen des Ganges pilgernden Inder rüstet.

Und er brachte leise vor: »Chaloupecky, kann die Tangente eines Kreises diese Kurve gleichzeitig schneiden?«

Keine Antwort. Professor Hendrich machte seine Stimme nachdrücklicher und fragte laut: »Chaloupecky, kann dies eine Spiraltangente tun?«

Grabesstille. Professor Hendrich schnellte auf. Er machte einen fabelhaften Sprung von der Tafel zu der ersten Bank und brüllte in die Klasse: »Chaloupecky, wie heißt eine Sehne, die durch den Mittelpunkt des Kreises geht?«

Totenstille. Alle in den vorderen Bänken schauten nach rückwärts, wo in der vorletzten Bank 48 Chaloupecky saß. Eigentlich nicht saß, denn man sah nur den herausgewölbten Rücken, der zwischen den Pulten der Bänke und den Lehnen hervorragte wie ein Berg aus einer Ebene oder der Steiß eines Straußes, wenn dieser Idiot den Kopf in den Sand steckt, um nicht gesehen zu werden.

Majestätisch mit der Hand winkend, rief Professor Hendrich: »Heben Sie ihn auf!« Als die Nachbaren Chaloupecky in die Höhe hoben, erschien das rote Gesicht des Gymnasiasten. Er stand jetzt Angesicht in Angesicht dem Professor gegenüber, der, als man Chaloupecky in die Höhe hob, den Fall irgendeines Gegenstandes, offenbar eines Buches wahrnahm. So fällt nur ein Buch; der Anprall einer Fläche auf eine Fläche.

Chaloupecky benahm sich vollständig ruhig und entschlossen.

»Was haben Sie unter der Bank gemacht, Chaloupecky?«

»Ich hab gelesen.«

»Und was haben Sie gelesen?«

Chaloupecky schaute sich in der Klasse um und sagte stolz: »Mann und Weib in der Ehe von Dabey.«

»Was ist das für ein Buch, Chaloupecky? Ein Roman oder was?«

Und wiederum entgegnete Chaloupecky stolz, indem er siegesbewußt in der Klasse umherschaute: »Es ist eine Naturgeschichte und zugleich die 49 Geschichte der geschlechtlichen Beziehungen der Eheleute bis in die eigenartigsten Details. Eine neue Theorie, Herr Professor, über die Geschlechtsbestimmung bei der Befruchtung, weiters Studien über Impotenz oder Unfruchtbarkeit. Dazu eine Sonderbeilage: Die besondere Hygiene der schwangeren Frau und des Neugeborenen.«

Er bückte sich unter die Bank, holte das Buch, hervor, trat aus der Reihe und trug es, von den neidischen Blicken aller in der Klasse begleitet, zum Professor; dann reichte er es ihm und stieg zur Tafel hinauf wie ein unbezwingbarer Held zum Galgen oder unter die Guillotine.

In seinem Gesicht spiegelte sich Ruhe. Er wußte, was jetzt kommen mußte. Professor Hendrich würde sich hinter den Tisch setzen, in dem Buche blättern und ihm Vorwürfe machen; dann würde der Professor gleich einem Untersuchungsrichter alles ins Klassenbuch eintragen und ihm mitteilen, daß er ihn einer höheren Gerechtigkeit, einem außerordentlichen peinlichen Halsgericht, einem entsetzlichen Inquisitionstribunal, dem Professorenkollegium übergeben werde, dessen Vorsitz der Direktor-Greis führen wird.

Er wußte, daß er verloren war und daß der Katechet ihn für einen sittenlosen und verworfenen Menschen erklären werde. Er hatte jedoch keine Zeit das Buch irgendwo in einem Park, im Verborgenen zu lesen. Ein bekannter Quartaner aus einem andern 50 Gymnasium hatte es ihm für den heutigen Vormittag geborgt. Er hatte sich redlich bemüht, es während der Tschechisch-, Physik- und Geometriestunde auszulesen. Und hatte es fertig gebracht. Jetzt war ihm das ganze Geschlechtsleben vollständig klar und das war mehr wert, als die ganze Gerade samt der Kurve. Nach uns die Sintflut.

Heute Abend wird er der Mitzi aus dem Frauenerwerbverein alles erklären, ohnedies hat sie ihm schon einmal fünfzehn Kronen gegeben, damit er ihr die »Geschlechtliche Gesundheitslehre« kauft und er hat den ganzen Betrag beim Billiardspiel verloren.

Es geschah, wie er es vorausgesehen hatte. Professor Hendrich setzte sich hinter den Tisch, schlug das Klassenbuch und auch Debays »Mann und Weib in der Ehe« auf, und während er in dem Buche blätterte, legte er los: »Sie waren immer ein ungewöhnlich sittenloser Schüler. Sie haben auf dem Abort geraucht und im vorvorigen Jahr haben Sie mit dem Seelentränker in die Jolle gestoßen, in der ich, Ihr Klassenvorstand, mich befand, wobei Sie mich beinahe umgeworfen hätten. Noch heute bin ich überzeugt, daß Sie mich ertränken wollten – –.«

»Wie einen jungen Hund,« schrie irgendwo in der Klasse eine geheimnisvolle, gedämpfte Stimme.

»Eine Feder,« befahl der Professor und verkündete ernst: »Wer das geschrien hat, ist mir gleichgültig. Untersuchen werde ich es nicht und trage die ganze 51 Klasse in Klassenbuch ein. Einer für alle und alle für einen.«

»So ist's,« ließ sich abermals die gedämpfte Stimme in der Klasse vernehmen, worauf eine Lachsalve aller folgte. Als das Lachen sich beruhigte, konnte Professor Hendrich fortfahren: »Sie waren sehr ungeraten und der heutige Tag ist nur eine Fortsetzung und kann sogar Aufklärung über Ihre Unsittlichkeit bringen. Sie waren der unfähigste Schüler in der Klasse. Sie haben nicht gewußt, daß sich die Richtungen verschiedenlaufender Geraden von einander entfernen, aber Sie haben mit dem größten Appetit in diesem Buch die Erwägungen über die Ehe gelesen und noch dazu den Satz unterstrichen: ›Die Existenz und der Fortbestand der Lebewesen ist auf dem Geschlechtstrieb begründet, der sich in der Vereinigung der Geschlechter äußert‹. Das Professorenkollegium wird Ihnen den Geschlechtstrieb aus dem Kopf treiben und ein Konsilium abeundi ist zu wenig. Während ich erkläre, was eine Sekante und eine Tangente ist, lesen Sie unter der Bank, daß die Ehe nach der physiologischen Seite hin nur eine Verbindung beider Geschlechter zwecks Erlangung desselben Zieles, nämlich dauernder Erhaltung der Art ist.«

»So ist's,« ließ sich abermals die unbekannte Stimme in der Klasse vernehmen, aber gleich darauf schrien etwa zwanzig Stimmen: »Halts Maul, oder 52 wir machen Haschee aus dir. Unterbrich nicht den Herrn Professor.«

Es herrschte Grabesstille. Wäre in diesem Augenblick selbst der strengste Inspektor eingetreten, er hätte Professor Hendrich sagen müssen: »Ich gratuliere Ihnen, Sie haben die musterhafteste Klasse. Nirgends haben die Schüler ein solches Interesse gezeigt.«

»Chaloupecky,« fuhr der Professor fort, »in der sechsten Schularbeit kennen Sie nur einen rechten und einen schiefen Winkel und den spitzen, stumpfen und konkaven Winkel haben Sie ausgelassen. Das hindert Sie aber nicht daran, sich darüber zu unterrichten, daß unberührte Reinheit und dauernde Abstinenz unmöglich sind und stürmische Begierden, die ohne Hoffnung auf Befriedigung unterdrückt werden, Mann und Frau melancholisch und wortkarg machen. Zeichnen Sie mir mit Hilfe des Winkelmessers einen Winkel von 75°. No, sehn Sie, Chaloupecky, nicht einmal das können Sie, aber in der Geometriestunde von Venusgürteln lesen, das halten Sie für wichtiger als zu wissen, was ein Halbmesser ist, und sich in die Beschreibung des menschlichen Körpers zu vertiefen, ist für Sie maßgebender, als zu begreifen, daß ein Oval eine der Ellipse angenäherte Gerade ist, die sich aus Kreissegmenten zusammensetzt. Sagen Sie mir, was ist eine Ellipse? Daß Sie das nicht ausdrücken können?« 53

Der Professor verstummte, blätterte eifrig und rief: »Aber ich bin überzeugt und zweifle nicht die Bohne, wenn Sie jemand nach einer erotischen Affektion fragen würde, so könnten Sie sie ihm sehr ausführlich erklären.«

Während er in das Buch schaute, fragte er Chaloupecky: »Sagen Sie mir zum Beispiel, was Erotomanie ist.«

Man konnte das Ticken der Taschenuhr Matouscheks vernehmen, der in der ersten Bank saß.

Und Chaloupecky antwortete scharf, mit klingender Stimme: »Erotomanie ist ein erotischer Wahnsinn, dem beide Geschlechter ohne Unterschied unterliegen.«

»Nicht doch, Chaloupecky,« verbesserte ihn der Professor, in den Text des Kapitels blickend: »Nicht unterliegen, sondern von dem sie( befallen werden.«

»Das ist ein großer Unterschied, Jungens,« bemerkte er zu der Klasse gewandt: »Die Erotomanie befällt beide Geschlechter ohne Unterschied, aber der Erotomanie unterliegen kann man nicht. Fahren Sie fort, Chaloupecky, oder wissen Sie schon nicht weiter?«

Chaloupecky fuhr mit derselben Sicherheit in der Beherrschung des Stoffes fort: »Der Erotomane pflegt gewöhnlich von der Leidenschaft zu einem entweder 54 realen oder idealen Gegenstand besessen zu sein; er träumt nur von Liebe, Glück, süsser Wollust und erfüllt von dem Feuer, das in ihm tobt, betet er unaufhörlich den Gegenstand seiner heißen Sehnsucht an. Der Erotomane ist bei seiner Leidenschaft keusch, wie nachstehendes Beispiel beweist.«

»Genug, Chaloupecky, was sind Aphrodisiaka?«

»Unter dem Namen Aphrodisiaka,« antwortete Chaloupecky ohne Zögern, »verstehen wir verschiedene nahrhafte und heilsame Stoffe, die wir benützen, um das in uns bereits erlöschende Feuer der physischen Liebe zu beleben und es wieder zu entfachen, wenn es ganz erloschen ist. Größtenteils sind die Rezepte zu diesen Mitteln aus mehr oder wenig übelschmeckenden und widerwärtigen Stoffen zusammengesetzt. Zahlreiche, in der alten und modernen Geschichte verzeichnete Tatsachen schließen jeden Zweifel darüber aus.«

»Nicht so oberflächlich, Chaloupecky,« regte sich der Professor auf, »wovon ist zum Beispiel der römische Kaiser Caligula verrückt geworden, woraus setzte sich jener Liebestrank zusammen, den ihn Quaesonia austrinken ließ?«

Der bisher kühle Chaloupecky schwankte. Da er während der ganzen Zeit seiner Studien einen Abscheu gegen historische Tatsachen hatte, war er über dieses Beispiel aus der Geschichte hinweggegangen. 55

Er fing an Luft zu schnappen und blickte fragend in die ersten Bänke auf die Souffleure. Aber woher denn. Die warteten selbst wißbegierig auf Aufklärung, wie auf die Gnade Gottes.

»Also werde ich es Ihnen sagen, Chaloupecky. Sie hat ihm einen Absud aus Satureja, Pfefferkraut und Gartenkresse zu trinken gegeben. Merkt Euch das, Jungens. – Das war es, wovon Kaiser Caligula verrückt geworden ist. – Man sieht, Chaloupecky, daß Sie sich nicht vorbereitet haben.«

Der Professor blätterte einige Seiten um, trat mit dem Notizbuch zu Chaloupecky und schmetterte ihn mit nachstehender Frage vollständig nieder:

»Zwischen wieviel Zentimetern schwankt die Länge des Neugeborenen? Ruhe, dort hinten!«

Die Klasse hatte nämlich abermals zu lärmen begonnen.

Chaloupecky war verloren. Gegen Ziffern hatte er denselben Widerwillen, wie gegen historische Tatsachen. Und die Hygiene der Neugeborenen hatte er nur ganz flüchtig gelesen.

»Sie wissen es also nicht,« knurrte der Professor, »offenbar wissen Sie auch nicht, zwischen wieviel Gramm das Gewicht der Neugeborenen schwankt?«

Der Lärm in der Klasse steigerte sich. Es war, als wären alle neubelebt.

Chaloupecky schwieg. 56

»Sie haben einen Sechser, Chaloupecky, setzen Sie sich.«

Bevor Chaloupecky die Bank erreichte, beendete die Glocke die Stunde und trug zu der Entwirrung dieses interessanten Falles bei.

Ich bin dem Herrn Schuldiener zu außerordentlichem Dank verpflichtet.

 


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