Jaroslav Hasek
Von Scheidungen und anderen tröstlichen Dingen
Jaroslav Hasek

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Die Geschichte eines anständigen Menschen

Jeden Abend machte Herr Havlik eine Bilanz seiner ganztägigen Tätigkeit und stellte fest, ob er nicht in irgend einer Weise gegen die gesellschaftlichen Sitten und die öffentliche Ordnung verstoßen und als Staatsbürger, als Gemeindemitglied und Katholik allen Pflichten ordentlich Genüge geleistet hatte.

Und jeden Abend konnte er seine Anmerkungen folgendermaßen ergänzen: »Ich habe nichts 58 gefunden, das mich aus der anständigen Gesellschaft ausschließen würde.« Seine Quartiersfrau, eine alte Frau, behauptete, daß er ein Sonderling sei, denn sooft er fortging, sagte er zu ihr in gutmütigem Ton: »Bitte, Frau Mlitschek, schaun Sie freundlichst nach, ob ich die Hosen zugeknöpft hab!«

Gerade das war es, was sein Leben oft verbitterte und ihn seiner Ruhe beraubte. Er fühlte das sichere Herannahen einer Zeit, in der er sich dermaßen blamieren würde, daß er zum Abscheu aller ehrenhaften Menschen werden mußte. Wenn er über die Straße ging, trat er häufig in einen Hausflur, um seine Hosen zu kontrollieren; wenn er einen Überzieher oder Winterrock anhatte, knöpfte er ihn von Zeit zu Zeit behutsam auf und schaute nach, ob mit den Hosen alles in Ordnung sei. Insbesondere wenn er gegen den Wind schritt hatte er das merkwürdig unsichere Gefühl, daß ihm der heftige Anprall des Sturmes alle Knöpfe abdrehen werde. Am peinlichsten war dies allerdings, wenn er sich in Damengesellschaft befand oder einem Fräulein gegenüber saß. Dann gebärdete er sich ungemein nervös, knöpfte ununterbrochen den Rock zu und hielt die Hände auf dem Bauch, wodurch sein Betragen so auffallend wurde, daß ihm alle auf die Hosen schauten. Dann schwitzte er vor Angst, ging schnell fort und sprang von der Straßenbahn ab.

Einmal brach er sich dabei ein Bein, wurde 59 ohnmächtig und kam in der Einfahrt eines Hauses zur Besinnung, in das man ihn getragen hatte, und wo ihm der herbeigerufene Arzt vor Eintreffen der Rettungsstation einen Notverband anlegte. Herr Havlik sagte mit schwacher Stimme, daß er mit dem Arzt gern unter vier Augen sprechen möchte.

Die Gaffer traten also schonungsvoll zurück und Herr Havlik flüsterte dem Arzt zu: »Herr Doktor, ich habe vollständiges Vertrauen zu Ihnen und bitte Sie aufrichtig, sagen Sie mir als Ehrenmann, ob ich die Hosen zugeknöpft habe.«

Deshalb wurde er auch auf Gehirnerschütterung behandelt. Im Krankenhaus erst hatte er aus Langweile Gelegenheit über diese Sache nachzudenken und im Fieber schrie er ununterbrochen etwas von Hosen, so daß die andern meinten, daß er Schneider sei.

War er gegen sich selbst sehr streng, war er auch streng in Bezug auf das Betragen seiner Mitbürger und kam häufig in unliebsame Situationen.

In dem Restaurant, wo er zu Mittag speiste, bemerkte er, daß sein Nachbar mit dem Messer aß. Er erkundigte sich, was der Nachbar sei und wo er wohne und als er sich informiert hatte und wußte, daß es ein Ministerialrat sei, zog er Sonntags einen schwarzen Anzug an und besuchte am Vormittag den Ministerialrat. Er stellte sich ihm vor und sagte freundlich, der Herr Rat möge sich nicht über ihn ärgern, er 60 komme, um den Herrn Ministerialrat in ganz freundschaftlicher Absicht darauf aufmerksam zu machen, daß er mit Rücksicht auf Schicklichkeit und gesellschaftlichen Takt nicht mit dem Messer essen möge.

Das Ergebnis war, daß Herr Havlik in sein Notizbuch schreiben konnte: »29. November. Vom Herrn Ministerialrat Kehler, Parkstraße Nummer 8, 2. Stock, zwischen 10 und 11 Uhr Vormittag die Treppe hinuntergeworfen.«

Ähnlicher Affairen hatte er viele, so daß seine Anmerkungen bunter waren, als man in Anbetracht seines ordentlichen Lebenswandels erwarten konnte. Einmal stand er auf der Plattform der Straßenbahn, als ein neben ihm stehender Herr ein Negerwiegenlied zu pfeifen begann. Herr Havlik bemerkte mit Mißbehagen dieses Beginnen und als das Pfeifen nicht aufhörte, sagte er: »Seien Sie so lieb, guter Mann, denken Sie an den gesellschaftlichen Takt und pfeifen Sie nicht.« Der gute Mann wechselte die Melodie und begann zu pfeifen: »Greenewill zieht in den Krieg, durch den Pulverturm marschiert er.«

»Guter Mann,« sagte Herr Havlik, »denken Sie an Ihre Erziehung.«

»Wenn's Ihnen nicht gefällt,« lautete die Antwort, so pfeif ich Ihnen: ›An Taus vorbei fließt ein Bach‹. Haben Sie die Chodischen Lieder gern?« 61

»Herr, ich sehe zu meinem Bedauern,« sagte Herr Havlik weich, »daß Ihnen der gesellschaftliche Takt fehlt.«

»Sie glauben also, daß ich ein Flegel bin?«

Herr Havlik verteidigte sich zwar, daß er nicht mit dem Kopf genickt habe, schrieb aber dennoch in sein Tagebuch: »12. März. Während der Fahrt auf den Hradschin zwischen 5 und 6 Uhr Nachmittag habe ich von jeder Seite eine Watsche bekommen. Das Publikum ergriff die Partei der Täter.«

Als er dann mit geschwollenem Gesicht im Zimmer auf und ab ging, sagte er zu seiner Quartiersfrau:

»Schaun Sie, Frau Mlitschek, ist das nicht interessant, wie sie mich zugerichtet haben, weil ich jemand ermahnt habe, sich anständig zu benehmen? Ist das nicht peinlich, Frau Mlitschek?«

Eines Tage ging Herr Havlik in der Weinberge spazieren und da trat die Katastrophe ein.

Gerade vor dem Rathaus saß auf dem Trottoir ein Hund. Er saß dort in einer Weise, die auf den ersten Blick merken ließ daß er vor dem Weinberger Rathaus keine Achtung hatte.

Bald darauf lief er fort und hinterließ auf dem Trottoir eine rundliche gelbliche Masse, die davon zeugte, daß es ein verhältnismäßig wohlhabender Hund sei, der zum Mittagessen Knochen verspeist hatte. 62

Die Weinberger Bürger gingen darum herum wie die Katze um den heißen Brei und der mitten in der Fahrbahn stehende Schutzmann verfolgte mit Interesse, wer als Erster in diese Masse hineintreten würde. Die Leute schritten jedoch vorsichtig herum und die Kinder sprangen drüber weg – bis Herr Havlik kam.

Er blickte geradeaus vor sich hin, denn der Ratgeber einer Redaktion hatte auf seine Anfrage, ob es schicklich sei, mit gesenktem Kopf zu gehen, geantwortet: »Herr V. H. Mit gesenktem Kopf zu gehen ist sehr unschicklich, denn es sieht so aus, als ob man denken würde, daß man ein Fünfkronenstück finden wird, was ein Zeichen von Habgier ist.«

Er ging also aufrecht und schon war es geschehen. Er fühlte, daß er in etwas Weiches getreten war, das unter seinen Füßen wegrutschte. Er erschrak und blieb darauf stehen. Nein, das konnte doch nicht sein, daß er, ein ordentlicher Bürger, in so etwas getreten war. Möglicherweise war es eine Pomeranzenschale oder ein Kartoffel, dachte er optimistisch, machte einen Schritt nach vorn und schaute nach.

Aber es war gerade das, was ihm im ersten Augenblick eingefallen war. Bestürzt ging er zu dem Schutzmann mitten in der Straße und sagte ihm: »Entschuldigen Sie gefälligst, schaun Sie, in was ich hineingetreten bin.« 63

Dabei drehte er sich um und hob den Fuß in die Höhe, damit der Schutzmann die Kalamität sehen könne.

»Es war ein Bernhardiner,« sagte der Schutzmann.

»Allerdings,« sagte Herr Havlik, »es ist von einem Hund, sagen Sie mir gefälligst, wo ich mich beschweren soll.«

»Sie tun am besten, wenn Sie nach Haus gehen und sich ausschlafen,« sagte der Schutzmann, »belästigen Sie mich nicht.«

»Aber erlauben Sie,« wandte Herr Havlik ein, »ich glaube, daß es Ihre Pflicht ist, die Sache zu untersuchen. Der Eigentümer des Hundes muß doch bestraft werden.«

»Gehn Sie nach Haus,« sagte der Schutzmann drohend, »wissen Sie, was das heißt mit einem Schutzmann von Dreck reden?«

»Ich habe, bitte, keine böse Absicht gehabt,« stotterte Herr Havlik, »ich dachte nur, daß es Sache der Polizei ist, darauf zu achten, daß die Hunde die Trottoire nicht verunreinigen. Wie kommt ein Bürger, der seine Steuern zahlt, dazu, in so etwas hineinzutreten?«

Ringsumher sammelten sich Menschen an, unter denen sich ein ernster Herr mit grauem Vollbart befand, zu dem Herr Havlik Vertrauen faßte.

»Also bitte,« sagte er zu ihm, »schaun Sie sich gefälligst an, in was ich hineingetreten bin, und 64 wenn ich den Schutzmann darauf aufmerksam mache, hält er es für eine Belästigung der Polizei.«

Der alte graue Herr sagte hierauf einfach zum Schutzmann: ,»Führen Sie ihn ab!«

»Zu Befehl, Herr Rat!« salutierte der Schutzmann, während er Herrn Havlik am Kragen packte.

Als Herr Havlik nach Feststellung seines Namens nach Hause zurückkehrte, war er fürchterlich blaß und aufgeregt.

»Polizisten haben Sie hier gesucht,« sagte Frau Mlitschek bedeutungsvoll.

»Ich weiß,« sagte er, indem er zu lächeln versuchte und sperrte sich in seinem Zimmer ab.

Die Stiefel stellte er aufs Fenster, dann ging er zum Tisch, wo er ein Paar Worte auf ein Blatt Papier schrieb.

Sodann löschte er das Gas aus, ließ jedoch den Hahn offen, damit das Gas ausströmen könne und legte sich ins Bett.

Bevor er das Bewußtsein verlor, wiederholte er sich, was er niedergeschrieben und der tschechischen Öffentlichkeit hinterlassen hatte:

»Ich bitte die tschechische Öffentlichkeit sich meine Stiefel anzuschauen und sie wird alles erfahren und begreifen. Die hohe Polizei bitte ich tausendmal um Entschuldigung, daß ich hineingetreten bin.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Wenzel Havlik.« 65

 


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