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Neunzehntes Kapitel

Der Briefwechsel mit Kepler ging weiter. In warmem, freundschaftlichem Tone schrieben sie einander, aber es zeigte sich bald, daß sie nicht in allem gleicher Meinung waren. Beide waren überzeugte Anhänger der kopernikanischen Lehre, aber von dem gleichen großen Gedanken ausgehend, grübelte und forschte jeder für sich, der eine in Padua, der andere in Graz. Und ihre Ergebnisse deckten sich nicht ganz. Ihrer Freundschaft tat das keinen Abbruch, und doch hatte es etwas zwischen ihnen zerrissen: den gemeinsamen Atemzug der unmittelbar nebeneinander kämpfenden Soldaten. Beide kämpften für das gleiche Ziel, aber jeder auf seinem Posten. Besser gesagt allerdings, kämpfte im Augenblick keiner von ihnen. Galilei arbeitete zwar zu Hause ununterbrochen, stellte immer neue Berechnungen auf, dachte aber gar nicht daran, vor die Öffentlichkeit zu treten. Und Kepler verlor seine Stellung, wie er es in seinen Briefen schon vorausgesagt hatte. In Steiermark übernahm der kampflustige Katholik, Erzherzog Ferdinand, das Zepter der Regierung, nachdem er auf einer Wallfahrt in Loreto das Land der Heiligen Jungfrau geweiht hatte. Nach Graz zurückgekehrt, war es seine erste Amtstat, zu verordnen, daß kein Protestant im Staatsdienst bleiben dürfe. Die allgemeine Erbitterung wurde so scharf, daß Kepler sogar für sein Leben fürchtete, den Lehrstuhl verließ und nach Ungarn flüchtete.

Nun hatte die kopernikanische Lehre auch diese bescheidene Zuflucht in Graz wieder verloren, die ihr bislang durch das Wohlwollen Keplers zuteil geworden war. Auf der ganzen Welt lehrte man nunmehr ausschließlich das Almagest. Die astronomischen Autoritäten des Aristoteles und Ptolemäus, die ein protestantischer Deutscher in Graz heftig angegriffen hatte und ein katholischer Italiener in Padua noch nicht anzugreifen wagte, kümmerten sich um derlei geringfügige Zwischenfälle überhaupt nicht, sondern herrschten unbeirrt weiter über die Seelen, wie sie seit zweitausend Jahren unerschüttert geherrscht hatten.

Den Professor in Padua plagten aber im Augenblick andere Sorgen. Seine Liebe in Venedig kostete sehr viel Geld. Sobald er freie Zeit fand, und wenn es nur ein halber Tag war, eilte er zu den Lagunen. So manche Privatstunde mußte ausfallen, was wiederum den Ausfall so manchen Goldstückes bedeutete. Sein Gewissen beruhigte Galilei immer damit, daß es wegen der Proportionalzirkel notwendig sei, Mazzoleni im Arsenal aufzusuchen. Und wenn er dann in Venedig war, ging er mit Marina irgendwohin speisen, sie fuhren mit der Gondel, einmal waren Bänder, ein andermal Stoffe oder Schuhe oder ein Schleier nötig, und er wollte sich als Verliebter besonders hervortun. Seine Sorgen wurden noch größer, als der alte Gamba schwer erkrankte. Man mußte Ärzte zu ihm rufen lassen und für Medikamente viel Geld ausgeben. Dabei war man noch gezwungen, den Alten ständig zu belügen, damit er die fremde Geldquelle nicht entdeckte.

Der schlecht besoldete Professor wäre zu einer anderen Zeit unter einer solchen Last zusammengebrochen. Aber der liebe Gott pflegt es meistens so einzurichten, daß es irgendwie immer zu ertragen ist. Der Proportionalzirkel bewährte sich hervorragend. Mazzoleni stand nicht umsonst im Rufe eines geschickten Kupferschmiedes; die von seiner Hand angefertigten Zirkel gerieten ausgezeichnet. Den ersten Zirkel schenkte Galilei seinem Freunde Sagredo, den zweiten einem seiner französischen Schüler namens Badouère, der unter den Hörern durch seinen scharfen Verstand und eigenartige Gedankengänge auffiel. Die anderen Zirkel fanden schon im voraus ihre gutzahlenden Käufer. Mazzoleni konnte mit der Herstellung gar nicht nachkommen, eine lange Liste enthielt die Namen der schon ungeduldig wartenden Besteller. Der Kupferschmied verdiente jetzt mit seiner zusätzlichen Arbeit bereits mehr, als sein Gehalt im Arsenal betrug.

Wenn aber auch der Proportionalzirkel schönes Geld einbrachte, so war das doch immer noch nicht genug. Die Schuld an Landucci lastete auf Galileo wie ein ständiger Alpdruck, Michelagnolo saß zu Hause in Florenz, ging nicht einmal einer Beschäftigung nach und wartete mit in den Schoß gelegten Händen auf die gebratenen Tauben wie einstmals sein Bruder. Die Mutter mußte der Professor auch unterstützen. Eines schönen Tages ging er deshalb zu den zwei Riformatori in Venedig. Er trug ihnen vor, daß die festgesetzten sechs Jahre seiner Professur nunmehr abliefen und er deshalb die Frage stellen müsse, ob man ihn auch weiterhin anstellen wolle und, was noch wichtiger sei, mit welchem Gehalt.

Senator Zane erklärte sofort im Namen der beiden anderen Riformatori, daß Serenissima unbedingt größten Wert auf das Weiterwirken von Galileo Galilei lege.

»Ihr seid der beliebteste Professor unter den jungen Gelehrten des Bo, das soll gar nicht verschwiegen werden. Eure Vorlesungen sind auch heute noch überfüllt, die Schüler vergöttern Euch, das alles ist wahr. Auch ist es uns nur lieb, daß Ihr an den fortwährenden Zwistigkeiten mit der Jesuitenschule, die uns so viele Unannehmlichkeiten bereiten, nur wenig Anteil nehmt. Kurz und gut, wir wollen Euch behalten. Ich will auch nicht gerade behaupten, daß eine Gehaltserhöhung nach sechsjähriger Dienstzeit unberechtigt erschiene. Aber der zur Verfügung stehende Fonds ist sehr knapp. Von einer wesentlichen Erhöhung können wir also leider gar nicht erst sprechen. Aber wißt Ihr was, die höchste Instanz in dieser Frage ist der Senat. Ich schlage vor, der Senat entscheidet. Ihr habt viele vornehme Bekannte; seid also Eurerseits bestrebt, recht viele Senatoren für Euch zu gewinnen, je mehr desto bester. Wir Riformatori werden nicht dagegen sein.«

Galilei bedankte sich für diesen Rat und machte sich sofort auf den Weg. Vor allen Dingen brachte er seine Freunde in Bewegung: Sagredo, Magagnani, Zorzi, Boccalini. Dann besuchte er Fra Paolo Scarpi, er möge mit so vielen Senatoren sprechen, wie er nur könne. Er schrieb an den Marchese Guidubaldo del Monte und besuchte auch den Verwandten des Marchese, den General. In kurzer Zeit hatte er sich ein weitverzweigtes Netz von Beziehungen geknüpft. Er rannte ununterbrochen umher, er keuchte, er schwitzte, eine ganze Anzahl Kaufpreise des Proportionalzirkels verfuhr er mit der Gondel, aber dafür kam die Sache auch sehr schön in Schwung. Er hegte berechtigte Hoffnungen, daß man sein jetziges Gehalt von einhundertachtzig Golddukaten, wenn auch nicht verdoppeln, so doch wesentlich erhöhen würde. Das hing natürlich von dem Vorschlag ab, den Vorschlag aber setzten die Riformatori auf. Galilei wandte gegen Zane den von jenem selbst erhaltenen Rat an: es verging kein Tag, ohne daß irgendein Senator, Kirchenfürst oder General vor irgendeinem der Riformatori die Sache Galileis zur Sprache brachte.

Bei diesem anstrengenden Umherrennen bedeutete die Liebe Marinas für ihn keine Entspannung. Marina war nur schwer zu bewegen, das Krankenbett ihres langsam dahinsiechenden Vaters zu verlassen, und wenn es ihm schon gelang, sie abends in irgendein Gasthaus auszuführen und ein wenig mit ihr zu plaudern, jammerte sie doch nur und konnte nicht schnell genug wieder bei dem Kranken sein. Und sogar wenn sie sich in einem Zimmer des väterlichen Hauses versteckten, um sich zu küssen und zu umarmen, lauschte Marina selbst im betörendsten Rausch mit halbem Ohr, ob sich der schwerkranke Vater nicht rührte. Und schließlich beeinträchtigte diese flüchtigen Schäferstunden auch noch der Umstand, daß es Galileo immer sehr eilig hatte. Seines neuen Vertrages wegen mußte er unzählige Wege gehen, die ihm viel Zeit raubten, und außerdem mehrten sich die Privatstunden. Seinen Ruf hatten nunmehr die Studenten fünf lange Jahre in ganz Europa weit und breit verkündet, und wenn ein vornehmer junger Mann, zum Beispiel Philipp, der junge Markgraf von Hessen, nach Padua kam, suchte er zu allererst den berühmten Galilei auf, ihn um Unterricht in der Befestigungslehre zu bitten und mit dem Proportionalzirkel vertraut zu werden.

»In diesem kleinen, engen Haus ist das unmöglich. Ich habe ja selbst kaum Platz.«

Damit mußte der Bittsteller sich begnügen, den Professor ließ aber der Gedanke nicht mehr los: Wenn das Haus zu klein ist, kann man doch ein größeres mieten, dort wird dann Platz vorhanden sein, und man kann die Studenten auch verpflegen. Die Frage ist nur, ob es nicht sehr gefährlich ist, eine wesentlich höhere Miete zu wagen und diese teure Miete auch dann zahlen zu müssen, wenn die Studentenzimmer freistehen. Er begann unter seinen Schülern herumzuhorchen, ob sich wohl genügend finden würden. Das Ergebnis überraschte sogar ihn. Er hätte getrost eine ganze Kaserne mieten können. Und als ob es das Schicksal selbst so gewollt hätte: einer seiner Schüler brachte ihm die Nachricht, daß in der Nähe der St.-Antonius-Kirche ein großes zweistöckiges Haus mit Garten zu vermieten sei. Galilei ließ sogleich seine Bücher und Zirkel liegen und ging, das Haus anzusehen.

Es war tatsächlich das schönste Haus im Viertel Borgo de Vignali. Aber auch die Umgebung verfehlte ihren Eindruck auf ihn nicht. Weingärten, einer am anderen, nur spärliche Häuser, viel freies Gelände, von seinen Besitzern als Gemüsegarten eingerichtet oder als Weide gelassen. Vollends der zu dem fraglichen Hause gehörende Garten ließ Galileos Herz höher schlagen: schon immer war es seine geheimste Sehnsucht gewesen, in einem Hause zu wohnen, das auch einen Garten hatte. Das Haus selbst vertrug ohne Übertreibung den Titel Schloß. In seinen zwei Stockwerken waren unzählige Zimmer, auf dem Hof standen sogar noch zwei Flügelgebäude, die zum Hauptgebäude gehörten. Im linken Flügel des untersten Stockwerkes befanden sich Wohnräume, als ob man sie nur für ihn erbaut hätte. Von dem vornehmen Portal aus trat man in ein geräumiges, großes Arbeitszimmer. In diesem großen Raum konnte die Bibliothek, ein großer Tisch, verschiedene Dinge zum Experimentieren, kurz alles Notwendige untergebracht werden. Die beiden Fenster sahen auf den Garten, den Augen zeigte sich ein wohltuendes Grün, und hinter dem Laub der Bäume ragte die Kuppel der St.-Antonius-Kirche empor. An dieses große Zimmer schloß sich ein weiterer geräumiger Raum an, den man mit Vorhängen abtrennen und als Schlafgemach einrichten konnte.

Keine Minute verlor er, sogleich fing er an zu verhandeln. Der Inhaber verlangte zuerst eine Summe, von der ihm fast schwindlig wurde. Dann überschlug er sich aber das Ganze und rechnete aus, daß, wenn er auch nur die Hälfte der Zimmer vermieten würde, er schon die Miete für das ganze Haus bezahlen könne. Und da er von kaufmännischen Dingen sein Leben lang nur wenig verstanden hatte, verhehlte er auch seine Begeisterung nicht, so daß der Inhaber hartnäckig an dem erstgenannten Preis festhielt. Er aber verstand nicht zu feilschen. Er erschrak auch vor einem anderen angeblichen Interessenten und schloß in großer Hast den Vertrag ab. Als er unterzeichnete, war er sich im klaren darüber, daß er das Haus auch viel billiger hätte haben können. Er lief noch einmal in den Garten, um sich an dem Anblick der Bäume und der Rebenstöcke zu ergötzen, am liebsten hätte er jeden einzelnen Grashalm des Gartens gestreichelt. Dann eilte er nach Venedig. Und zwar das erste Mal nicht zu Marina, sondern geradenwegs zu Mazzoleni in das Arsenal.

»Hört einmal zu, Messer Mazzoleni! Laßt das Arsenal und kommt mit mir nach Padua. Ich habe ein großes Haus gemietet und gebe Euch Wohnung. Von früh bis abends werdet Ihr nur den Proportionalzirkel herstellen und so viel verdienen, daß Ihr Euch sogar noch für Eure alten Tage etwas zurücklegen könnt.«

»Aber ich habe eine große Familie, Euer Gnaden, was soll ich mit der anfangen?«

»Ich sage doch, Ihr bekommt Wohnung. Eine geräumige Familienwohnung, und eine Werkstatt könnt Ihr Euch auch einrichten; das Haus ist sehr groß. Nun? Habt Ihr Lust?«

»Ich hätte schon große Lust, Euer Gnaden. Wenn Ihr aber gestattet, so möchte ich zuvor mit meiner Frau sprechen.«

»Gut, aber Ihr müßt Euch noch heute entscheiden und mir Eure Entscheidung gleich brieflich mitteilen. Ich muß das Haus entsprechend einteilen.«

Dann lief er zu Marina, um auch ihr die große Kunde zu bringen. In großer Hast wollte er durch das Tor eintreten, als etwas seine Aufmerksamkeit ergriff. Er trat zurück. Eine schwarze Fahne bedeckte das Tor. Erschrocken rannte er die Treppen hoch und fand in der Wohnung Gambas sämtliche Hausbewohner versammelt. Im Krankenzimmer schalteten und walteten fremde Menschen, der alte Gamba war soeben aufgebahrt worden. Marina ging mit trockenen Augen umher, sie sprach mit den Hausbewohnern oder verhandelte mit den Fremden. Sie weinte nicht, aber es war erschreckend, sie anzusehen. Wie ein totenblasser Schatten schlich sie umher, als ob auch sie gestorben wäre, am hellichten Tage aber in der Wohnung herumspukte. Und als ob sie ein fremdes Geheimnis bei sich verborgen hielte.

Galilei nahm sie an der Hand und führte sie in die Küche. Nur dort konnten sie ungestört miteinander sprechen.

»Wann ist er gestorben?«

»Gestern bei Sonnenuntergang. Er hat entsetzlich gelitten. Ich konnte dich nicht mehr benachrichtigen, aber ich dachte es mir schon, daß du heute kommst.«

»Und wer sind die Fremden?«

»Das sind die Männer der Calza. Die sorgen für das Begräbnis. Ich ließ sie noch gestern abend benachrichtigen. Auch mit einer anderen Gesellschaft habe ich schon gesprochen, aber diese hier ist billiger.«

»Armes Mädchen, du stehst ja kaum auf deinen Füßen. Du tust mir von ganzem Herzen leid.«

Er umarmte sie voller Mitleid, gab sie aber gleich wieder frei und hielt ihre beiden Hände fest in den seinen.

»Habe keine Angst wegen der Zukunft, ich bleibe bei dir.«

»Ich weiß es, mein Lieber, du bist ja so gut. Aber davon muß ich dir gleich etwas sagen.«

»Wovon?«

»Von unserer Zukunft.«

»Laß jetzt, mein Herz, wir haben Zeit. Erst laß das Begräbnis vorüber sein und komm zur Ruhe, dann können wir alles miteinander besprechen.«

»Aber das eine muß ich dir jetzt sagen. Gott war gnädig zu meinem Vater, als er ihn zu sich nahm. So muß er diese Schande nicht erleben.«

»Was für eine Schande?«

»Ich werde ein Kind haben, Galileo.«

Verwundert wiederholte der Mann diese Worte. Nie hatte er daran gedacht, daß sich dies ereignen könnte. Was ihre Liebe anlangte, so pflegte er schon seit geraumer Zeit Marina die ganze Verantwortung zu überlassen. Jetzt, da er die große Nachricht vernahm, stockten seine Gedanken. Er wußte nicht, ob er sich freute, oder ob er erschrocken war.

»Hast du Angst«, fragte er tastend, »daß du nun in den Mund der Leute kommst?«

»Was gehen mich die Menschen an«, erwiderte Marina achselzuckend, »ich habe niemanden. Meine Verwandten sind gestorben, die Nachbarn und Bekannten sind mir gleichgültig. Gott gab mir dies, damit ich den großen Schmerz leichter ertrage. Und du freust dich nicht? Ich dachte, auch du würdest glücklich sein.«

»Natürlich freue ich mich, wenn du dich freust und dich um nichts kümmerst. Und wenn es möglich ist, werden wir ja sowieso heiraten.«

»Natürlich. Aber ich habe es nicht eilig. Gehen wir jetzt zurück. Es wäre ganz gut, wenn du mit den Leuten von der Begräbnisanstalt reden würdest; auf einen Mann hören sie doch ganz anders.«

Sie ging voran. Sie trug schon schwarze Kleider. Ihre wunderbare Figur gab das Geheimnis des Glückes noch nicht preis, das neue Leben, das keimte, während nebenan das alte erlosch. Galilei nahm einen Beamten der Calza zur Seite und ließ sich über die Einzelheiten des Begräbnisses und dessen Kosten unterrichten. Es erwies sich, daß Marina alles bereits hundertmal besser erledigt hatte, als er es überhaupt gekonnt hätte. Dann ging er zu dem Toten hinein. Der alte Edelmann, der Lepanto noch miterlebt hatte, war mit verzerrtem Gesicht in die andere Welt eingegangen. Bis zum letzten Augenblick hatten ihn wilde Schmerzen gequält. Sein langes spitzbärtiges Kinn war mit einem schwarzen Tuch hochgebunden; auf seine Augenlider hat man ein Geldstück gelegt, weil sie sich nicht schließen wollten, als ob er versuchte, auch noch nach seinem Tode wach zu bleiben. Galileo hatte das Gefühl, daß er diesen Toten um Verzeihung bitten müsse. Er ergriff die wachsgelbe, schlaffe Hand und küßte sie. Stumm versprach er diesem Toten, daß er zeit seines Lebens für das Mädchen sorgen wolle. Währenddessen blickte er aber auf die Hand des Toten. Überrascht sah er, wie ähnlich sie Marinas Hand war. Ob die Hand des kleinen Kindes auch so sein würde?

Von dem großen Ereignis, daß er ein Haus gemietet hatte, hatte er Marina nichts gesagt. Erst, als nach dem Begräbnis die mit dem Todesfall verknüpften Aufregungen und Schmerzen sich gelegt hatten und sie darangingen, den Nachlaß zu regeln, kam auch das zur Sprache. Es stellte sich nämlich heraus, daß man außer der Einrichtung von zwei Zimmern kaum etwas würde retten können, alles andere fraßen die vom Vater hinterlassenen Schulden auf. Galileo schlug vor, Marina möge mit diesen zwei Zimmereinrichtungen nach Padua übersiedeln. Sie würden irgendeine geeignete Wohnung in der Nähe des neuen Hauses suchen; denn zusammen könnten sie natürlich nicht wohnen, da das Professorenkollegium des Bo und die obersten Behörden eine wilde Ehe nicht dulden und die Jesuiten diese willkommene Gelegenheit zu neuerlichen Angriffen gründlich ausschlachten würden.

Alles ging glatt. Eine Wohnung war bald gefunden. Er mietete eine aus zwei Zimmern und Küche bestehende Wohnung, zwei Ecken von seinem Haus entfernt, für Marina. Aus Venedig ließen sie die Möbel dorthin schaffen, und in wenigen Tagen war die Wohnung schon eingerichtet. Marina brachte ihre alte Magd mit und lernte bald, wo der Grünzeugmarkt abgehalten wurde und bei welchem Fleischer man am billigsten einkaufen konnte.

Das neue Leben begann. Galileo ließ sich tagsüber nicht sehen, da sein Umzug tausenderlei Sorgen für ihn bedeutete; Vorlesungen mußte er auch halten, Privatstunden geben und außerdem noch nach Venedig fahren, um seinen neuen Vertrag unter Dach und Fach zu bringen. Nur nach dem Abendessen besuchte er Marina täglich. Sie waren zu zweit, ungestört, sie brauchten kein Stelldichein zu vereinbaren, nicht ängstlich nach der Tür zu horchen, nicht vorsichtig die Treppe herunterzuschleichen. Geruhsame Stunden wurden aus der Zeit nach dem Abendessen, ohne Aufregung, ein Zusammensein, das sich wenig von dem stillen Leben junger Eheleute unterschied. Galileo kam auch der Gedanke: warum heiratete er Marina eigentlich nicht? Geldlich würde es eine Erleichterung bedeuten, und vom Standpunkt Marinas aus gesehen, wäre ihre schiefe Lage mit einem Male geklärt. Sobald ihm diese Frage aber durch den Kopf ging, schob er sie immer wieder ungeduldig auf, um sich alles noch einmal zu überlegen.

Eines Tages, etwa Ende Oktober, erhielt er seinen neuen Vertrag. Serenissima verpflichtete ihn auf weitere sechs Jahre für den mathematische Lehrstuhl des Bo mit einem Gehalt von dreihundertzwanzig Gulden statt wie bisher einhundertachtzig. Diese Gehaltserhöhung wäre für sein Jahreseinkommen recht wesentlich gewesen, wenn er nicht das große Haus gemietet hätte. Dessen Miete war aber auf einmal zu bezahlen, und man konnte nicht abwarten, bis die Studenten, teils pünktlich, teils unpünktlich, ihren Zahlungsverpflichtungen nachkamen. Die Zimmer wurden alle bis unter das Dach vermietet, und das Haus war voller Studenten aller Nationen. Frau Mazzoleni, die die Verwalterin des großen Hauses wurde, kochte auf einmal für vierzig Menschen und mußte das Nötige dazu natürlich für bares Geld einkaufen. Die Proportionalzirkel fanden weiterhin guten Absatz, aber er hatte zwei neue Hausdiener annehmen müssen, um die vielen Zimmer sauber zu halten. Im Endergebnis klappte alles vorzüglich, seine Geldsorgen warm aber nicht geringer als früher. Er führte keine Bücher, seine Schulden merkte er sich nur im Gedächtnis. Die Einnahmen schrieb er auch nicht auf. In seinem Schrank stand eine verschließbare Eisenkassette, da verwahrte er sein Geld. Wenn einer seiner Studenten zahlte, legte er das Geld in diese Kassette. Wenn Frau Mazzoleni Geld brauchte, griff er in die Kassette. Festzustellen, welcher Student mit wieviel Wochen im Rückstand war, überließ er einzig und allein seinem Gedächtnis, dieses Gedächtnis aber hatte auch noch allerlei anderes zu merken; und so kam es vor, daß er sich am allermeisten wunderte, wenn einer seiner Studenten unter vielen Entschuldigungen eine große Schuld beglich. Inzwischen trafen, wie üblich, grobe Briefe vom Schwager Landucci ein, der nachdrücklich sein Geld forderte. Wenn er solch einen Brief erhielt, nahm Galileo sofort die Kassette vor, aber darin war nie soviel Geld, daß er seinem Schwager einen größeren Betrag hätte zurückzahlen können.

Solcherart Sorgen bedrückten ihn aber immer nur für Minuten. Er drehte sich einmal um sich selbst, und damit war alles schon wieder verpesten. Freuden hatte er hingegen um so mehr, zu denen er vor den vielen Sorgen flüchten konnte. Eine große Freude zum Beispiel war es, jeden Mittag mit seinen Studenten zusammen zu speisen. Der Diener ging hinauf in den zweiten Stock, schlug dort die Glocke, dann im ersten Stock und zuletzt im Erdgeschoß. Wenn er hier unten läutete, drängte sich die hungrige junge Meute schon an der großen Tafel, rückte die Stühle hin und her und machte einen fürchterlichen Lärm.

» Bon giorno, Eccellenza!« riefen sie fröhlich, wenn er oben an der Tafel erschien.

Die Teller klirrten, und auf dem langen Tisch standen in Reih und Glied die Steinkrüge mit Chianti. Eine kurze Weile konnte man kein Wort hören, bis die jungen Mägen den ersten Heißhunger gestillt hatten. Dann ging die launige Unterhaltung los. An der rechten Seite des Hausherrn saß der junge Graf Noailles, der Sohn reicher französischer Eltern, zu seiner Linken Graf Schweinitz, der aus Deutschland in die Stadt des berühmten Bo gekommen war. Dann schlossen sich nacheinander an: Lehrbach, ein Deutscher, Stanislas, ein Pole, Beatavilla, ein Toskaner, und so weiter bis hinunter zum Jüngsten am Tischende, der erst vor einigen Tagen angekommen und dessen Name noch nicht einmal bekannt war. Die Unterhaltung lief in lateinischer Sprache, da die Deutschen, die Polen, die Italiener und die Franzosen die Sprache der anderen nicht beherrschten; Lateinisch aber sprachen sie alle. Jede dieser Mahlzeiten war äußerst anregend. Von so vielen Teilen der Welt kamen diese Jungen, sie konnten unzählige staunenswerte Geschichten erzählen und von sonderbaren Bräuchen ihrer Länder berichten. Oder sie erzählten von ihren Universitätserlebnissen, von ihren Schlägereien mit den Studenten der Jesuitenschule, von ihren nächtlichen Abenteuern, den Streichen, die sie den Sbirren spielten, von den Serenaden unter den Fenstern. Sobald Galileo sich zu ihnen an den Tisch setzte, wurde er wieder jung mit ihnen. Er lachte fröhlich mit, ihre witzigen Geschichtchen erwiderte er mit ähnlichen Anekdoten und gab sogar Ratschläge in bezug auf das schwache Geschlecht.

Auf das lustige Mittagessen folgten die Privatstunden. Die Schüler teilten sich in verschiedene Gruppen, je nachdem, wann sie einen Kurs begonnen hatten und womit sie sich beschäftigten. Die eine Gruppe erhielt Unterricht in Befestigungslehre, die andere Gruppe paukte das euklidische Pflichtstudium, die dritte Gruppe wieder lernte mit dem Proportionalzirkel umgehen. Für sich selbst hatte Galilei kaum eine Stunde vor dem Abendessen. In dieser freien Zeit arbeitete er oder erledigte irgend etwas für seine eigene Person oder lief schnell einmal zu Pinelli. Um sieben Uhr ertönte die Glocke abermals und die Jugend strömte wieder zu der großen Tafel. Neue Scherze, Geschichten von zu Hause, lustige Berichte über tolle Streiche. Wein stand genug auf dem Tisch, die Verfügung des Hausherrn lautete, daß bis neun Uhr soviel Chianti aufgetragen werden sollte, wieviel eben gebraucht wurde. Denn nach dem Abendessen saßen sie noch bis neun Uhr beisammen, Musikinstrumente wurden herbeigeholt und lauter Gesang machte die Mauern erbeben. Um neun Uhr erhob sich der Hausherr und ging hinüber zu Marina. Das hatte er ein für allemal so festgesetzt. In Wirklichkeit aber kam er meistens zu spät. Und allmählich wurde es immer später. Ab und zu geschah es auch schon, daß er überhaupt nicht hinüberging. Er ließ ihr mitteilen, daß er etwas Wichtiges zu erledigen habe. Die wichtige Beschäftigung bestand dann darin, daß er mit seinen Studenten beim Pokulieren saß. Er ließ sich seine Laute reichen, sang florentinische Lieder, und zwar, zur diebischen Belustigung seiner Studenten, einige von den prickelndsten. Seine Laune wurde immer rosiger, aus vollen Pokalen trank er den Wein, fiel zuletzt mächtig berauscht dem Grafen Noailles um den Hals und schwor einen heiligen Eid, daß Florenz die erste Stadt der Welt sei. Am anderen Tage vermochte er sich dann nicht mehr daran zu erinnern, wer und wie man ihn zu Bett gebracht hatte. Zornig rügte er sich selbst, daß er wiederum dem Wein gefrönt und seine Autorität aufs Spiel gesetzt hatte. Aber als es Abend wurde, beruhigte er sich wieder, da die Studenten sich keinerlei Vertraulichkeiten herausnahmen. Sie achteten ihn ebenso wie zuvor. Sie waren viel zu sehr von seinem Geist bezaubert und lauschten seinem Unterricht wie einem Orakel. Frau Mazzoleni brummte, daß wieder soviel Wein verschwendet worden war, ohne jeden Grund noch dazu, und daß Seine Gnaden jenem törichten Wirt gleich sei, der selbst die Zeche seiner Gäste bezahlte.

Marina machte nie Vorwürfe, wenn Galileo abends nicht zu ihr kam. Sie empfing ihn mit einem ebenso zärtlichen Kuß wie sonst. Jetzt begann sie schon viel schwerfälliger zu werden und die mit ihrem Zustand verbundenen Beschwerden plagten sie auch. Aber sie klagte niemals. Sie hatte nie einen besonderen Wunsch, die kleinen Geschehnisse der Stadt und ihrer Umgebung ließen sie völlig kühl. Wenn Galileo bei ihr war, nahm sie in ihrem bequemen Lehnstuhl Platz, setzte ihre Stickerei an einer nicht enden wollenden Decke fort und hörte aufmerksam zu, wenn Galileo erzählte. Und wenn Galileo nichts erzählte, dann saß sie eben so still da und summte leise vor sich hin wie eine schnurrende Katze. Wenn Galileo sie küssen wollte, schmiegte sie sich willig und gehorsam an ihn an, wie ein guter Schüler in der Schule durch seine Dienstbeflissenheit auffällt.

»Eine große Nachricht«, sagte Galileo eines Abends, »ich werde Mitglied der Akademie.«

»Wirklich? Interessant!«

Das klang sehr höflich, aber hinter diesem liebenswürdigen Ton verbarg sich eine gewisse Gleichgültigkeit, die Galileo reizte.

»Fragst du denn gar nicht, von welcher Akademie?«

»Aber natürlich. Ich warte sogar, daß du weiter erzählst.«

»Ich habe dir doch schon einmal von dem jungen Cornaro erzählt, der Priester werden wollte und hier studiert hat …«

»Ich kenne ihn sogar. Ich bin ihm in Venedig in der Gesellschaft begegnet.«

»Nun, also, dem gehört ein wunderbarer Palast hier bei dem Ponte di Santa Sofia. Der junge Mann hat sich so lange bemüht, bis er eine ganze Gesellschaft von Gelehrten zusammengebracht hat, um hier in Padua eine Akademie zu gründen. Nur deshalb, damit auch er Mitglied werden kann, und die regelmäßigen Zusammenkünfte in seinem Palast stattfinden. Heute haben wir die Akademie gegründet. Wir nennen sie › I Ricovrati‹.«

»Warum so?«

»Weil Cornaro sich das so ausgedacht hat. Es ist schon sehr schwer, für eine neue Akademie einen Namen zu finden. Cremonini hat gerade heute einen Vortrag gehalten, wie viele Akademien es schon in Padua gibt. Unzählige. Es findet sich immer ein übereifriger Mensch, der eine Akademie gründet. Solange dieser Mann sie dann zusammenhält, besteht so eine Akademie. Dann schläft sie wieder ein. In Padua gab es bereits eine Akademie der ›Flammenden‹, der ›Beständigen‹, der ›Begeisterten‹, der ›Neugeborenen‹, der ›Mächtigen‹, der ›Ätherischen‹ und was weiß ich noch alles. Derartige Namen pflegt man einer Gelehrtengesellschaft zu geben. Die neue nennt sich nun die Akademie der ›Aufgenommenen‹. Oder wenn es dir so besser gefällt: ›Die eine Zuflucht fanden‹. Das Ganze geht lediglich darauf hinaus, daß der Palazzo Cornaro das Asyl der Wissenschaften werden soll. Auch ich bin Mitglied geworden. Der Präsident ist Querengo.«

»Das ist sehr schön.«

Eine kleine Pause folgte. Galileo beobachtete das Mädchen aufmerksam. Dann begann er in einem ganz neuen Ton:

»Höre einmal, Marina, ich möchte dich etwas fragen. Auf das, was ich dir jetzt erzählt habe, hast du höflich und bereitwillig geantwortet und dir das Ganze liebenswürdig angehört. Aber ich könnte schwören, daß es dich genau so wenig interessiert, wie es mich ganz kalt läßt, wieviel das Kalbfleisch kostet. Du bist eine sonderbare Frau, Nicht nur daraus machst du dir nichts, ich habe auch schon öfter bemerkt, daß du nur aus reiner Höflichkeit aufmerksam bist. Beantworte mir einmal die Frage, aber ganz aufrichtig: was interessiert dich eigentlich?«

Marina schwieg lange. Dann blickte sie mit ihren schönen blauen Augen von ihrer Handarbeit hoch und erwiderte:

»Nichts.«

»Dich interessiert nichts?«

»Nichts.«

»Warum lebst du denn überhaupt?«

»Weil ich geboren wurde. Wenn ich aber stürbe, würde mir das auch nicht viel ausmachen. Ich habe aber auch keine Sehnsucht, zu sterben.«

»Dein eigenes Ich interessiert dich auch nicht?«

»Nein.«

»Und das Kind, das du zur Welt bringen wirst, interessiert dich auch nicht?«

Marina hob die Schultern.

»Ich bin neugierig darauf. Sicherlich wird es sehr niedlich und unterhaltend sein.«

Galileo geriet in Erregung. Er neigte sich vor und examinierte Marina weiter.

»Wir sind jetzt einmal so schön mitten drin in der Aufrichtigkeit: liebst du mich, Marina?«

»Natürlich liebe ich dich. Du bist doch so gut zu mir.«

»Nein, nein. Sprich nicht davon. Ob du in mich verliebt bist, darauf antworte, Nun?«

»Ich bin in dich nicht verliebt. Es gab eine Zeit, wo ich das geglaubt habe. Aber dann kam ich darauf, daß es nicht so ist. Ich kann gar nicht verliebt sein.«

»Marina! Das ist doch fürchterlich. Wir lieben einander doch. Ich habe auch schon gedacht, daß ich mir nur eingebildet habe, in dich verliebt zu sein.«

»Ich weiß«, nickte das Mädchen, »aber warum ist das fürchterlich? Wir kommen doch ganz gut miteinander aus.«

Erstarrt sah Galileo seine Geliebte an. Er war entsetzt, als ob er in einen Sarg geblickt hätte.

»Du bist unverständlich und erschreckend. Was bist du denn eigentlich? Was wohnt denn in deiner Seele?«

»In meiner Seele«, erwiderte das Mädchen ruhig, »wohnt nichts. Meine Seele ist vollkommen leer.«

»Aber um Himmels willen, du küßt mich doch! Du erwiderst meine Küsse doch! Wenn du mir gehörst, umarmst du mich doch, als wolltest du mich fast erwürgen!«

»Natürlich, sich zu küssen ist doch sehr schon. Und du bist doch auch ein sehr begehrenswerter, stattlicher Mann. Und du gehörst ja auch mir.«

Galileo schwieg. Und auch das Mädchen schwieg. Erst nach einer langen Pause hob der Mann wieder an:

»Weißt du, davon wollen wir nie mehr reden.«

»Es ist auch besser«, stimmte Marina ernst und gelassen zu.

Sie sprachen auch nicht mehr darüber. Mit gleichbleibender, liebenswürdiger Höflichkeit und dem verblaßten Gleichmut von Eheleuten verplauderten sie ihre gemeinsamen Stunden wie zuvor. Und die sinnliche Glut ihrer Küsse war nicht minder reizvoll. Wenn aber Galileo mit seinen Gedanken allein war, fühlte er, daß er auf dieser Welt ganz einsam war. Einmal hatte er den Versuch gemacht, Marinas Anteilnahme für seine welterschütternden seelischen Probleme zu wecken. Er hatte ihr von Kepler und Kopernikus erzählt, zunächst nur einige spannende Einzelheiten über deren Person, und wartete auf die Wirkung. Umsonst, nichts als höfliche Worte als Deckmantel völliger Gleichgültigkeit. Er gab es auf. Von Marina blieb nichts, aber wirklich auch gar nichts übrig, als das Verhältnis zu einem sehr schönen Mädchen, für das er sorgen mußte.

Seine großen Gedanken, zu denen eine Lebensgefährtin zu finden Glückseligkeit bedeutet hätte, zog er in sich zurück wie eine Schnecke ihre vorsichtig tastenden Hörner. Hin und wider wechselte er Briefe mit Kepler. In dessen Schicksal war eine große Wendung eingetreten. Der Hofastronom des Deutschen Kaisers, der an der Seite seines Herrn in Prag arbeitete, suchte eine junge Hilfskraft. Dieser Astronom hieß Tycho Brahe. Allem Anschein nach war er der kühnen kopernikanischen Weltauffassung zugeneigt, und es fand sich ein Vermittler, der ihm Kepler als die gesuchte Hilfskraft zuführte. Kepler hätte andererseits auch wieder nach Graz zurückkehren können, da die Jesuiten, die während der Herrschaft des Erzherzogs Ferdinand dort das Zepter führten, sich ihm sehr wohlgesinnt zeigten, obwohl er ein Protestant war: sie riefen ihn auch auf die Universität zurück und sicherten ihm volle Religionsfreiheit zu. Er aber war ein viel zu überzeugter Protestant, um einem Ferdinand zu dienen. Er zog die Stellung in Prag vor. Er bat Galilei, Tycho Brahe einige Zeilen zu schreiben, jenen würden die Briefe des Paduaner Gelehrten sicherlich interessieren. In Galilei erwachte der florentinische Kampfhahn, und er erwiderte, daß er einen Briefwechsel nur aus eigenem Entschluß zu beginnen pflegte, auf Bestellung täte er so etwas nicht. Da erhielt Pinelli aus Prag einen Brief: Tycho Brahe, der mit Pinelli bereits in Briefwechsel stand, äußerte jenem gegenüber auch, Galilei, der Gelehrte aus Padua, möge ihm schreiben.

»Jetzt schreibe ich erst recht nicht«, meinte Galilei hartnäckig, »von mir aus hätte ich ihm gerne geschrieben. So aber nicht. Wenn er einen Briefwechsel mit mir anfangen will, soll er beginnen. In der Wissenschaft kenne ich keinen, der über mir steht. Ich halte ihn zwar nicht für kleiner, aber auch nicht für größer.«

Pinelli lächelte und stritt nicht. Schon deswegen nicht, weil er wußte, daß jeder, der mit Galilei eine persönliche Debatte begann, von vornherein verloren war. Keiner war diesem Ozean von Argumenten gewachsen. Es blieb also dabei, daß Galilei nicht schrieb. Mochte jener doch schreiben.

Und Galilei siegte. Er erhielt einen Brief von Tycho Brahe aus Prag. Einen sehr anerkennenden und höflichen, aber auch ein wenig herablassenden Brief. Jedenfalls aber ein Bekenntnis zu Kopernikus. Galilei freute sich außerordentlich. Er rechnete nach, daß die Zahl der Kopernikus-Jünger nunmehr schon auf drei angewachsen war. Langsam, aber irgendwie mußte die Sache also doch gehen. Er antwortete sofort in einem auffallend liebenswürdigen und ausführlichen Brief. Darauf konnte er aber schon keine Antwort mehr erhalten. Aus dem nächsten Brief Keplers erfuhr er, daß Tycho Brahe gestorben sei. Die Kopernikus-Jünger waren also wiederum nur zu zweit. Aber der eine, der einen Lehrstuhl innehatte, trat mit seinem Glauben wegen Mangel an Beweisen nicht vor die Öffentlichkeit, und der andere, der auch ohne Beweise entschlossen gewesen wäre, mutig hervorzutreten, hatte wiederum kein Katheder …

Marina hatte ihr Kind geboren. Es war ein Mädchen. Sie tauften es Virginia. Pater Giovanni Viola, der Geistliche, der die Taufe vollzog, trug den Namen des Vaters in das Taufregister nicht ein, und die Mutter bezeichnete er auch nur als »die venezianische Marina.« Der junge Vater war selbst verwundert, was für Wonnen ihm dieses kleine Wesen bereitete. Er hatte gewußt, daß er sich freuen würde, aber er hatte nicht gewußt, daß er so selig sein würde. Sechsmal am Tage lief er zu Marina, um das Kind zu sehen, und fand die kleine rote, kegelförmige Göre, die nach Milch roch und fürchterlich schrie, bezaubernd und goldig. Überschwenglich malte er sich die Zukunft des Kindes aus: er würde ein großes Vermögen erwerben und seine Tochter einem vornehmen Mann zur Frau geben, damit er dereinst als weltberühmter, greiser Gelehrter niedliche Enkelkinder auf seinen Knien reiten lassen könnte.

Die Geburt des Kindes verlieh seinem Ehrgeiz neuen Auftrieb. Tage hindurch prüfte er sein eigenes auf der kopernikanischen Grundlage aufgebautes Weltsystem und erwog immer nachdrücklicher den Gedanken, ob er damit nicht vor die große Welt treten solle. Nach langen inneren Kämpfen war er von neuem überzeugt, daß er es tun müsse. Unmännlich und feige nannte er selbst sein weiteres Schweigen. Nur mit Fra Paolo Sarpi wollte er noch sprechen. Der war ein Mann der Kirche. Ihn wollte er fragen, welche Folgen es bei der Kirche haben könnte, wenn er mit dieser neuen Lehre hervorträte.

Er fuhr nach Venedig, wartete in der Buchhandlung auf Fra Paolo und bat ihn, mit ihm etwas spazierenzugehen. Sie gingen an der Riva degli Schiavoni entlang, und Galilei sprach von seiner Absicht. Er setzte Fra Paolo im einzelnen auseinander, wie er es machen wolle: er wolle im neuen Lehrjahr Vorlesungen über Kopernikus halten und das Material dieser Vorlesungen in einem Buch veröffentlichen. Dieses Buch werde die ganze bisherige Wissenschaft in die Luft sprengen.

Sarpi verharrte in Schweigen. Erst als Galilei zu Ende gesprochen hatte, blieb er stehen und begann:

»Sagt, mein lieber Sohn, erinnert Ihr Euch an den Gelehrten namens Giordano Bruno, den man auf die Anzeige Mocenigos hin vor einigen Jahren hier in Venedig verhaftet hat?«

»Natürlich erinnere ich mich. Unmittelbar zuvor hatte er noch in Padua einige Vorträge gehalten, als ich an die Universität kam. Er war doch ursprünglich ein Dominikaner und geriet wohl mit dem Ordenspräfekten in Streit. Der Marchese Del Monte hat mir von ihm erzählt.«

»So ist es. Er lehrte, daß Gott die Seele des Weltalls sei und wir als Seelen ein Teil Gottes.«

»Ich weiß, ich weiß. Er lehrte auch, daß die Fixsterne jeder eine Sonne für sich sind. Nun?«

»Nun, die Inquisition ließ diesen Giordano Bruno von hier aus in die Engelsburg schaffen. Sieben Jahre lang hielt man ihn dort gefangen. Heute früh gerade erhielt ich die Nachricht, daß man ihn nach siebenjähriger Untersuchung zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt hat. Er ist vor einer großen Menge auf dem Campo di Fiore verbrannt worden. Der Mann, der mir die Nachricht brachte, ist dabeigewesen. Er sagte, daß der Unglückselige fürchterlich geschrien habe, als er brannte. Vom Geruch des brennenden Menschenfleisches wurden viele ohnmächtig. Meine Antwort auf Eure Frage: Wählt selbst; entweder Ihr geht als Märtyrer der Wissenschaft auf den Scheiterhaufen oder Ihr haltet den Mund und geht nach Hause zu Eurer kleinen Tochter.«

Galilei erwiderte lange nichts, den Blick am Boden. Dann rief er zähneknirschend:

»Also, mir ist es ganz gleichgültig, mag man mich verbrennen! Ich werde trotzdem hervortreten!«

»Nein, mein lieber Sohn, Ihr werdet nicht hervortreten. Ich kenne Euch besser als Ihr Euch selbst kennt. Ihr betet dieses schöne Leben an. Ihr liebt diese Welt mehr denn alles andere. Ihr werdet nie auf dem Scheiterhaufen sterben. Und Ihr habt recht; denn es ist schön und gut zu leben! Geht jetzt nach Hause zu Eurer kleinen Tochter.«

Störrisch senkte Galilei den Blick wieder. Er hätte sich geschämt, wenn der Priester bemerkt haben würde, daß seine Augen vor Erbitterung voller Tränen waren. Und er wußte schon, daß er abermals schweigen würde.

 


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