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Siebzehntes Kapitel

In Venedig besaß er jetzt zwei liebe Bekannte. Vornehm, reich und jung der eine, Gianfrancesco Sagredo, der andere ein Mönch: Fra Paolo Sarpi.

Fra Paolo gehörte dem Servitenorden an. Er war noch nicht fünfzig, hatte aber bereits den Rang eines Provinzialen inne, und wenn in Rom die Angelegenheiten seines Ordens verhandelt wurden, durfte er als Prokurator nicht fehlen. In ganz Italien standen seine theologischen Kenntnisse hoch im Ruf, und Serenissima betrachtete ihn auch offiziell als ihren Staatstheologen. In Venedig kannte ihn ein jeder: oft konnte man an der Piazza oder in der engen Merceria seine schmale, zerbrechliche Gestalt, die in der braunen Kutte fast versank, beobachten. Im Volksmunde nannte man ihn auch den »schönen Geistlichen«; denn jedermann wandte sich nach seinem auffallend schönen Christuskopf um. In der Regel ging er nie allein auf der Straße, sondern ließ sich begleiten. Er hielt dies deswegen für ratsamer, weil er mit dem päpstlichen Nuntius in Venedig in einem sehr schlechten Verhältnis stand und die Mutmaßung nicht von der Hand zu weisen war, daß ihn eines schönen Tages an einer Straßenecke ein Angriff treffen könnte, der dann keinen Urheber haben würde. Der Nuntius hatte auch allen Grund, Fra Paolo zu zürnen; denn der Mönch hatte in jeder Sache, die zwischen dem Vatikan und der Serenissima auftauchte, in seiner Eigenschaft als Konsultor sich stets als fanatischer venezianischer Patriot gezeigt. Manchmal nannte man ihn auch den venezianischen Machiavelli, und die Geistlichen, die zur Partei des Nuntius gehörten, behaupteten von ihm, daß er seine Knie lieber vor der mit der Goldkrone geschmückten Dogenmütze als vor der Dornenkrone des Erlösers beuge.

Er verkehrte gern mit Gelehrten. Unter den Professoren in Padua hatte er sich Fabrizio, den alten Professor der Medizin, zum Busenfreund erkoren. Als Fabrizio bei den Riformatori durchgesetzt hatte, daß man ihm einen Seziersaal baue, entwarf Fra Paolo den Plan dafür. Die Einrichtung dieses Saales war sehr eigenartig. In der Mitte war nur so viel Platz vorhanden, daß der Seziertisch gerade noch aufgestellt werden konnte. Darauf wurde die Leiche gelegt, und der Gelehrte Fabrizio d'Aquapendente stand davor mit seinen scharfen geschliffenen Messern, und rings herum erhoben sich amphitheatralisch die engen Ringe der Stehplätze für die Studenten. Diese Ringe waren so schmal, daß ein junger Mann, der etwa einen großen Bauch hatte, sich nur mühsam hineinzwängen konnte, aber die zweckmäßige Anlage teilte die Plätze so geschickt ein, daß der oberste Ring, also der am weitesten abstehende, auch noch nahe genug zum Seziertisch stand; dabei war der Höhenunterschied zwischen den einzelnen Ringen so groß, daß jeder Student über den Kopf des vor ihm Stehenden hinwegsehen konnte; keiner hatte nötig, sich auf die Fußspitzen zu stellen. Galilei hatte Fra Paolo bereits kennengelernt, als man diesen neuen Seziersaal unter großen Feierlichkeiten der Öffentlichkeit übergab; ihre Bekanntschaft war aber geraume Zeit nur ganz oberflächlich. Sie wurden erst vertrauter, als Sarpi von Galileis Proportionalzirkel gehört hatte und ihn wissen ließ, daß auch er aus wissenschaftlichem Interesse dessen Handhabung erlernen möchte. Galilei beeilte sich höflich, der Bitte des berühmten Priesters nachzukommen. Er suchte ihn in Venedig auf und war bestrebt, ihm die nicht ganz einfache Handhabung dieses Instrumentes verständlich zu machen. Das gelang nicht völlig, da Fra Paolo zwar einen scharfen juristischen Verstand hatte, aber für die Mathematik nur wenig begabt war. Aber auf diese Weise wurden sie doch näher miteinander bekannt. In diesem Geistlichen steckte ein kühner, rebellischer Zug, der Galilei besonders anzog. Als vorerst noch ohnmächtiger Freiheitsbringer der Wissenschaft spürte er in Fra Paolo den Verbündeten, der ein ebenso gefesselter Freiheitskämpfer der Theologie war, weil er sein ganzes juristisches Können dazu benutzte, die Grenzen der päpstlichen Macht in den weltlichen Angelegenheiten Venedigs möglichst haargenau zu ziehen. Wohin der eine also griff, stieß seine Hand gegen die tyrannische Macht des Aristoteles, und so erging es dem anderen mit der päpstlichen Macht.

Sie wurden schnell vertraut miteinander. Am Fuße des Orologio befand sich eine Buchhandlung; ganz von selbst hatte es sich so getroffen, daß man in der Mittagsstunde regelmäßig hier einkehrte. Die Besucher kauften auch hin und wieder ein Buch, meistens aber plauderten sie nur. Hier erzählte ein jeder, was er Neues gehört hatte, aus allen Teilen Italiens liefen hier die Nachrichten zusammen, und zwar nicht nur aus der wissenschaftlichen Welt, sondern auch aus der politischen. Hier erzählte man, daß Heinrich IV., der französische Hugenottenkönig, dem französischen Throne zuliebe wieder zur Kirche zurückgekehrt sei, und als er, vom Papst gezwungen, der Messe beiwohnte, gesagt haben solle: »Paris ist schon eine Messe wert!« Hier erfuhr man, daß Orlando di Lasso in München gestorben war, daß die Spanier neue Inseln erobert hatten und sie zu Ehren ihres Königs »Philippinen« getauft hatten, daß in Japan eine starke nationale Bewegung gegen die katholische Heidenbekehrung ausgebrochen war und die Japaner alle die Missionare ermordet hatten, die der Großherzog Fernando von Florenz zu der Zeit, als er noch Kardinal in Rom war, hatte ausbilden lassen. Gelehrte, Priester, Bücherliebhaber, Sammler oder auch nur Leute, die gern etwas Neues erfahren wollten, kamen vormittags kurz vor dem Essen in diesen Laden. Von hier aus gingen sie dann durch die Merceria bis an die Rialtobrücke, denn dort war unter den Arkaden täglich auf einer riesengroßen schwarzen Tafel der Kurs der venezianischen Galeeren auf dem Weltmeere angeschlagen.

Auch Galileo führte sein Weg stets in diese Buchhandlung, wenn er nach Venedig herüberkam. Und hier lernte er auch seinen zweiten neuen Freund, den jungen Sagredo, kennen.

Gianfrancesco Sagredo war kaum zwanzig Jahre alt, hatte aber schon soviel bittere Weisheit aus der Betrachtung des Weltlaufs gewonnen, als wenn er dreimal so alt gewesen wäre. Schon frühzeitig hatte er das Leben kennengelernt; denn sein reicher Vater hatte dem halbwüchsigen Jüngling in allem freie Hand gelassen: er möge sich nur ordentlich austoben. Jahrelang vergeudete der Junge sinnlos sein Geld, jeder seiner Schritte war von einer prächtigen Dienerschar begleitet, bei den schönsten Kurtisanen hatte er seinen eigenen Becher und sein eigenes Eßgerät. Wild hasardierte er in den berüchtigtsten Spielhöllen, focht ein Duell nach dem anderen aus und hatte mehr als einen seiner Gegner niedergestreckt. Da er aber die in den Handbüchern festgelegten Regeln der Ritterlichkeit stets streng einhielt, hatte er niemals Unannehmlichkeiten oder Scherereien mit den Behörden. Jetzt, kaum zwanzig Jahre alt, hatte er an Prunk, Karten und Wein keine Freude mehr. Aus dem Überschwang der Genüsse wandte er sich den Wissenschaften zu, aber auch da fesselten ihn nur die Kuriosa. Leider, denn sein auffallend scharfer Verstand wäre es wohl wert gewesen, daß er ihn systematisch ausgebildet hätte. Schon während der ersten Unterredung horchte Galilei überrascht auf: ein Mathematiker von Beruf hätte für die aufgeworfenen Probleme nicht mehr Verständnis aufbringen können.

»Solltet Ihr die Mathematik nicht zu Eurem Lebensziel machen?«

Sagredo hob die Schultern.

»Warum? Genau so gut könnte ich das Recht, die griechische Sprache oder die Geschichte zu meinem Lebensziel machen. Ich habe aber keins von alledem nötig. Nur solange es mich unterhält …«

»Irgendein Lebensziel muß der Mensch aber doch haben, nicht wahr?«

»Sicher. Mein Lebensziel ist, daß ich mich in dieser Welt, die ich im übrigen recht langweilig finde, so angenehm wie nur möglich einrichte oder, ganz genau ausgedrückt: mich möglichst wenig langweile. Manchmal gelingt es. Jetzt zum Beispiel habt Ihr mich zu großem Dank verpflichtet; denn diese Unterhaltung hat mir außerordentliches Vergnügen bereitet. Wie ich zu meinem Bedauern sehe, wollt Ihr schon gehen. Wohin wollt Ihr? Meine Gondel wartet dort unten an der Piazzetta. Vielleicht kann ich Euch irgendwohin bringen?«

»Das wäre sehr liebenswürdig von Euch. Ich will in das Arsenal, ich suche einen Kupferschmied.«

»Vorzüglich. Ich habe nichts vor, gehen wir zusammen.«

Sie gingen am Dogenpalast vorbei und stiegen in die prachtvolle Gondel, deren Ruderer das Wappen des Geschlechtes derer von Sagredo auf ihrer Brust trugen. Während die blaugelben Ruder die Gondel geschmeidig an der Riva degli Schiavoni entlang gleiten ließen, unterhielten sie sich eifrig. Galilei erzählte, daß er den Proportionalzirkel, den er erfunden hatte, laufend herstellen lassen wolle.

»Eure Begeisterung ist bewunderungswürdig«, sagte Sagredo mit altklugem Lächeln, »es ist wirklich schön, zu sehen, wie sich jemand so begeistern kann.«

»Seid Ihr dessen nicht fähig?«

»Nein. Meine Familie hat, was Begeisterung anlangt, offenbar schon das ihrige getan. Unsere Familie bewahrt eine Überlieferung, nach der der Name Sagredo nichts anderes sein soll als die Entstellung des Namens San Gherardo. Der Bruder eines meiner Ur-Urahnen war jener gewisse Heilige Gerhard, der in seiner großen Begeisterung als Missionar zu den Heiden nach Ungarn ging. Die haben seine Begeisterung auch zu schätzen gewußt, in einer sehr originellen Art übrigens. Sie legten ihn in ein mit Nägeln ausgeschlagenes Faß und ließen ihn von irgendeinem hohen Berg in die Donau rollen. Wie ich höre, nennt man diesen Berg heute noch nach seinem Namen. Wahrheitsgemäß müßte dieser Berg eigentlich Monte Sagredo heißen, denn schließlich heißen wir jetzt so. Aber wie gesagt, wir haben uns schon zur Genüge begeistert. Da sind wir auch schon am Ziel!«

Die Gondel bog in einen Nebenkanal ein, und schon standen sie am Eingang des Arsenals. Auszuweisen brauchten sie sich nicht. Galilei war hier schon gut bekannt, und für Sagredo genügte es, seinen Namen zu nennen. Im Labyrinth des Arsenals kamen sie endlich zu den Werkstätten der Schmiede und Kupferschmiede. Galilei fand alsbald den Mann, den er suchte: einen Kupferschmied namens Mazzoleni, den man ihm allerseits als geschickt empfohlen hatte. Galilei zeigte ihm das Muster seines Proportionalzirkels, den er mitgebracht hatte. Dem Kupferschmied gefiel die Sache. Er erblickte darin neben seiner regelmäßigen Arbeit eine gute Einnahmequelle. Auch wegen der Kosten kamen sie bald überein.

Als sie die Gondel wieder bestiegen hatten, erkundigte sich Sagredo nach dem Proportionalzirkel. Galilei holte aus seinen Taschen die Zeichnungen hervor und begann sogleich zu erklären, klar und einfach; er hatte in dieser Hinsicht schon reichlich Übung. Selten war es ihm aber vorgekommen, daß jemand so blitzschnell den Sinn dieses Instrumentes erfaßte. Er war so in das Gespräch vertieft, daß er erst wieder zu sich kam, als die Gondel bereits vor dem Sagredo-Palast hielt.

»Hätten Euer Gnaden keine Lust, mit mir zu Mittag zu speisen? Wir werden zu zweit sein, es ist niemand zu Hause, wir werden ganz ungestört plaudern können.«

»Ich danke vielmals, mit großer Freude.«

Galilei sah sich um, bevor er aus der Gondel stieg. Der Palazzo Sagredo stand zwischen dem feenhaften Palazzo Cà d'Oro und der Parochie Santi Apostoli gegenüber dem Fischmarkt. Vorbeigerudert war er hier schon oft, hatte aber nie gedacht, daß er auch einmal hier Gast sein würde.

Sie stiegen neben dem Cà d'Oro aus und traten in den kleinen engen Durchgang, in dem der Cà d'Oro sein wahres Gesicht zeigte: die dem Kanal zugekehrte Fassade war ganz aus Marmor und Gold, die Seitenwand dagegen nur aus roten Ziegeln. Sie schritten den schmalen Gang entlang und gingen so um den ganzen Sagredo-Palast herum. Auf der der Parochie zugewandten Seite begrüßte sie die gesamte wartende Dienerschaft mit tiefen Verbeugungen. In dem pompös eingerichteten Treppenhaus schlug ihnen eine angenehme Kühle entgegen. Auf den Gängen überall dicke Teppiche, die alle Geräusche auffingen, überall Marmorstatuen und Bilder. Auf Konsolen prachtvolle, große Silberschüsseln und Humpen. Ein riesiger Kamin aus Marmor mit Goldeinlagen. In den Ecken der Zimmer, an denen sie vorübergingen, große Sträuße frischer Blumen und wohlriechender Kräuter. Fenster mit Glasmalereien; gegen die Sonne schützten Vorhänge aus braunem Segeltuch, der Wind ließ sie lustig flattern, als ob er sie für Segel hielte. Der Fußboden aus Marmor; die Teile, die von den üppigen Teppichen nicht bedeckt wurden, glänzten wie Spiegel.

»Diesen Fußboden könnte man auch als Spiegel benutzen«, sagte Galileo.

»O, im Palazzo Priuli hat man das auch gemacht. Der Fußboden eines ihrer großen Säle besteht aus einem einzigen Stück Kristallspiegel, dazu eine Decke aus weißen Marmorkassetten mit goldenem Rand und Fresken von Tizian. Der Hausherr läßt seine Gäste oft erst Filzschuhe anziehen, wenn er ihnen diesen Saal zeigt. Es ist ganz lustig, über diesen Spiegel zu schreiten, besonders mit Damen; denn die raffen schreiend schnell ihre Röcke zusammen. Bitte, kommt nun hierher, hier sind wir schon in einer modernen Welt. Hier beginnen meine Gemächer.«

Ganz verwundert schritt Galilei einher.

»Ach, Luca della Robbia!«

»Ja. Ich habe es mir aus Florenz für teures Geld kommen lassen. Mein Vater war sehr ungehalten. Er mag die modernen Sachen nicht. Sein Maler ist Giotto. Wenn man ihm von den modernen Malern spricht, gerät er in Wut. Auf della Robbia ist er besonders schlecht zu sprechen, weil er der Meinung ist, daß man entweder ein Töpfer oder ein Bildhauer zu sein habe; beides zu vermengen aber sei eines Künstlers unwürdig. Vielleicht hat er recht. Ich habe aber dieses mächtige, zitronengelbe Kunstwerk sehr lieb. Bitte, wir sind am Ziel!«

Alle fünf Schritte stand ein sich tief verbeugender Diener vor ihnen. Im Falle eines Krieges hätte man ein ganzes Regiment allein von den Bedienten dieses Palastes aufstellen können. Bevor sie sich zum Mittagessen niedersetzten, rauchten sie noch eine Pfeife von einem hellgelben, haardünn geschnittenen Tabak, wie ihn Galileo noch nie gesehen hatte.

»Ich lasse ihn mir aus der Türkei kommen«, sagte Sagredo, »diese Sorte liebe ich am meisten.«

Zur Anregung des Appetits tranken sie einen spanischen Wein, der ganz ölig und fast schwarz war. Dann tauchten sie ihre Finger in eine Schüssel mit wohlriechendem Wasser und setzten sich zu Tisch. Das Mahl begann mit einer Grünzeugsuppe, Minestrone genannt. Als Fischgericht gab es Makrelen in Öl, dann servierte man einen ganzen Fasan. Über diesen Braten hatte der Koch kunstvoll das vollständige Gefieder gelegt und Schnabel und Krallen stark vergoldet. Zuletzt trug man eine Torte aus kandiertem Zucker auf, die ein Vogelbauer darstellte. Sagredo erbrach das Tortenbauer: drei Kanarienvögel flogen heraus.

»Barbaro, mein Koch«, sagte Sagredo gelangweilt, »kann solche Späße nicht unterlassen. Er macht dergleichen mehr zu seiner eigenen Belustigung als mir zuliebe. Heute früh habe ich ihm auch befohlen, ein ganz einfaches Mahl herzurichten, weil ich nicht wußte, daß ich einen so lieben Gast haben würde. Woran denken Euer Gnaden?«

»Darf ich aufrichtig sein?«

»Ich bitte darum.«

»Ich dachte über die Pracht nach. Über den Reichtum. Über das Geld.«

»Mit Recht!« nickte Sagredo. »Wie wir es hier in Venedig treiben, das grenzt an Wahnsinn. Der Senat bringt zwar alle Nasen lang ein Gesetz heraus, aber umsonst. Noch vor kurzem habe ich, als ich meinem Vater beim Ordnen von Schriftstücken half, all diese Gesetze gesammelt. Wir pflegen sie zu bündeln. Wißt Ihr denn überhaupt, was einem reichen Manne in Venedig alles verboten ist? Er darf zum Beispiel keinen Türklopfer aus purem Golde anfertigen lassen, darf auch keinen Säbel oder Dolch aus purem Silber oder Golde tragen. Auf dem Gebiete der Republik ist es verboten, das Zaumzeug der Pferde mit Edelsteinen zu besetzen. Bei Todesstrafe ist es untersagt, das ganze Schloß mit schwarzem Samt zu überziehen. Und so weiter. Und so weiter. Es bricht einem wirklich das Herz, wenn man sich überlegt, was diesen armen steinreichen Menschen alles verboten ist … Warum seht Ihr mich so eigentümlich an, Euer Gnaden? Weil ich die Reichen verspotte? Sicher. Ich verabscheue sie. Ich verabscheue auch mich selbst. Mein Vermögen gebe ich natürlich nicht den Armen, weil es so bequemer ist. Im Grunde genommen aber hasse ich das Geld. Das Geld hat mir schon einen großen Schmerz zugefügt.«

»Wieso?«

Sagredo zögerte. Dann entschloß er sich doch.

»Ich war sechzehn Jahre alt und verliebt. Die Betreffende war eine junge Witwe, und ich wollte sie heiraten. Ich hielt sie für eine Göttin und betete sie an. Jede Nacht ließ ich mich zu ihrem Palazzo rudern, meine Gondel an der untersten Stufe anlegen und küßte den Marmor, den ihre Füße betreten hatten. Dann ruderte ich wieder nach Hause. Ihre Hand habe ich nie in der meinen halten können. ›Nach der Hochzeit‹, pflegte sie stets zu sagen. Und ich sehnte mich nach ihr wie ein Wahnsinniger. Eines Nachts suchte ich eine Spielhölle auf. Zu meiner größten Überraschung fand ich auch sie dort. Sie kam von irgendeinem Fest mit einer größeren Gesellschaft. Sie begann zu spielen. Sie verlor. Sie nahm ihre Schmucksachen ab, auch die verlor sie. Dann wandte sie sich an mich, ich solle ihr ein Darlehen geben. Ich sagte ihr, ich würde es ihr nur unter einer Bedingung geben: wenn sie sofort die Meine würde. Diese Spielhölle war das Eliseo. Vielleicht habt Ihr schon davon gehört? Nein? Also kurz und gut, das Eliseo ist für dergleichen eingerichtet. Wir leben ja in Venedig. Und ohne zu zögern, erfüllte die Frau meine Bitte. Kurze Zeit darauf spielte sie schon wieder. Nun gewann sie auch. Seit dieser Zeit sprach ich nicht mehr mit ihr. Und ich werde nie heiraten. Heute sehe ich die ganze Angelegenheit natürlich mit anderen Augen, ich weiß sehr gut, daß so etwas in dieser Spielhölle ein alltäglicher Fall ist. Ich wiederhole: wir sind in Venedig. Aber damals habe ich es mir doch sehr zu Herzen genommen. In der Woche darauf habe ich drei Menschen im Duell erstochen.«

»Drei? Wie viele habt Ihr denn in Eurem Leben schon erstochen?«

»Insgesamt? Einen Augenblick … Acht!«

Galilei fuhr zusammen. Betroffen blickte er auf den blonden, feinen, gepflegten, wirklich liebenswürdigen jungen Mann.

»Ihr habt acht Menschen ums Leben gebracht?«

»Ja. Ist Euch das zuviel? Natürlich … Florentiner! Dort ist das Duell viel seltener. Hier bei uns sind acht kaum etwas. Wißt Ihr, für wie viele Menschenmorde der Papst dem Alfonso Piccolomini Absolution erteilt hat? Der gute Alfonso hat bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr dreihundertsiebzig Menschenmorde eingestanden. Deswegen wird er trotzdem in den Himmel kommen, weil er die Absolution in Form eines besonderen päpstlichen Breve erhielt. Auch jetzt halten sich drei solche Burschen in Venedig auf. Nehmt Euch in acht, wenn ihr ihnen begegnet. Der eine heißt Leonardo Pisaro, er fängt mit jedem Streit an. ›Was gaffst du?‹ fährt er einen harmlosen Fußgänger an. Der begehrt auf, es gibt Zank, Pisaro fordert ihn und sticht ihn nieder. Strafe gibt es nicht, denn den Duell-Kodex hält jeder ein. Der zweite ist ein guter Freund von ihm, Gabriele Morosini. Auch der fängt mit jedem Streit an und sticht ihn nieder. Der dritte ist ein Marchese aus der Lombardei, namens Annibale Perrone. Meidet diese drei wie giftige Schlangen. Wie steht es bei Euch mit dem Fechten?«

»Eine große Schande, aber ich verstehe nichts davon.«

»Wenn Ihr oft nach Venedig kommen wollt, und das möchte ich stark hoffen, dann müßt Ihr sofort fechten lernen!«

Galilei lachte.

»Meine Zeit läßt das nicht zu. Und nach Venedig komme ich sehr selten. Warum sollte ich auch?«

»Das kann man nie wissen. Irgendein schönes Mädchen …«

»Die findet man überall«, sagte der Gelehrte lächelnd, »und ich bin nicht besonders anspruchsvoll.«

»Gut, aber die Venezianerin ist ganz etwas anderes. Unsere Frauen unterscheiden sich von allen anderen Frauen auf dieser Welt. Alle vielgereisten Leute behaupten, daß es etwas Sinnverwirrenderes als die Venezianerin überhaupt nicht gebe. Ich habe das Leben wirklich zur Genüge kennengelernt, aber manchmal, bei irgendeiner großen Festlichkeit, regt sich doch etwas in meinem Blut, ich schnipse mit den Fingern und sage: Alle Achtung! Besonders seit der neuen Mode mit dem tiefen Kleiderausschnitt, der den ganzen Busen sehen läßt. Und mit welcher Durchtriebenheit ihn die Frauen bemalen! Schneeweiß das Ganze, die Knospen purpurrot! Man muß sich wirklich in der Gewalt haben, um nicht schwindlig zu werden. Ich kann nur sagen, ich hasse sie. Geht bloß einmal früh am Vormittag hier die hintere Straße entlang, wo sich die rückseitigen Balkone der Paläste des Canale Grande aneinanderreihen. Da könnt Ihr die Frauen der Reihe nach sehen …«

»Ich habe sie gesehen«, fiel Galileo lebhaft ein, »aber was tragen sie für Masken?«

»Das will ich Euch erklären. Daß seit Tizian rote Haare modern sind, wißt Ihr. Dieser Maler hat die ganze Republik verrückt gemacht. Jede Frau läßt ihr Haar rot färben. Das Haarfärben, müßt Ihr wissen, ist aber nur bei Sonnenschein wirksam. Sie setzen sich also in die Sonne und färben und bleichen ihr Haar. Auf ihre Gesichtshaut hinwiederum müssen sie achten. Deshalb legen sie auf ihr Gesicht ein Stück rohes Kalbfleisch. Wenn ich eine Frau so sehe, möchte ich am liebsten hinrennen und sie erwürgen. Weil ich weiß, daß sie damit nur anständige und ehrbare Männer quälen und leiden lassen will. Aber so ist eben das Leben, ich werde es nicht ändern können.«

Galilei sagten diese Geständnisse nicht viel. Wenn er auf seine vierunddreißig Jahre zurückblickte, fand er kein schmerzliches Erlebnis, das eine Frau verschuldet hätte. Den Teil seines Herzens, der zu wirklicher Liebe vielleicht fähig war, hatte schon frühzeitig ein Phantom gepackt und hielt ihn heute noch in seinen Krallen: die zauberhafte Erinnerung an Bianca Cappello. Deswegen konnte er den Frauen von seiner Seele nichts mehr geben. Sein Liebesleben war wie das Essen und Sattwerden eines Hungrigen, der nach einiger Zeit neue Nahrung braucht, die Frauen als solche ließ er nie in seine Gedanken eindringen. Diese Gedanken brauchte er für viel wichtigere, viel ernstere Dinge.

»Es wäre auch jammerschade, sie ernst zu nehmen«, fuhr Sagredo fort, als ob er auf die Gedankengänge seines Gastes eingehen wollte, »man muß auf der Welt überhaupt nichts ernst nehmen. Die wahre Wissenschaft ist: lachen können. Ich beherrsche sie Gott sei Dank. Schelmenstückchen machen mir Spaß. Wenn ich die nicht hätte, hätte ich mich vielleicht aus Enttäuschung schon selbst getötet, so aber bin ich irgendwie noch immer da. In den Büchern findet sich fortwährend etwas, was mich fesselt. Und manchmal gelingen meine Schelmenstreiche ganz glänzend.«

»Schelmenstreiche? Was für Schelmenstreiche?«

»Wollt Ihr ein Beispiel hören? Gut, ich will eins erzählen. Ich kenne einen Geistlichen, der immer nach den Frauen schielt; es ist wirklich zum Lachen. Ein häßlicher, beleibter Mann mit einem riesenhaften Kahlkopf, aber die Frauen glotzt er an, als ob er sie alle mit seinen Augen auffressen wollte. Er nimmt hier hinter unserem Palast in der Kirche San Felice die Beichte ab. Nun, dem also habe ich einmal einen Brief geschrieben. Ich habe ihm erzählt, daß ich eine verheiratete Frau sei, aber von sündhaften Begierden geplagt würde und ihn zu meinem Ratgeber erkoren hätte. Wegen meines vornehmen Ranges sei ich jedoch gezwungen, meinen Namen zu verschweigen. Er möge die Antwort in eine Spalte in der Mauer eines gewissen Hauses legen. Stellt Euch vor, er hat geantwortet! Er erteilte mir salbungsvolle Ratschläge, befragte mich aber eingehend, zu wem ich diese sündhafte Begierde hege. Ich schrieb ihm wieder und deutete ganz leise an, daß es sich um ihn handle. Abermals antwortete er. Auch heute stehen wir noch in Briefwechsel und schreiben uns die tollsten Liebesgeständnisse. Wenn wir uns auf der Straße begegnen und er geht in seinem andächtigen Hochmut an mir vorüber, so macht mir das ein königliches Vergnügen.«

»Sehr gut!«

»Seht Ihr. Ich finde immer etwas, womit ich mir die Zeit vertreiben kann. Kommt einmal zum Fenster!«

Er trat zu dem Fenster, das auf die Straße hinaus sah. Vereinzelt klopften Schritte der Fußgänger unten auf dem Pflaster, sonst war es still. Sagredo nahm Hartgeld hervor, wartete, bis eine mürrisch aussehende alte Frau unter dem Fenster vorbeiging und ließ den Soldo knapp hinter ihr fallen. Sofort blieb die alte Frau stehen. Sie befühlte ihre Taschen. Sie sah um sich, sie schüttelte den Kopf. Aus der Tasche ihres Unterrocks nahm sie eine gestrickte Börse heraus, zählte sorgfältig ihr Geld nach und schüttelte abermals den Kopf. Dann steckte sie die Geldbörse wieder weg. In diesem Augenblick ließ Sagredo noch ein Geldstück fallen. Verstört drehte sich die Alte um. Zu gleicher Zeit blieb auch ein Mann stehen.

»Ich habe es fallen gelassen«, sagte der Mann.

»Lügt nicht«, entgegnete das Mütterchen zornig, »ich habe bereits das zweite verloren. Daß Ihr es nicht aufhebt, wenn Ihr es findet; denn es gehört mir.«

»Redet Ihr nur«, rief der Mann und suchte eifrig weiter.

Die alte Frau erhob ihre Stimme. Wenige Minuten später machte sie ein derartiges Geschrei, daß die ganze Straße zusammenlief.

»Was sagt Ihr dazu«, lachte Sagredo, »ist das nicht köstlich? Manchmal lasse ich einen Geldbeutel an einem Faden hinunter, und wenn sich jemand danach bückt, reiße ich ihn schnell wieder hoch wie ein Angler.«

Galilei wollte erwidern, daß so etwas zweifellos recht unterhaltsam sei, daß aber jemand, der so große Fähigkeiten und einen so scharfen Verstand besitze, sich auch eine andere Art der Unterhaltung ausdenken könnte. Das wollte er sagen, aber sein Mund, den er schon zu einer Antwort geöffnet hatte, blieb stumm. Und sein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Angelockt durch den Lärm auf der Straße trat aus dem benachbarten Tor eine Frau. Und zwar Bianca Cappello selbst.

»Was habt Ihr?« fragte Sagredo überrascht.

»Diese … jene Frau …« stammelte Galilei, »wer ist das? … unerhört! …«

»Dieses hübsche rothaarige Mädchen? Sie heißt Marina Gamba. Warum?«

»Das ist einfach unglaublich, einem bleibt fast der Verstand stehen. Als ob sie aus dem unbekannten Grabe gestiegen wäre … Bianca Cappello …«

»Meint Ihr, daß sie ihr ähnlich steht? Ich erinnere mich an ein Bild der berühmten Bianca. Ja … wenn man sich sehr anstrengt, kann man vielleicht eine geringe Ähnlichkeit herausfinden, das will ich gar nicht leugnen. Aber warum regt Euch das so auf?«

»Ich muß dieses Mädchen unbedingt, und zwar sofort kennenlernen. Ach, jetzt ist sie wieder verschwunden! Wer ist das? Um Gottes willen, wer ist das?«

»In diesem Hause wohnt ein verarmter Adeliger namens Gamba, und das ist seine einzige Tochter. Ein ganz hübsches Mädchen.«

»Ganz hübsch? Bezaubernd!«

»Da haben wir es, die Venezianerin! Ich habe es doch gesagt, nicht wahr? Habe ich nun recht?«

»Das weiß ich nicht, aber dieses Mädchen muß ich unbedingt kennenlernen. Könnt Ihr mir nicht helfen? Mein ganzes Leben bin ich Euer dankbarer Sklave, wenn Ihr mir hier helft.«

»Aber, aber, in Venedig ist es nicht so schwer, ein Mädchen kennenzulernen. Wenn Ihr jedoch in diesen Dingen keine Erfahrung habt, so will ich Euch gerne behilflich sein. Ich kenne Gamba nämlich. Ein komischer, schrulliger Mensch. Er ist dauernd mit alten Geschichtsbüchern über Venedig beschäftigt. Halt, ich weiß … das wird ganz gut gehen. Ich werde ihm schreiben, daß ich einen hervorragenden gelehrten Bekannten habe, der alte Daten von Venedig benötigt, und den möchte ich vorstellen. Noch heute schreibe ich ihm.«

»Könnte man ihm nicht … eine Nachricht zukommen lassen … vielleicht gleich jetzt?«

Sagredo lachte und hob die Schultern. Er griff nach der Klingelschnur und läutete. Sogleich trat ein Diener ein.

»Petruccio, du gehst zu Messer Gamba und fragst ihn, ob er mich und Seine Gnaden, den Gelehrten Galilei aus Padua, in einer wissenschaftlichen Angelegenheit empfangen würde. Dringend.«

Aus dem Fenster blickten sie dem Diener nach, der unter dem gegenüberliegenden Tor verschwand und nach kurzer Zeit zurückkam. Galilei konnte es vor Ungeduld nicht erwarten und lief dem Diener bis in das Treppenhaus entgegen.

»Messer Gamba wird sich den Besuch als eine hohe Ehre anrechnen.«

»Also, gehen wir!« sagte Sagredo, der inzwischen nachgekommen war. »Und ich erkläre Euch nochmals, daß ich recht haben werde mit dem, was ich von der Venezianerin sagte. Lernt sobald als möglich fechten; denn nun werdet Ihr oft nach Venedig kommen.«

»Ihr wißt nicht«, entschuldigte sich Galileo, als sie die Treppe hochstiegen, »was dieses Mädchen für mich bedeutet. Eine lange Geschichte ist das. Ich kann es Euch nicht erklären. Mir ist ein Wunder geschehen. Wie in der Heiligen Schrift: › Et verbum caro factum est.‹ Und das Wort ward Fleisch. Ich sündige nicht gegen die Heilige Schrift. Das, was jetzt mit mir geschieht, ist für mich heilig.«

Sagredo blickte ihn sonderbar an und lächelte nachsichtig. Nach einer kleinen Weile traten sie in die Wohnung ein. Ein hinkender alter Mann kam ihnen entgegen. Man stellte sich in der üblichen zeremoniellen Weise einander vor. Das Mädchen war nirgends zu erblicken.

»Unser großer und hervorragender Gelehrter«, log Sagredo leichthin, »wandte sich mit der Bitte an mich, ihn mit jemandem zusammenzubringen, der die Geschichte des alten Venedig kennt, da er die Geschichte der mathematischen Wissenschaft in Venedig schreiben will, und dazu eine ganze Reihe von Angaben benötigt. Ich glaube, ich hätte mich an keinen würdigeren und keinen gelehrteren Mann wenden können als an Euch, Messer Gamba.«

Über diese Ehrung ganz beglückt, nickte der alte Mann einige Male hintereinander lebhaft mit dem Kopfe.

»Unter meinen Aufzeichnungen werden sich sicherlich auch solche finden. Ich habe eine Unmenge von Aufzeichnungen, mehrere Tausend. Niemand besitzt so viele. Gerade jetzt habe ich das Wort › Liago‹ aufgeschrieben. Euer Gnaden wissen wahrscheinlich nicht, was › Liago‹ heißt. An den alten venezianischen Häusern war das ein erkerartiger Vorbau, meistens auf der Südseite des Hauses. Ich kenne tausenderlei derartige Sachen. Ich werde aus meinen Aufzeichnungen alles hervorsuchen, was sich auf Mathematik bezieht. Viel wird es möglicherweise nicht sein, aber irgend etwas wird sich schon finden. Daran erinnere ich mich zum Beispiel ganz genau, daß in Italien Serenissima als erste die Algebra öffentlich lehren ließ. Schon im vergangenen Jahrhundert besaßen wir einen mathematischen Lehrstuhl. Von alledem werde ich aber genaue Angaben besorgen.«

Verstört saß Galilei auf seinem Platze und räusperte sich – ohne jeden Grund. Er hätte sich am liebsten umgesehen, ob das Mädchen sich nicht in dem anderen Zimmer aufhielt, aber er befürchtete, daß das auffallen könnte. Die Unterhaltung führte Sagredo mit der gewandten Sicherheit des Weltmannes. Und er war es auch, der im natürlichsten Ton von der Welt um die Erlaubnis bat, sich ein Glas Wasser holen zu dürfen, er sei durstig.

»Um keinen Preis lasse ich zu, daß Ihr aufsteht«, sprach Gamba und rief laut: »Marina! Gäste sind da! Bringe gleich ein Glas Wasser!«

»Ich bin sofort fertig!« antwortete eine süße Stimme.

Sie machte sich also zurecht. Herren waren als Gäste gekommen, es schickte sich, daß sie in entsprechendem Staate erschien. Galileis Herz pochte fast hörbar. Eine starke Befangenheit würgte seine Kehle. Die beiden anderen unterhielten sich lebhaft, er aber verstand davon kein einziges Wort. Endlich nahten leichte Schritte. Er erhob sich. Und stand dem Wunder gegenüber. Das Mädchen machte einen tiefen Knicks, und auch er verbeugte sich. Sagredo plapperte ununterbrochen weiter. Sie sahen einander in die Augen. Marinas Augen waren blau wie das Meer, genau wie einst Biancas Augen. Die beiden Gestalten, das Traumbild und das in der Wirklichkeit lebende, vor ihm stehende junge Mädchen schmolzen in eins zusammen.

»Ich bringe sofort Wasser«, flüsterte Marina.

Sie schwebte hinaus und kam bald wieder zurück. Galilei begleitete mit sehnsüchtigem Blick jede ihrer Bewegungen. Und diese ganze Sehnsucht, die er bisher dem Phantasiegebilde Biancas gegenüber unterdrückt hatte, brach jetzt, alle Dämme niederreißend, in ihm auf. Er hatte das Gefühl, daß er um den Besitz dieses Mädchens Menschen ermorden könnte. Acht wie Sagredo oder gar dreihundertsiebzig wie Alfonso Piccolomini.

Sagredo hatte es so eingerichtet, daß der erste Besuch nur kurz sein sollte. Sie vereinbarten, daß Galileo in einigen Tagen abermals seine Aufwartung machen würde. Bis dahin wollte Gamba die in seinem Besitz befindlichen mathematischen Angaben bereits herausgesucht haben. Damit verabschiedeten sie sich.

»Ich bitte um Vergebung, daß ich hinke«, sagte der Hausherr, während er seinen Gästen das Geleit gab, »ich habe damals bei Lepanto eine Kugel bekommen.«

Galilei hörte nicht hin. Erst als ihn Sagredo heimlich in die Seite stieß, wurde es ihm bewußt, daß es sich schickte, über diese Heldentat einige bewundernde Worte zu sagen. Er sah nur das Mädchen. Auch als er die Treppen hinabstieg, mit geschlossenen Augen, sah er immer nur das Mädchen. Er stolperte und wäre beinahe gefallen.

Auf der Straße blieb er stehen wie ein Nachtwandler.

»Was soll jetzt werden?« murmelte er vor sich hin.

»Was soll schon werden«, entgegnete Sagredo, »der alte Gamba steckt vormittags immer in den Bibliotheken. Paßt es doch ab, wenn das Mädchen allein zu Hause ist und besucht sie am Vormittag. Gleich morgen. Dann führt Ihr sie am Lido spazieren, nehmt sie abends mit zur Serenata am San Giorgio. Aber was erkläre ich überhaupt soviel? Die Hauptsache ist, daß Ihr sie sofort duzt. Das haben die Mädchen sehr gern.«

»Duzen«, wiederholte Galilei erschrocken, »das ist so eine Sache für sich. Mit einem jungen anständigen Mädchen aus gutem Hause habe ich noch nie etwas zu tun gehabt. Das Beste wäre, wenn ich sie noch heute abend heiraten würde.«

Das raunte er nur vor sich hin und winkte gleich selbst ab. Seine Schuld an den Schwager war noch nicht beglichen, seinem Bruder mußte er auch immerzu Geld schicken, und Livia sollte noch dieses oder spätestens nächstes Jahr heiraten. Er konnte schon zufrieden sein, wenn der Verkauf der Proportionalzirkel es ihm möglich machte, von nun an öfters nach Venedig zu kommen.

Sagredo winkte heimlich einen Knaben heran:

»Höre einmal, Junge, hier hast du einen Soldo und schreie diesen Herrn hier an, wir möchten nun endlich weitergehen. Aber schreie ihm kräftig in die Ohren; denn er ist stocktaub.«

Galilei fiel fast um, als der Knabe sich an ihn heranschlich und ihm aus Leibeskräften ins Ohr schrie. Alle seine Nerven bäumten sich vor Schmerz auf. Er wollte seinem Freund wegen dieses schlechten Scherzes zwar höflich, aber nachdrücklich Vorwürfe machen. Sagredo aber deutete stumm zu einem Fenster hinauf. Galilei blickte empor, den Bruchteil einer Sekunde sah er noch die roten Haare. Als sie sah, daß auch die beiden Männer sie beobachteten, verschwand das neugierige Mädchen sofort, – wie der Traum beim Erwachen.


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