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Es war schönes Frühlingswetter. Im mittäglichen Sonnenschein ließ sich's gut im Freien sitzen. Galileo hatte einen Tisch auf die Veranda getragen und schrieb dort einen Brief. Er mußte sich viel Mühe geben, denn erstens war in diesem Brief von einer wissenschaftlichen Frage die Rede, die auch ihn lebhaft beschäftigte, und zweitens war der Empfänger niemand anders als Giacomo Contarini, derselbe, der ihm geholfen hatte, den Riformatore Contarini zu entwaffnen.
»Mein erlauchter Herr! Durch den Herrn Gianvincenzo Pinelli kam mir die von Euch gestellte Frage zu Ohren. Ich will Ihnen meine Ansicht darüber mitteilen. Es handelt sich um folgendes: Wie kann man eine Galeere im Wasser mit größerer Kraft vorwärtstreiben? Wenn man die Ruderer im Inneren des Schiffes, oder wenn man sie auf Deck unterbringt? Meiner Meinung nach ist das einerlei; denn das physikalische Kräfteverhältnis ist in beiden Fällen das gleiche. Das Ruder muß im physikalischen Sinne als Hebel angesehen werden. Wenn das Verhältnis zwischen den Kräften des Widerstands und des Auftriebs das gleiche ist, so bleibt die Wirkung des Hebels auch dieselbe. Das ist ein allgemeingültiger Satz, an dem sich nicht rütteln läßt …«
Da erklang von drinnen Gitarrenspiel. Der mit dem Ruderproblem beschäftigte Gelehrte horchte auf. An diesen Ton hatte er sich noch immer nicht ganz gewöhnt. Sein Bruder Michelagnolo wohnte seit kurzem bei ihm in Padua. Daheim waren die Verhältnisse immer unerquicklicher geworden, die Familienmitglieder lebten in ständigem Krieg miteinander. Der Schwiegersohn hielt es mit der streitsüchtigen Schwiegermutter nicht aus, aber auch die im Hause gebliebenen Kinder konnten es kaum noch ertragen. Inzwischen hatte auch die zweite Tochter geheiratet, Anna, die im Familienkreise Lena genannt wurde. Die dritte Tochter, Livia, hatte sich in das Kloster San Giuliano zurückgezogen, um dort in Ruhe und Frieden lernen zu können. So war Michelagnolo mit seiner Mutter allein geblieben, aber sie vertrugen sich auch nicht. Galilei fand keine andere Lösung, als den Jungen zu sich zu nehmen. Mochten sich die beiden Frauen mit der Mutter plagen; mochten sie darüber streiten, zu welcher von den beiden Frauen die Alte ziehen sollte.
Michelagnolo war inzwischen achtzehn Jahre alt geworden. Sein Schnurrbart und sein Backenbart sproßten schon. In den letzten Jahren hatte Galileo ihn nur selten gesehen, und der Junge war ihm fast fremd geworden. Neugierig suchte er nun an ihm, in seinem Inneren und im Äußeren, das Erbteil der Familie, die Eigenschaften der Eltern. Sonderbarerweise war Michelagnolo aber ganz anders als die Eltern geraten. Nur ein einziger Galileischer Zug war an ihm erkennbar: die musikalische Begabung des Vaters. Sonst schien er sowohl seinem Äußeren als auch seinem Wesen nach aus einer anderen Familie zu stammen. Er war beträchtlich kleiner als sein Bruder, hatte helleres Haar, sein Körper war schmächtiger, in seinem Verhalten war er eher abweisend als mitteilsam. Beweise von Zuneigung zu geben oder zu empfangen, lag ihm nicht. Eigentlich wußte man nie recht, was in ihm vorging. Als ihm Galileo auseinandersetzte, daß unter den zahlreichen Fremden, die nach Padua kamen, manche auch gerne Musikunterricht nehmen würden und daß der Jüngling dadurch zum Haushalt seines Bruders beitragen könne, nahm er das recht gleichmütig zur Kenntnis. Galilei hatte ihm auch wirklich einige Schüler verschafft, und Michelagnolo erteilte seinen Unterricht recht gewissenhaft, unternahm aber von sich aus nichts, um neue Schüler zu gewinnen. Als er seine ersten Unterrichtsgelder erhielt, behielt er viel mehr für sich, als er verrechnete. Er betrog den Bruder. Galileo erkannte diesen Betrug sofort, brachte ihn aber nicht zur Sprache. Er stritt sich zwar gern und liebte es, in diesen Debatten zu siegen, aber hier lockte ihn der Sieg im Wortgefechte nicht. In seinem Herzen hatte er einen kindlich empfindsamen Winkel, in dem er die Anhänglichkeit zu den Seinen verwahrte wie viele Männer, die die Glut großer Liebeserlebnisse nicht kennen und in ihrer Sehnsucht nach Wärme Entschädigung bei der Familie suchen. Er drückte ein Auge zu und ging behutsam der Notwendigkeit aus dem Wege, den Jungen zur Verantwortung zu ziehen und ihn auszuschelten.
Michelagnolo war ein hochbegabter Musiker. Es war ihm ganz gleich, welches Instrument er in die Hand bekam. Mit der gleichen Geschicklichkeit spielte er Flöte, Gitarre, Violine, Gambe. Und jetzt, wo die Brüder zusammenlebten, fand auch Galileo Gefallen an dem gemeinsamen Musizieren. Wenn er seiner Studien müde war, setzte er sich mit Michelagnolo zusammen und machte mit ihm Musik. Galileo liebte die alten Melodien seiner Jugend, besonders die Schelmenlieder mit ihren heiter-sinnigen Texten. Er zupfte die Laute zum Violinspiel des Bruders und sang gutgelaunt den Text dazu. Er selbst spielte auch recht gut, und es kam oft vor, daß die Fußgänger draußen auf der Straße stehenblieben und das Konzert genossen.
Manchmal erklangen die Instrumente seines Bruders aber auch, wenn er über ein ernstes Problem sann. Gute Musik hätte ihn nicht gestört, die kläglichen Übungen der Anfänger brachten ihn aber manchmal ganz aus dem Gleichgewicht. Einsprüche erheben konnte er nicht; denn Michelagnolo hätte die Gelegenheit allzugern benutzt, das lästige Unterrichten aufzugeben, selbst gegen Preisgabe des Stundenlohnes. In solchen Fällen brach Galileo seine Arbeit ab und suchte sich eine andere Beschäftigung, die weniger Konzentration erforderte. Auch jetzt, als er an Giacomo Contarini schrieb, gab er sich vergebens Mühe, auf das Winseln nebenan nicht zu achten. Er seufzte, erhob sich, ging ruhelos hin und her, nahm endlich seinen Hut und sagte der Magd, er wolle eine Stunde spazierengehen.
Er brauchte nicht weit zu gehen, denn schon mit wenigen Schritten war er im Botanischen Garten. Das war das Reich seines Kollegen Cortusio, des Botanikers. Die Großzügigkeit der Serenissima hatte vor ungefähr fünfzig Jahren diesen Garten für die Botaniker der Universität anzulegen gestattet, und die einstigen kleinen Sträucher hatten sich seitdem zu weitausladenden, mächtigen Bäumen entwickelt.
Im Botanischen Garten stand eine Bank am Fuße einer hervorspringenden Bastei der alten Festungsmauer. Diese Bank liebte Galilei besonders. Wenn er des Umhergehens müde war, ließ er sich hier nieder, lehnte sich mit gespreizten Beinen nach hinten, schloß die Augen und ließ sein Gesicht von der Sonne bescheinen. Und während er müßig dazusitzen schien, arbeitete er angestrengt. Er plante ein neues Werk über Mechanik. Es sollte nicht sehr umfangreich werden und er wollte es ganz nach seiner eigenen Lust und Laune ausgestalten. Er beabsichtigte, noch in diesem Jahre sein Kolleg über die elementare Geometrie des Euklid und über die Sphären abzuschließen und im nächsten Jahr Mechanik vorzutragen. Da wollte er aber nicht den Euklid und Ptolemäus sklavisch kommentieren, sondern seine eigene, selbständige Galileische Mechanik vortragen.
Mit der Einleitung war er schon fertig. Jetzt überdachte er sie hier auf der Bank noch einmal.
»Bevor wir über die Einteilung der mechanischen Instrumente reden, müssen wir uns vor Augen führen, welche Vorteile uns diese Instrumente bieten. Das zu untersuchen ist um so wichtiger, als wir sämtliche Mechaniker der Welt in einer Täuschung befangen sehen, indem sie unmögliche Aufgaben mit Hilfe von Maschinen zu lösen vermeinen. Sie haben sich von jeher getäuscht und täuschen sich heute noch, wenn sie sich einbilden, man könne mit einer geringen Kraft die größten Gewichte heben.
Sie wollen im Grunde die Natur betrügen, deren festes Prinzip es ist, daß man keinen Widerstand mit einer geringeren Kraft als dieser Widerstand überwinden kann. Ich hoffe, in meinen weiteren Erörterungen vollkommen klar beweisen zu können, wie falsch diese Vorstellung ist.«
Denn nicht nur Aristoteles hat sich geirrt, sondern auch Archimedes. Archimedes hat den Flaschenzug erfunden. Was ist dieser Flaschenzug? Man stelle sich einen Maurer vor, der auf dem Gerüst eines im Bau befindlichen Hauses steht und herunterschreit. Es gilt, einen großen Marmorblock hochzuwinden. Am Gerüst hängt die Rolle, über die das Seil hinwegläuft. An dem einen Ende des Seiles hängt der Marmorblock, das andere Ende halten die Arbeiter. Sie ziehen an dem Seil, indessen sich auf der anderen Seite der Marmorblock hebt. Archimedes läßt nun das Seil mit einem Ende an der oberen Rolle befestigen und dann so sinnvoll über zwei weitere Rollen laufen, deren Durchmesser immer größer werden, daß dadurch die Rollen einander heben und schließlich den Marmorblock, der am unteren Rollenzuge befestigt ist, emportragen. Plutarch schreibt, Archimedes habe in seinem Freudenrausch über diese Entdeckung ausgerufen:
» Dos moi pu sto kai ten gen kineso!«
Das heißt: »Gib mir einen Stützpunkt und ich rücke die Erde vom Fleck!« Er hatte sich nämlich vorgestellt, daß er, wenn er sein Schneckensystem irgendwo außerhalb der Erde befestigen und an diesem Schneckensystem die Erde aufhängen könne, dann durch eine fortlaufende Reihe von tausend und aber tausend Rollen mit seinem kleinen Finger die Erde würde aus den Angeln heben können. Bislang hatte jedermann hoch und heilig geglaubt, daß dem wirklich so sei. Archimedes hat es gesagt, also ist es so, Zweifel sind ausgeschlossen. Plötzlich beginnt in Padua ein kühner junger Mann nachzudenken und behauptet, das sei unmöglich. Etwas zu heben bedeutet soviel, wie den Widerstand eines Gewichts überwinden. Das Gewicht verkörpert eine gewisse Kraft. Der natürliche Verstand besagt, daß zur Überwindung dieser Kraft zumindest eine gleich große Kraft erforderlich sei. Um von acht auf Null zu kommen, muß man acht abziehen, und mit keinerlei Experimenten läßt sich erreichen, daß man von acht nur eins abzuziehen braucht und trotzdem Null erhält.
Der Fehler liegt in der Unwahrheit der Begriffe. Die Wissenschaft sagt: »Gewicht«, sagt: »Kraft«, sagt: »Bewegung«. Einwandfrei werden diese Begriffe jedoch nicht definiert. Lauter Mißverständnisse, lauter Nebel, lauter Doppelsinnigkeiten. Hier muß etwas geschehen. Man muß das ganze bisherige mechanische System umwerfen und an seine Stelle auf neuer Grundlage ein neues System errichten, das klar, zuverlässig und unmißverständlich ist. Er hat sich lange darüber den Kopf zerbrochen. Und während er in sich versunken über den geheimnisvollen Trieb, der die Körper immer wieder zur Erde zieht, grübelt, gestaltet er in sich den neuen Begriff des »Moments«.
»Was ist dieses Moment? Moment nenne ich das Bestreben«, antwortet der bereits formulierte zweite Satz der geplanten Schrift, »wodurch jeder Körper nach unten gezwungen wird.« – »Wieso?« könnte jemand fragen, »ist es denn nicht viel einfacher, dieses Bestreben ohne weiteres als die Schwere, als das Gewicht des Körpers zu bezeichnen?« – »Nein«, erwidert der Bahnbrecher der neuen Mechanik, »denn was geschieht, wenn ein kleines Kind und eine dicke Amme auf einer Wippe schaukeln? Die eine Seite der Wippe ist länger als die andere. Auf dem kürzeren Ende sitzt die Amme, auf dem längeren Ende das Kind. Die Amme schwebt oben in der Luft, und das kleine Kind wippt nach unten. Das Gewicht der Amme ist größer als das des Kindes. Aber ihr Moment ist kleiner.«
Und wenn er dann an mehreren Beispielen die Bedeutung des Moments erörtert hat, wird er das Problem des Schwerpunktes aufwerfen, das er seit langen Jahren nicht nur in sich trägt, sondern bereits so gründlich ausgearbeitet hat, wie bislang keiner vor ihm. Welch schöner Satz: »Wenn zwei Kräfte im Gleichgewicht stehen, so verhalten sie sich umgekehrt wie die entsprechenden Momente.« Es wird ein außerordentlich klares, anregendes kleines Buch werden; es wird den Archimedes und alle alten Lehren der Mechanik widerlegen, es wird die ganze Welt der Wissenschaft samt Archimedes und den Peripatetikern aus den Angeln heben.
Endlich kehrte er aus seiner Gedankenwelt wieder in die Gegenwart zurück. Er streckte und dehnte sich und stand auf. Unter Palmen, die aus fernen, unbekannten Ländern hierher verpflanzt waren, trat er den Heimweg an. Er war fröhlich und zufrieden. Am Tore begegnete er Cortusio, dem Professor der Botanik.
»Was gibt es Neues, lieber Freund? Gehen wir spazieren, immer spazieren?«
»Ja, ich habe hier im Garten ein wenig nachgedacht. Und ich habe auch allerhand erledigt.«
»Und das wäre?«
»Erstens habe ich die Welt aus ihren Angeln gehoben und dann das Perpetuum mobile erfunden!«
Cortusio lächelte nachsichtig. Dieser junge Kollege machte immer solche Späße. Er unterschied sich eigentlich kaum von seinen älteren Schülern. Daher auch seine große Beliebtheit.
Meister Cortusio nickte und schritt weiter.
Im Hause Galileis hatte das Gewinsel mittlerweile aufgehört, der Schüler war fortgegangen. Der gedeckte Tisch erwartete die beiden Brüder.
»Gibt es etwas Neues?« fragte Galileo, während er nach der dampfenden Suppenschüssel griff.
»Und ob«, antwortete Michelagnolo, »etwas Großes. Unser Florentiner Nachbar, der Radmacher, war hier.«
»Warum hast du mich da nicht aus dem Botanischen Garten zurückholen lassen? Was hat er erzählt?«
»Unsere Schwester Virginia hat ein Kind bekommen.«
»Was du nicht sagst! Einen Knaben oder ein Mädchen?«
»Einen Knaben. Sie haben ihn Vincenzo getauft.«
»Nach unserem armen Vater. Das erste Enkelkind hat er nicht mehr erleben können. Haben sie denn dem Radmacher keinen Brief mitgegeben?«
»Nein. Aber noch eine andere Nachricht. Lena wird auch ein Kind bekommen! Ihr Mann ist in Geschäften nach Spanien gereist, und sie ist jetzt allein mit der Mutter. Sie hält es mit ihr nicht aus. Die vielen Aufregungen können ihrem Zustand schaden. Virginia kann sie jetzt nicht aufnehmen, weil sie das Kleine hat, Lena wäre dort nur im Wege. Und dann weißt du ja, daß Schwager Benedetto uns jeden Bissen im Munde nachzählt. Kurz und gut, Lena käme gern hierher, weil sie auch dich sehen möchte und sich hier von den vielen Aufregungen zu Hause erholen könnte.«
»So. Ich würde mich sehr freuen, wenn sie käme. Aber haben wir Platz für sie?«
»Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen; denn es gibt noch etwas Neues.«
»Nun? So sprich doch!«
»Ich habe mich wieder lange mit diesem Polen unterhalten, dem. ich jetzt Stunden gebe. Ich erzählte dir schon neulich, was er alles von dem Musikleben in Polen zu berichten weiß. Heute habe ich ihn einmal gründlich ausgefragt. Die Musiker führen dort ein großartiges Leben. Es gibt dort sehr viele Herzöge, Grafen und ähnliche vornehme Herrschaften; sie haben unglaublich große Güter, manches ist dort so groß wie hier in Italien ein Herzogtum. Mitten in riesigen Urwäldern stehen ihre prächtigen Schlösser. Jeden Tag Gesellschaft, natürlich mit eigener Musikkapelle, und lustiges Leben. Aber auch in Krakau oder in anderen großen Städten haben sie ihre Paläste, um jederzeit auch in der Großstadt leben zu können. Auch dort gibt es immerfort Unterhaltungen, Theateraufführungen, Paraden und Maskenbälle. Sie lieben die Musik außerordentlich und wenn sie betrunken sind, dann schmeißen sie den Musikern ihre vollen Börsen hin …«
Von seinen bunten Traumbildern ganz hingerissen, bewegte Michelagnolo den Kopf hin und her.
»Denkst du vielleicht …« fiel Galileo zögernd ein.
»Ich denke«, unterbrach ihn der Bruder gleichfalls ein wenig zaghaft, »daß man schon einige Empfehlungsschreiben von den hiesigen Polen erhalten könnte. Am Bo studieren ja recht viele und lauter vornehme, junge Leute. Ich möchte nach Polen, um mein Glück zu versuchen. Ich brauchte nur … wenn ich ein bißchen Reisegeld … wenn vielleicht du …«
»Natürlich, natürlich«, seufzte Galileo, »ohne einen Soldo kannst du nicht gut reisen. Na, ich will's mir überlegen. Einstweilen schreibe ich Lena, daß du von hier fort willst, und daß sie, wenn das glückt, deinen Platz hier einnehmen kann.«
»Das wäre großartig! Und weißt du, was dieser Pole noch erzählt hat? Ihr König Sigismund schwärmt für Musik und, wenn ich nur ein wenig Glück hätte, könnte ich auch in das königliche Orchester kommen. Stelle dir nur vor, jeden Tag essen sie Suppe aus roten Rüben und trinken einen sehr starken Branntwein dazu …«
Michelagnolo hätte noch viel von dem Märchenland Polen berichtet, aber Galileo unterbrach ihn:
»Ich habe bis heute noch nie mit dir darüber gesprochen, mein lieber Bruder, aber weil du nun von selbst dazu gekommen bist, müssen wir die Sache einmal gründlich erörtern. Es wäre in der Tat sehr wichtig, wenn du dir eine gute Stellung schaffen könntest, um dir dein Brot zu verdienen. Mit Lenas Ehe haben wir keine Scherereien, aber mit Virginia um so mehr. Die Bürgschaft für die rückständige Mitgift Virginias hast du mit unterzeichnet. Ich allein kann die Ausgaben nicht mehr alle bestreiten. Du kannst ja mit eigenen Augen sehen, in welchem Elend ich lebe. Aber trotzdem werde ich dir das notwendige Reisegeld beschaffen und wenn ich es aus der Erde scharren müßte. Geh' du nach Polen. Der liebe Gott möge dich beschirmen. Und schicke Geld nach Hause, je mehr, um so besser. Denn bedenke, Livia ist nun auch schon über fünfzehn Jahre alt, über Jahr und Tag müssen wir auch sie verheiraten. Und unsere Mutter muß sich dauernd um das Geld quälen. Wenn du eine gute Stellung bekämst, wäre es ein Gottessegen für uns alle.«
»Ach ja, das wäre sehr schön! Dort ist es sehr kalt, die Herren fahren in Schlitten. Denke dir, den Pferden binden sie Glöckchen um …«
»Ja, ja. Also, ich will mich nach Geld umsehen.«
Er sah sich scheu um, aber ohne Erfolg. Die polnischen Studenten waren mit Empfehlungsschreiben sehr freigebig, aber von niemandem war Geld zu beschaffen. Dem einzigen, den er darum hätte bitten können, war er bereits etwas schuldig. Michiel hatte er von den zweihundert Goldstücken noch kaum etwas zurückgezahlt. Pinelli war er schon dreimal angegangen und hatte auch Geld von ihm erhalten, aber gerade diese Schulden drückten ihn so sehr, daß er es nicht fertigbrachte, jetzt zum vierten Male einen noch größeren Betrag zu erbitten. Das Geld wollte er aber unter allen Umständen beschaffen. Voller Sorgen ging er tagelang umher. Hundertmal fiel ihm der Marchese del Monte ein, aber immer wieder wies er diesen Gedanken von sich. Von jedem, nur von dem Marchese nicht! Der hatte ihn stets so sehr verehrt, so sehr als »Herrn« behandelt, daß er sich zu Tode schämen würde, wenn er gezwungen wäre, sich an diesen zu wenden.
Die Lösung brachte Cremonini, der rechtschaffene Professor der Philosophie und überzeugte Peripatetiker, sonst aber ein guter Mensch und vorbildlicher Kollege. Seit Jahren schon hatte er sich ein wenig Geld gespart, um sich einen Weingarten zu kaufen. Jetzt hatte er ihn gekauft, brauchte den Kaufpreis aber nicht auf einmal zu bezahlen; die nächste Rate war erst im August fällig. Als Cremonini aus dem mathematischen Kollegen das Geständnis seiner Not herausgepreßt hatte, trug er ihm ein Darlehen von fünfzig Scudi an. Galileo dankte mit freudiger Rührung. Michelagnolo machte sich in fiebernder Hast reisefertig und fuhr noch am Tage darauf ab. Von seinem Bruder verabschiedete er sich nur leichthin, seine Gedanken waren längst in dem zauberhaften Märchenlande, wo betrunkene Herzöge den Musikanten kleine Vermögen vor die Füße warfen.
Zu gleicher Zeit kam Lena an, die zweite Schwester. Ihr Mann war Tuchhändler wie der selige Vincenzo Galilei. Er befand sich jetzt auf einer weiten Auslandsreise und ließ seine Gattin als magere, verblühte, aus der Form ihrer herrlichen Jugend geratene Frau zurück. Galileo begrüßte sie mit überschwenglicher Freude. Am ersten Abend, bei Tisch, tätschelte er ihre Hand und fragte zärtlich:
»Bist du glücklich mit deinem Mann, Lenuccia?«
»Natürlich, sehr glücklich!«
Das sagte sie aber mit einer gewissen Scheu und einer so kalten Zurückhaltung, daß Galileo seine Erkundigungen scheu einstellte, wie eine Schnecke ihre Hörner zurückzieht. Dann versuchte er, sich seiner langentbehrten Schwester auf einem anderen Wege zu nähern. Er erzählte ihr von seiner Lehrtätigkeit, von der Organisation des Bo, dem Kampf mit den Jesuiten und zeigte ihr stolz seine Ernennungsurkunde, in der klar und deutlich zu lesen stand, daß die venezianische Signoria auf den vier Jahre lang unbesetzt gewesenen Lehrstuhl des großen Moletti »Herrn Galileo Galilei als den hervorragendsten in diesem Fach« berufen habe. Lena hörte das alles freundlich lächelnd an, auf ihrem Gesicht stand aber deutlich geschrieben, daß ihre Gedanken ganz woanders weilten. Sie blieb kalt und unnahbar. Nach einigen weiteren schüchternen Versuchen gab Galileo seine Bemühungen auf. Die Geschwister blieben sich fremd. Lena kümmerte sich nicht einmal um den Haushalt, weil sie sich mit Rücksicht auf ihren Zustand schonte. Sie ging aus und ein wie ein fremder Gast und mehr als einmal ließ sie sich das Essen auf ihr Zimmer bringen, weil sie sich nicht wohl fühlte.
So kam der Schluß des Unterrichtsjahres heran. Galileo wollte seine Mutter sehen; denn so sehr er unter ihrer fürchterlichen Natur gelitten hatte, seine zärtlichen Gefühle für sie wurden durch diese Erinnerungen nicht getrübt. Die vielen scheußlichen Auftritte hatte er vergessen, und nur die Zuneigung und Anhänglichkeit des einstigen kleinen Knaben war in ihm lebendig geblieben. Er schrieb nach Hause, daß er seine Ferien in Florenz verbringen wolle und wie sich dies am besten einrichten ließ.
Frau Giulia ließ lange auf Antwort warten. Dann schrieb sie: »Sagt Lena, daß sie zunehmen solle, aber nicht zum Schaden ihres Kindes.« Und von Michelagnolo: »Daß Ihr, mein Herr, ihn nach Polen geschickt habt, gefällt mir ganz und gar nicht.« So schrieb sie von dem Knaben, der ihretwegen das elterliche Haus verlassen hatte! »Aber dann beruhigte ich mich, weil ich mir denke, daß Ihr, mein Herr, ihn sicherlich nicht dorthin geschickt hättet, wenn es mit Gefahren verbunden gewesen wäre; denn ich weiß, daß Ihr ihn liebhabt.« Endlich kam sie auch auf Galileos Ferienreise. »Ich kann nicht verschweigen, wie es hier Tag für Tag zugeht. Aber wenn Ihr so kommen wollt, wie ich es mir denke, dann würde ich mich außerordentlich freuen. Ihr müßt nämlich gut ausgerüstet kommen; denn Benedetto fordert das Seine, und droht, er wolle Euch als säumigen Schuldner sofort verhaften lassen, wenn Ihr Euren Fuß hierher setzt. Und dazu hat er, soviel ich weiß, auf Grund Eurer Bürgschaft auch das Recht, und er ist ein Mensch, der so etwas auch tut. Ich schreibe Euch das, damit nachher nicht etwas geschieht, was mir wieder weh tun würde.«
Galileo schluckte bitter. Der Schwager Landucci wollte ihn also dem Gericht ausliefern. Bis in das Gebiet der freien Republik Venedig reichte seine Hand nicht, aber daheim in Florenz konnte er sofort einen Gerichtsdiener holen lassen.
»Zerspringen soll er, das geizige Aas!« schrie er Lena ins Gesicht. »Dann gehe ich eben nicht nach Hause.«
Aber er fuhr doch nach Hause. Er wollte seine Mutter sehen. In der letzten Minute nahm er von den Gebrüdern Corsi ein Darlehen von siebenhundert Scudi zu Wucherzinsen auf, gab Cremonini das geliehene Geld zurück, behielt für sich nur einen ganz bescheidenen Teil und schickte alles andere dem Schwager. Die ganze Angelegenheit vergaß er sogleich wieder und atmete glücklich auf, daß er sich jetzt eine Zeitlang mit dieser unangenehmen, drückenden Frage nicht mehr zu beschäftigen brauchte. Er war glücklich und guter Laune. Sein erstes Unterrichtsjahr in Padua war glänzend abgelaufen und das Buch über die Mechanik war auch fertig. Er las es nochmals von Anfang bis Ende durch und war davon ganz hingerissen.
»Etwas Gescheiteres habe ich noch nie gelesen!« rief er aus.