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Zehntes Kapitel

Er saß in Padua, in der Bibliothek von Pinelli. Solch eine mächtige Büchersammlung hatte er noch nie gesehen. Es war fast nicht zu glauben, daß sie einem Privatmanns gehörte, eher schien es eine öffentliche Bibliothek zu sein. Hoch übereinander standen die Regale, darauf in Reih und Glied Tausende von Werken nach zweierlei Systemen geordnet: die mit der Hand geschriebenen Bücher, die ihren Titel auf dem Rücken trugen, lagen in Stößen übereinander, und eine kleine Kette verband sie mit dem Regal; die modernen, gedruckten Bücher hingegen lagen nicht, sondern standen. Das Gold ihrer Rücken lief in einem tiefen und reichen Glanze zusammen. Hier und da lehnten zimmerhohe Leitern an den Regalen, auf besonders großen Tischen lagen Wörterbücher und Handbücher zum täglichen Gebrauch, Globen und Himmelskugeln standen auf Eisengestellen zwischen den Stühlen herum. Galilei bestaunte all das mit einer Erregung, wie etwa ein seliger Muslim im siebenten Himmel den Tubabaum betrachtet.

Die erste Begegnung hatten sie bereits hinter sich und schon in allen Einzelheiten den Schlachtplan für die Eroberung der Professur besprochen. Die Aussichten besserten sich von Tag zu Tag. Dieser Magini, der ihn seinerzeit bei dem Wettbewerb um den Lehrstuhl in Bologna förmlich weggefegt hatte, schien jetzt kein ernster Gegner mehr zu sein. Beglückt stellte Galilei fest, daß er hier einen bedeutenden wissenschaftlichen Ruf genoß und das Gelingen seines Vorhabens auch seinem Namen und nicht nur den Empfehlungsbriefen und zahlreichen Besuchen würde zu verdanken haben.

»Es verhält sich zwar nicht alles ganz so«, sagte Pinelli, »wie es unser verehrter Marchese Euch berichtet hat. Der Einfluß der Kirche ist hier wohl geringer als bei den anderen Universitäten, das ist wahr. Der Marchese Guidubaldo war aber schon lange nicht mehr hier und weiß nicht, daß vieles anders geworden ist. Ihr müßt wissen, Messer Galileo, daß wir hier einen erbitterten Krieg mit den Jesuiten führen. Ich halte es für notwendig, daß Ihr über die Vorgänge Bescheid wißt; denn wenn Ihr hierherkommt, und das halte ich jetzt für durchaus möglich, müßt Ihr über die Bedeutung einiger Dinge ganz im klaren sein – für den Fall, daß es wieder losgeht. Stopft Eure Pfeife, raucht an, macht es Euch bequem; denn die Geschichte ist nicht kurz.«

Pinelli berichtete nun ausführlich über den Jesuitenkrieg in Padua. Die Vorgeschichte lag Jahrzehnte zurück; sie fiel noch in jene Zeit, als unter den ausländischen Studenten des Bo zum ersten Male auch Protestanten auftauchten. Der altüberlieferte Freisinn des Bo kümmerte sich zwar nicht um das Glaubensbekenntnis der Studenten, sondern nur um ihr Studium, allein in Venedig fand sich immer eine Kirchenleuchte, die den Zehnerrat mit Vorwürfen bestürmte, daß die Republik das Ketzertum in Padua Fuß fassen lasse. Die kirchlichen Würdenträger von Rom erhoben ständig Einspruch dagegen, daß die französischen Hugenotten und die deutschen Lutheraner straflos ihrer schändlichen Gottlosigkeit frönen durften. Diese hartnäckige Wühlarbeit brachte es endlich zuwege, daß der Rat der Zehn vor dem Rat des Bo die Religionsfrage zur Sprache brachte. Das Professorenkollegium aber hielt ebenso hartnäckig an dem Grundsatz der überlieferten Geistes- und Gewissensfreiheit fest. Die religiösen Reibungen begannen an Heftigkeit zuzunehmen. Teils wurde die Geistlichkeit ungeduldig, teils benahm sich die protestantische Studentenschaft herausfordernd. Es kam so weit, daß die Korporation der deutschen Studenten in Venedig eine Anzeige gegen den Bischof von Padua wegen Ehrenbeleidigung erstattete, weil der Bischof von der Kanzel herab die Ketzer grob beschimpft hatte. Der Rat der Universität blieb aber fest und war nicht geneigt, sich in die Angelegenheiten der andersgläubigen Studenten einzumischen. Da gründete die Kirche eine Niederlassung des Jesuitenordens in Padua. Die Patres begannen arm wie eine Kirchenmaus, gründeten aber sogleich eine Schule, die sie von Jahr zu Jahr immer mehr ausbauten. Geld floß ihnen in Hülle und Fülle zu, niemand wußte, woher es kam. Anfangs unterrichteten sie die kleinen Kinder nur in der Sprachlehre. Bald gingen sie aber dazu über, auch Philosophie, Mathematik, Metaphysik und selbst Theologie zu lehren. Eines schönen Tages mußte der Bo feststellen, daß in seiner eigenen Stadt mit einem Male eine zweite Universität aus der Erde gewachsen war. An den Stellen, wo bisher nur die Anschläge des Bo gehangen hatten, erschienen von heute auf morgen die Gegenanschläge des Gymnasium Patavinum Societatis Jesu. Und wenige Tage später ließ die Jesuitenschule über ihrem Tor gleichfalls eine Glocke anbringen und verkündete der Stadt den Beginn der Vorlesungen ebenso mit Glockengeläute, wie es der Bo auf Grund seiner hundertjährigen Überlieferung tat. Zugleich kamen aus allen Teilen Europas Nachrichten nach Padua zusammen, daß der gute Ruf des Bo durch allerlei Gerüchte gefährdet sei. In Frankfurt, in Amsterdam, in Ofen wurde erzählt, der Bo sei vollständig herabgekommen, er sei ein Sündenpfuhl, eine Brutstätte der Ketzerei, wüster Schlägereien und Ausschweifungen geworden. Die Zahl der Hörer an der Jesuiten-Universität nahm langsam, aber merklich zu, die der Studenten am Bo immer mehr ab.

So war es bis zum vorigen Jahre gewesen. Da entschloß sich der Rektor der Juristischen Fakultät, Pietro Alzano, einzuschreiten. Er hielt eine große Rede im Rat der Universität und legte dar, daß die Jesuiten sich an dem Geiste der Kultur schwer versündigten, indem sie ein neues, gefährliches System eingeführt hätten: das Diktat. Die Professoren trügen nicht vor, sondern diktierten den Studenten die Aufgaben, die bis zum anderen Tage gelernt werden müßten. Die Jahrhunderte alten Gesetze des Bo verböten aber das Diktat strengstens. Der Grundsatz des humanistischen Unterrichtssystems sei, daß die Studenten dem Vortrag aufmerksam zu folgen hätten, um dann die Materie mit eigenen Worten wiederzugeben und ihre Sprachkunst in ständigen Debatten zu üben. Der Rektor rief sowohl die Professoren als auch die Studenten auf, sich dem System der Jesuiten zu widersetzen, da es die Entwicklung der Wissenschaft in verhängnisvoller Weise hemme. Dieser Aufruf blieb nicht ohne Wirkung bei der Jugend. Die Studenten beider Universitäten teilten sich in zwei feindliche Lager und begannen sich auf der Straße zu bekämpfen. Zuerst gingen die einzelnen Gruppen nur mit der Faust aufeinander los, dann fingen sie aber auch an, sich zu bewaffnen. In Padua brach ein Universitäts-Bürgerkrieg zwischen den Jesuiten und Bovisten aus. Es kam oft vor, daß eine Jesuiten-Studenten-Gruppe in einen Hörsaal des Bo eindrang, was eine blutige Schlägerei oder gar einen Straßenkampf zur Folge hatte. Die Bovisten waren natürlich auch nicht müßig und drangen gleichfalls bewaffnet bei den Jesuiten ein. An den Mauern der Häuser erschienen Schmähworte und Fratzen, die Professoren beider Universitäten fanden in ihren Taschen oder auf ihren Kathedern des öfteren eingeschmuggelte Schmähschriften. Schließlich organisierten sich die Bovisten gründlich. Die Gruppe der Venezianer führte die Bewegung an. Die Haupträdelsführer waren die Sprößlinge der vornehmsten venezianischen Geschlechter: Quirini, Contarini, Giustinian, Dolfin, Trevisan, Correr, Valier. Diese Jünglinge dachten sich etwas ganz Tolles aus: am hellen lichten Tage zogen sie durch die Straßen Paduas als Gespenster verkleidet, in weiße Leinentücher gehüllt, eine große Menge Neugieriger hinter sich herziehend. Als der Zug vor der Jesuiten-Universität angelangt war, drangen die Studenten in das Gebäude ein, stürmten einen Hörsaal, in dem ein Professor gerade dozierte, und entledigten sich dort ihrer Leinentücher. Da stellte sich heraus, daß sie allesamt splitterfasernackt waren. Die nackten Studenten beschimpften den vortragenden Jesuitenprofessor, verspotteten ihn schmählich, und nachdem sie alles vorgebracht, was sie auf dem Herzen hatten, legten sie ihre Leinentücher wieder um und entfernten sich.

Dieser Vorfall wurde sofort dem Zehnerrat gemeldet. Der Rat verurteilte die Anführer der Studenten, obwohl sie zum größten Teil den Familien des Zehnerrates angehörten, besonders streng in der Hoffnung, daß die Härte der Strafen der Jugend jegliche Lust zu weiteren Kundgebungen nehmen würde. Jetzt aber erhoben sich die Professoren. Der vom Rektor Alzano entfachten Bewegung schloß sich der Artistenrektor Da Fuligna an und brachte die ganze Universität auf die Beine. Der Bo hatte beschlossen, eine dreiköpfige Abordnung zur Aufklärung des Senats nach Venedig zu schicken: ihre Mitglieder waren Cremonini, der in ganz Europa bekannte Philosoph, Sassonia, der weltberühmte Metaphysiker, und Francesco Piccolomini, zwar kein weltbekannter Gelehrter, aber kraft seiner Herkunft besonders geeignet, diese Bewegung zu unterstützen. Noch bevor der Ausschuß nach Venedig ging, erschien beim Rektor des Bo der Jesuitenprofessor der mathematischen Fakultät und legte ein Breve vor, das Gregor VIII. unterzeichnet hatte und das der Jesuitenschule die gleichen Rechte verlieh, die der Bo besaß, einschließlich des Rechtes, die Doktorwürde zu verleihen. Der Jesuitenprofessor fügte zu diesem Breve noch die Erklärung hinzu, daß er bevollmächtigt sei, falls der Bo viel Umstände mache, über das ganze Professorenkollegium im Namen des Papstes den Bann zu verhängen. Dann entfernte er sich siegesbewußt. Die beiden Rektoren des Bo setzten sich daraufhin zu einer Beratung zusammen und beschlossen, eher dem kirchlichen Bann zu verfallen, als die Lehrfreiheit untergraben zu lassen. Der Bo hatte auch geistliche Rechtsgelehrte: Matteazzi und Descalzo lasen Zivilrecht, Montecchi Kirchenrecht. Diese erschienen in corpore vor dem Gouverneur von Venedig, trugen den Stand der Dinge vor und brachten ihre Bitte an, die Vorrechte des Bo zu schützen. Die Sache kam vor den Senat. Nach langen Auseinandersetzungen nahm der Senat den Beschluß an, daß die Jesuiten von jetzt ab an ihrer Universität ohne Verletzung der alten Vorrechte des Bo zu unterrichten hätten. Somit hatte der Bo gesiegt, und der ganze Krieg wäre beendet gewesen, wenn sich nicht noch ein schrecklicher Vorfall ereignet hätte: nach der Verkündigung dieses Beschlusses hatten unbekannte und maskierte Täter auf offener Straße den Rektor Alzano überfallen. Sie täuschten einen Tumult vor und erdolchten ihn. Der Rektor blieb tot auf der Straße liegen. Die Mörder ergriffen die Flucht und blieben verschwunden.

»Haben die Jesuiten ihn ermordet?« fragte Galilei.

»Das kann niemand behaupten«, entgegnete der kluge Pinelli, »die Nachforschungen haben vollständig versagt.«

»Und wie ist die Lage jetzt?«

»Die Lage ist jetzt so, daß Padua zwei Schulen hat: die Universität des Bo und die zweitrangige Schule der Jesuiten. Der Bo darf alles lehren, was er schon seit dreihundert Jahren lehrt, die Jesuiten müssen sich auf die griechische und lateinische Grammatik beschränken. Damit haben sie sich anscheinend zufrieden gegeben. Ihr, mein Herr, werdet aber wissen, daß man einen Jesuiten nicht mit dem Maß der anderen Sterblichen messen kann. Warum schüttelt Ihr Euer Haupt, Messer Galilei? Ist es nicht so?«

»Ob es so ist, weiß ich nicht. Eine Ausnahme kenne ich auf alle Fälle.«

»Was für eine Ausnahme?«

»Einen Jesuiten. Er ist ein Deutscher, heißt Clavius und ist Professor des Collegio in Rom. Der ist gerade so ein anständiger Mensch wie jeder andere, obwohl er Jesuit ist.«

Pinelli zog die Augenbrauen hoch und hob die Schultern.

»Clavius. Ja. Von dem habe ich schon gehört. Auch die Hiesigen sprachen schon von ihm. Er soll in der Geometrie außerordentlich beschlagen sein. Ich möchte Euch aber doch raten: zeigt, wenn Ihr Euch um den Lehrstuhl bewerbt, keine allzu große Zuneigung zu jemandem, der dem Jesuitenorden auch nur nahesteht. Die drei Riformatori sind keine Freunde der Jesuiten.«

»Ich bin auch nicht ihr Freund. Aber deshalb kein Feind des Ordens.«

»Sehr schön. Aber was werdet Ihr sagen, wenn diese Frage auftaucht und Ihr Farbe bekennen müßt?«

»Ich verstehe die Frage nicht ganz, mein Herr. Was die Jesuiten betrifft, so bin ich der Meinung, daß es ein unanständiger Gewaltstreich war, neben dem Bo in der gleichen Stadt eine zweite Schule zu gründen. Wenn ich aber gefragt würde, ob jeder Jesuit ein Teufel in Menschengestalt sei oder nicht, dann wäre ich gezwungen, zu sagen, daß in Rom ein deutscher Jesuit lebt, der ein braver, ehrenhafter Mann ist, von dem mir nie etwas anderes als Gutes widerfahren ist.«

»Meint Ihr nicht, daß dadurch die Abwehrstellung des Bo erschüttert werden könnte?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nie, ob das Endergebnis einer Debatte nützlich oder schädlich sein wird. Ich erwäge diese Möglichkeit auch niemals. Ich denke stets nur daran, daß die Gesamtsumme aller Winkel in einem Dreieck genau einhundertachtzig Grad ist. Nicht einhunderteinundachtzig, auch nicht einhundertneunundsiebzig, sondern genau einhundertachtzig. Es mag Leute geben, die behaupten, es wäre ein kaum merklicher Nachlaß, einhundertneunundsiebzig zu sagen. Auch so ein Mann hat recht. Er ist aber ein Politiker und kein Mathematiker. Ich bin zum Mathematiker geboren und werde nie imstande sein, statt einhundertachtzig einhundertneunundsiebzig zu sagen, da ich dann nicht das Gleichheitszeichen hinsetzen könnte.«

Pinelli sah seinen jungen Gast sinnend an. Dann fragte er ihn:

»Hört, Messer Galileo. Wenn nun Eure Berufung nach Padua davon abhängig würde, daß Ihr statt einhundertachtzig einhundertneunundsiebzig sagen müßtet, was würdet Ihr dann tun?«

»Zweifellos würde ich einhundertachtzig sagen, Euer Gnaden. Allerdings nicht ohne weiteres. Einmal würde ich mir selbst Vorwürfe machen, daß ich meinen Lohn und mein Brot meiner großspurigen Hartnäckigkeit opfere und das noch zu einer Zeit, wo ich gar keinen Lohn und kein Brot habe. Und dann würde ich mich auch einen dummen und störrischen Esel schelten, weil ich die Zukunft meiner Geschwister, die auf meine Unterstützung angewiesen sind, eines einzigen Satzes wegen aufs Spiel setze, obwohl ich ja ruhig lügen könnte. Denn mit Hilfe der » Reservatio mentalis« kann ich ja denken, was ich will. Ich würde mir kleinlich, dumm und eitel erscheinen, das ist sicher. Aber eine falsche Antwort könnte ich doch nicht über meine Lippen bringen.«

»Eures Charakters wegen?«

»Nicht meines Charakters wegen, sondern wegen der Beschaffenheit meines Geistes. Die Natur hat mein Gehirn so geformt, daß es niemals vergessen könnte, was nach dem Dezimalpunkt folgt. Meine Denkweise ist weniger charaktervoll als genau. Wenn meine Geschwister hungern müßten, wäre ich vielleicht zu einem Raubmord fähig, aber fehlerhaft zu radizieren brächte ich nicht fertig. Ich muß bekennen, Euer Gnaden, daß mich in diesem Augenblick mein Gewissen auch schon sehr beunruhigt. Ich bin ein Bittsteller, ein auf die anderen angewiesener armer Teufel. Ich bin gezwungen, die Gunst anderer zu suchen. Auch bin ich genügend rednerisch begabt, um das Recht des Bo gegenüber den Jesuiten in flüssigen Worten zu verteidigen. Diesen Clavius, der ein Jesuit und doch ein herrlicher Mensch ist, könnte ich ja einfach verschweigen. Aber ich bin ein Mathematiker, Euer Gnaden. Wenn man einen Nichtmathematiker fragt, ob drei Dutzend Staubkörnchen und ein Staubkörnchen das gleiche seien wie sechsunddreißig Staubkörnchen, kann er ruhig und anstandslos antworten: ja. Ich kann das nicht, weil die lineare Gleichung nicht aufgeht. Ich muß laut schreien und auf den Tisch pochen, damit die ganze Welt aufhört, damit die Völker ihre Arbeit unterbrechen, damit die Wagen und Segler haltmachen; denn die Rechnung geht nicht auf: ein Staubkörnchen bleibt übrig.«

Pinelli schwieg, in ernste Gedanken versunken. Endlich sagte er:

»Zu meinem größten Bedauern kann ich Euch, mein Herr, nicht widersprechen. Machen wir uns jetzt aber fertig. Wir wollen die Universität besichtigen.«

Sie gingen, sich das Gebäude des Bo anzusehen. Galileo verspürte ein wenig Lampenfieber. Als treuer Arbeiter in seinem Berufe fühlte auch er sich befangen, wenn von seinen Instrumenten und Werkzeugen die Rede war. Das Herz des Bildhauers beginnt höher zu schlagen, wenn er ein großes Stück Gestein sieht. Der Schriftsteller wird erregt, wenn er einen Gänsekiel entdeckt, der sich besonders gut in seine Hand schmiegen würde, oder wenn er ein vortrefflich gebundenes Buch sieht. Und er war Akademiker; ihm bedeutete das Gebäude mehr als jedem anderen: soviel wie dem Mönch das Kloster. Unterwegs hatte er kaum Sinn für etwas anderes. Einmal blieb er stehen, als sie über eine kleine Brücke gingen.

»Das Wasser ist lieblich, wie es so am Fuße der Häuser dahinfließt, mitten durch die Stadt. Und so reizvoll. Wie heißt es?«

»Das ist der Bacchiglione«, erwiderte Pinelli, »mit seinen Nebenflüssen durchkreuzt er die ganze Stadt. Andere verachten diesen Fluß und verspotten ihn als unvollkommene Imitation Venedigs. Ich dagegen habe ihn sehr gerne.«

»Ist Venedig schöner?«

»Venedig ist unvergleichlich. Ich komme mir vor wie ein Mann, der eine wunderschöne Kurtisane bewundert, seine Frau aber liebt. Meine Frau ist Padua. Ich schlage nun aber vor, einen kleinen Umweg zu machen und in der Richtung des Santo zu gehen.«

Sie durchschritten enge Straßen, deren beide Seiten oft von Arkaden eingefaßt waren. Diese niedrigen, schattigen Bogengänge verliehen der Stadt einen ganz eigenartigen Charakter, die Fußgänger liefen geschützt unter den von Säulen getragenen Steindächern hin und her, die kleinen Läden lagen dank dieser Bauart im Schatten, nur die Mitte der Straße glühte im Brand der Sonne. Der Bürgersteig zu beiden Seiten der Straße sah aus, als ob er zum Inneren der Häuser gehöre, Nach einer längeren Wanderung gelangten sie auf einen offenen Platz und standen vor der St. Antoniuskathedrale mit ihren sich ineinander schiebenden Kuppeln.

»Was für ein Denkmal ist das dort?« erkundigte sich Galilei.

»Es ist ein Werk von Donatella und stellt den Erasmo da Narni dar. Der Volksmund nennt ihn Gattamelata. Es ist ein schönes Reiterbild; der, den es darstellt, war im vorigen Jahrhundert Heerführer von Venedig. Seht Euch aber dieses Haus an, mein Herr, dort das zweistöckige, neben dem rechts die kleine Straße mündet. Seht Ihr im zweiten Stock die zweifenstrige Loggia? Da hat Donatello gewohnt, als er für die Kirche arbeitete. Wir leiden hier keinen Mangel an großen Erinnerungen. Ich zeige Euch gleich das Haus auf der Via San Francesco, wo Dante wohnte, und von den Neueren hat vor dreißig Jahren Torquato Tasso hier die Schule besucht. Ich habe ihn sehr gut gekannt. Er war oft in meinem Hause.«

»Was für ein Mensch ist dieser Torquato Tasso?«

»Damals war er ein sehr unbeholfener, hochgewachsener, magerer, dunkelblonder junger Mann. Jeder lachte über ihn, weil seine Bewegungen schwerfällig waren und er mit einem sehr starken Bergamasker Tonfall sprach. Obendrein stotterte er auch noch. Wer mit ihm redete, wandte sich ab, um ihm nicht ins Gesicht lachen zu müssen. Auf mich machte er den Eindruck eines Geisteskranken, und ich würde mich nicht wundern, eines Tages zu hören, daß er irgendwo auf der Straße plötzlich zu toben angefangen habe. Er suchte immer Anschluß an die vornehme Gesellschaft. Nun, das hat er inzwischen ja erreicht. Wie ich höre, ist er jetzt in Rom, weil er seinen Vetter zum Kardinal machen möchte. Aber seht, mein Herr, diesen lieblichen Platz: das ist der Gemüsemarkt. Das Gebäude hier ist der Palazzo del Municipio. Das andere dort ist das Gericht. Schön, nicht wahr?«

Galilei nickte nur.

»Ist der Bo noch weit?«

»Nur noch einige Schritte! Ecco il Bo.«

Es war ein gelbes, zweistöckiges Gebäude. Das Tor verhältnismäßig klein. Über dem Tor ein stattliches Relief: aus der Mauer wölbte sich das Fabeltier der Serenissima, der nach rechts blickende, geflügelte Löwe des Evangelisten Markus, dessen rechte Tatze auf einer aufgeschlagenen Bibel liegt. Dieses Fabeltier mit der stumpfen Nase deutete an, daß der Herr dieses Palastes der Wissenschaft die Republik Venedig sei, die Serenissima, eigentlich nur ein Handwerker und Kaufherr, der aber, im Kampf gegen den türkischen Rivalen groß geworden, immer noch Geld erübrigte, die Kultur auch während des Krieges zu fördern.

»Das ist ein großer Augenblick«, sagte Galilei.

»Was ist ein großer Augenblick?« fragte sein Begleiter.

»Wenn ich jetzt eintrete. Wenn mein Kopf schon innerhalb der Mauer ist, alles andere aber noch draußen.«

Pinelli blickte seinen Gefährten, diesen jungen Mann mit dem schwarzen Bart, wohlwollend, aber auch ein wenig überrascht an.

»Ihr sagt gern sonderbare Dinge, mein Herr. Wie sind Eure Worte zu verstehen?«

Galilei lachte und hob die Schultern. Es lag eine gewisse Achtlosigkeit darin, daß er nicht antwortete. Auch Unbesonnenheit; denn er hätte äußerst höflich sein müssen zu diesem älteren Herrn, den man ihm als den einflußreichsten Freund des Bo bezeichnet hatte. Nach den allgemeingültigen Regeln der guten Gesellschaft hätte er an der linken Seite des vornehmen reichen Herrn, sich untertänig verneigend, diese Schwelle überschreiten müssen. Sie traten aber nicht so herein, sondern eher wie ein Thronprätendent in einer Stadt ankommt, den in die Zukunft blickenden Minister an seiner Seite.

»Was ist denn das hier?« erkundigte sich Galilei, die Decke des Gewölbes betrachtend.

»Das sind die Wappen der bedeutendsten Schüler. Es ist eine Überlieferung an dieser Universität, daß man das Andenken an die scheidenden berühmten Studenten durch solche Wappen verewigt. Wie Ihr sehen könnt, gibt es hier keinen Unterschied zwischen den Nationen. Hier wird das Wappen des einzelnen angebracht ohne Rücksicht auf sein Vaterland. Unter den ausgezeichneten und hier verewigten Studenten findet Ihr hier auch eine ganze Reihe Protestanten. Die Farben sind jedenfalls wunderschön. Die bunten Wappenfiguren in Rot, Blau, Grün und Gelb heben sich von dem weißen Grund wirkungsvoll ab … Aber verzeiht, hier herrscht ja große Aufregung. Seht nur, der Rat kommt eben die Treppe herab.«

Eine würdige Gesellschaft stieg rechts vom ersten Stockwerk die Treppe herunter. Ihre Kleidung war eine bis zu den Knöcheln reichende schwarze Toga, auf dem Kopf ein flaches Professorenbarett. Sie waren stumm, aber erregt, wie Leute zu sein pflegen, die nach einer langen Beratung endlich einen schicksalsschweren Beschluß gefaßt haben, und an deren Entschlossenheit man sehen kann, daß sie über den besprochenen Gegenstand nun kein Wort mehr zu verlieren haben. Pinelli trennte sich von seinem Gast und redete den in der Mitte einherschreitenden alten Herrn an:

»Ich begrüße Euch, hochwürdigster Rektor, gibt es etwas Neues? Habt Ihr etwas beschlossen? Ich habe gar nicht gewußt, daß die beiden Fakultäten eine gemeinsame Beratung abhielten.«

Der weißbärtige alte Herr begrüßte Pinelli mit auffallender Liebenswürdigkeit.

»Wir haben tatsächlich gemeinsam beraten, und zwar geschah das ganz unerwartet für uns alle. Wegen der Jesuiten. Wir haben einen erfreulichen einstimmigen Beschluß gefaßt: wir ergänzen uns durch einen Vertreter des Gemeinderates von Padua und gehen gemeinsam nach Venedig vor den Großen Rat. Die Juristen führe ich, die Artisten Riccoboni.«

Pinelli erwiderte darauf mit ein paar höflichen Worten, aber ein lauter Ruf unterbrach ihn. Der Zwischenrufer war niemand anderes, als der fremde Bittsteller, der an seiner Seite die Schwelle des Bo übertreten hatte.

»Riccoboni?« rief der junge Gelehrte, »wer unter Euch, meine Herren, ist Riccoboni? Ich bin Galilei.«

Die würdevollen Herren waren auf der Treppe stehengeblieben. Alle blickten auf einen kleinen, asketisch aussehenden Mann. Dieser breitete sofort die Arme aus.

»Bist du der aus Pisa?« rief er.

Im nächsten Augenblick lagen sich Galilei und Riccoboni in den Armen. Beide waren aber zugleich bestrebt, einander in die Augen zu sehen. Da stand die edle Versammlung des Professorenkollegiums, und vor ihnen maßen sich mit seligen Gesichtern die zwei jungen Gelehrten. Mit einem gewissen Stolz legte Pinelli die Hand auf die Schulter seines Gastes.

»Messer Galileo, macht Euch Euren künftigen Kollegen bekannt. Ich stelle Euch dem Herrn Niccolo Borlizza, Seiner Magnifizenz dem Rektor der Juristen, hiermit vor. Wie ich sehe, brauche ich Euch dem Vertreter der Artisten, Seiner Gnaden Riccoboni, nicht mehr vorzustellen.«

In die Gruppe auf der Treppe kam Leben. Die würdigen Herren sahen sich an und raunten sich kurze Bemerkungen zu. »Er ist es«, – konnte man ihren Gesten und den Bewegungen ihrer Lippen entnehmen. Riccoboni, der junge Lektor der Rhetorik, legte einen Arm um den Ankömmling und sprach zu den anderen:

»Das ist der Galilei, von dem ich Euch schon so oft erzählt habe. Er will zu uns kommen, nehmt ihn mit Liebe auf.«

Eine allgemeine Begrüßung folgte. Jeder stellte sich vor. Galilei konnte kaum auf soviel fast gleichzeitig genannte Namen achten. Trotzdem erregten zwei schon oft erwähnte Namen seine Aufmerksamkeit. Einer davon war Cortuso, der berühmte Botaniker. Von dem hatte er schon in Pisa oft gehört. Aber der Mann, der jetzt vor ihm stand, sah ganz anders aus, als er ihn sich vorgestellt hatte. Ein kleiner alter Herr mit stark angegrautem Bart und Schnurrbart und einem Schädel, der in so vollkommener Kahlheit glänzte, als ob er nie Haare gekannt hätte. Das hervorspringende Kinn und der schmale Mund deuteten auf einen jähzornigen, kriegerisch und streitsüchtig veranlagten kleinen Greis, der nichts von dem friedlichen Typ des Botanikers hatte. Der andere war der Träger eines noch größeren Namens: Fabrizio, der weltberühmte Mediziner, ein stämmiger, breitschultriger Mann in den besten Jahren, dessen Erscheinung, was man schon in der ersten Minute spürte, eine überraschende Ruhe und ernste Güte ausstrahlte. Nicht die riesige Kette, die um seinen Hals hing, machte ihn zur Autorität, sondern sein ganzes Wesen. Unter dem mächtigen Gewölbe seiner Stirn blickten zwei erschreckend kluge Augen auf den neuen Bekannten, dessen erster Gedanke war: auch wenn er nicht wüßte, daß das der berühmte Fabrizio d'Aquapendente war, würde er dennoch spüren, daß er einen bedeutenden Mann vor sich hatte.

Eine allgemeine Unterhaltung setzte ein. Zunächst befriedigten sie die Neugierde Pinellis mit der Nachricht, daß der Gemeinderat von Padua in voller Übereinstimmung mit dem Professorenkollegium der Universität gemeinsam vor dem Großen Rat in Venedig für das alte Ansehen des Bo eintreten wolle. Aber bald kamen sie von diesem Thema ab, und die allgemeine Aufmerksamkeit wendete sich Galilei zu. Aller Augen waren auf ihn gerichtet und fünf von den Herren stellten zu gleicher Zeit Fragen an ihn. Er stand mitten in einem ruhmvollen Kreuzfeuer, die eine seiner Hände hielt Riccoboni fest umklammert, um deutlich zu zeigen, daß sie beide, wenn auch nur brieflich, doch schon seit langem gute Bekannte seien.

»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte der Ankömmling, mit unbefangener Neugierde den Gelehrten anblickend, »aber ich möchte gern wissen, in wem ich hier Herrn Cremonini verehren kann?«

Ein mittelgroßer, gütiger, sanfter Mann von etwa vierzig Jahren trat aus der Gruppe heraus.

»Ich bin Cremonini. Ich hatte meinen Namen schon genannt, sah aber, daß dies deiner Aufmerksamkeit entgangen war.«

In dieser Betonung lag die ganze Gekränktheit des auf seinen Ruf bedachten Gelehrten, gleichzeitig aber auch die Erklärung des Nichtnachtragenwollens. Galilei sah ihn mit einer frischen, unbeholfenen Freude an wie ein zwischen die Meute geratener Jagdhund. Cremonini fuhr fort, das freundschaftliche Duzen nochmals betonend:

»Ich habe schon von deinem Ruf gehört und denke mir, daß du als mein Feind hierher kommst. Du wirst vielleicht schon wissen, daß man mich in der akademischen Welt für meine wissenschaftlichen Leistungen in übertriebener und höchst schmeichelhafter Weise den › Aristoteles redivivus‹ nennt.«

»Bist du ein so großer Peripatetiker?«

»Ein großer! Oder, um es ganz genau auszudrücken: wie ich den Aristoteles nach den Methoden der neapolitanischen Schule auslegen kann, so kann ich ihn auch einerseits mit den neuen Erfahrungen des Averroes und andererseits mit der Seelenlehre des Alessandro d'Afrodisia in Einklang bringen. Wenn deine Meinung in allen diesen Dingen eine andere ist, so interessiert mich das außerordentlich, und ich werde geduldig zuhören.«

Schon wechselten die anderen Herren geheime Blicke, die verrieten, daß sie des etwas weitschweifigen Kollegen überdrüssig zu werden begannen. Borlizza, der Rektor der juristischen Fakultät, mischte sich in das Gespräch:

»Wir alle sehnen uns danach, dies mit anzuhören, aber nicht auf der Treppe des Bo. Wann sehen wir dich wieder, Messer Galilei?«

Ehe Galilei in seiner Unentschlossenheit etwas erwidert hatte, fuhr Pinelli schon dazwischen.

»Vielleicht würde für diesen Zweck mein bescheidenes Haus das zweckmäßigste sein. Ich würde euch, meine Herren, gern bei mir zum Mittagessen sehen, so wie wir sind. Für unseren Freund Galilei wäre das sehr angenehm, seine künftigen Kollegen gleich näher kennenzulernen.«

Es entstand eine allgemeine Verwirrung. Alle redeten durcheinander. Der eine hatte gleich nach dem Mittagessen eine Vorlesung zu halten, der andere hatte Bedenken, ob er seine wichtige Reise nach Venedig auf morgen verschieben könne, der dritte, vierte und fünfte führten als Hinderungsgrund ihre Ehefrauen an. Schließlich klärte sich aber die Lage: ein Teil der Gesellschaft war bereit, sofort zum Mittagessen bei Pinelli zu erscheinen und der andere Teil versprach, gleich nach dem Essen dorthin zu kommen. So trennten sie sich in zwei Gruppen. Galilei nahm Abschied von der einen Gruppe mit der strahlenden Miene des Gefeierten und ging mit der anderen Gruppe nach der Wohnung Pinellis. Er war der Mittelpunkt der ganzen Gesellschaft, ein achtundzwanzigjähriger junger Mann, der Reisende in bürgerlichen Kleidern unter den zahlreichen Togen der würdigen Universitätsprofessoren. Jeder sprach mit ihm, jeder befaßte sich mit ihm, und er bemerkte mit glückseliger Verwunderung, während er, den Kopf nach rechts und links wendend, die an ihn gerichteten Fragen beantwortete, daß sein Ruf viel größer war, als er es selbst zu glauben gewagt hatte.

Im Palazzo Pinelli verursachte die vielköpfige Gesellschaft keinerlei Störung. Galilei überzeugte sich, daß dieses Haus tatsächlich die ständige Gaststätte aller Gelehrten von Padua war, wie der Marchese del Monte es ihm schon vorausgesagt hatte. Im Speisesaal stand ein großer gedeckter Tisch, und man merkte sofort, daß die Dienerschaft daran gewöhnt war, je nach den Wünschen des Herrn noch in der letzten Minute die Gedecke einzuteilen und aufzulegen.

Bereits während des Mittagmahles war von Aristoteles die Rede. Galilei war überrascht, wie sehr sich dieses Gespräch von jenen wissenschaftlichen Unterhaltungen unterschied, an denen er in Florenz, in Pisa oder gar eine kurze Zeitlang in Siena teilgenommen hatte. Anderenorts arteten die wissenschaftlichen Debatten schon beim dritten Satz in einen leidenschaftlichen Streit aus, mit sprühendem Zorn setzte man sich über die wissenschaftlich festgelegten Regeln eines rhetorischen Disputs hinweg, und wenn man auch nicht mit Fäusten dreinschlug, so gab es doch eine förmliche Schlägerei mit Worten. Hier war es ganz anders. Einer unterbrach den anderen nicht, jeder hörte sich die Rede des anderen geduldig an. Oft stand die Behauptung des einen in vollem Gegensatz zu der des anderen; wenn das aber offenbar wurde, befleißigten sich beide sofort, noch höflicher zu sein, jeder würdigte die Autorität des anderen und beharrte fast entschuldigend auf seinem Standpunkt. Aber jeder blieb bei seiner Meinung. Sein Herz schlug hoch vor Freude, als er, einmal hierhin und einmal dorthin horchend, das alles beobachten konnte. Erst jetzt wurde ihm klar, was ihm der Marchese von der Gedankenfreiheit des Bo erzählt hatte.

Von allen fesselte ihn Cremonini am meisten. Das war sein Mann, Professor der Naturwissenschaften, und wenn auch kein hervorragender Mathematiker, so doch einer, der sein Fach vertrat. Cremonini nahm an der Mittagstafel nicht teil, weil er auf sein Mahl im Familienkreise nicht verzichten wollte. Nach dem Mittagessen kam er aber sogleich. Die Speisenfolge im Hause Pinelli war noch nicht einmal ganz beendet. Als er eintrat, begrüßte er seine Kollegen, nahm mit der Schüchternheit der meisten Professoren Platz, und die bisherige allgemeine Unterhaltung verstummte. Anscheinend wartete ein jeder, wenn auch darüber nicht gesprochen worden war, auf das vielverheißende Duell des jungen Ankömmlings mit dieser einheimischen Fachgröße. Galilei selbst hatte sich auch schon darauf vorbereitet. Während er die an ihn gerichteten oberflächlichen Fragen beantwortete, entwarf er in Gedanken den Plan seines Angriffs auf Aristoteles.

Zu seiner größten Überraschung wurde aber nichts daraus. Cremonini nahm Platz, ordnete mit kurzsichtigem Blick die Gegenstände, die in seiner Reichweite standen, und begann:

»Hier erwartet jedermann von uns eine Debatte über Aristoteles, Messer Galilei. Ich schrecke davor nicht zurück und, wie es den Tischgenossen des Paduaner Lukull geziemt, würde ich dieses hohe Konzilium mit den sprühenden Funken unserer Klingen gerne unterhalten; doch statt des Funkens, der nicht immer Feuer hat, würde ich viel lieber die Flamme der verständnisvollen Liebe wählen.«

Er legte eine kleine Pause ein, die wirkungsvolle Pause nach der Einleitung eines geschickten Redners. Der Hausherr hob ihm höflich seinen Pokal entgegen:

»Bravo, Cremonini, ausgezeichnet!«

Cremonini wurde nunmehr warm und fuhr mit der formvollendeten Gewandtheit des Kenners fort:

»Wenn es gelingt, und das ist der herzliche Wunsch von uns allen, daß unser Brotherr, die Serenissima, dich, den nicht Unwürdigen, auf den Platz des unvergeßlichen Moletti setzt, dann wird es durch die Artverbundenheit unserer beiden Wissenschaften zu einer wichtigen Frage, wieweit wir beide in den grundlegenden Lehrsätzen unserer Weltanschauung übereinstimmen. Du, der du mit deinem gewinnenden Wesen unser aller Herz im Flug erobert hast, bist hierhergekommen wie Simson, der uns peripatetische Philister mit dem Kinnbacken des von dir für einen Esel gehaltenen Aristoteles in die Flucht zu schlagen gedenkt.«

Der Redner machte abermals eine kleine Pause und erreichte wiederum, was er wollte: frohes Gelächter, und viele klatschten Beifall. Cremonini fuhr fort:

»Ich aber sage dir, liebwerter Benjamin, der du mit der Absicht des Simson zu uns kamst, daß du dich irrst; denn du kennst die Stadt des Bo noch nicht. Wenn du sonstwohin in Italien gegangen wärst, hättest du deine bereitgelegten Waffen nicht unnütz gewetzt. Hier aber, auf dem für uns so geheiligten Boden des altehrwürdigen Pataviums, mußt du deine Waffen wieder auf ihren alten Platz zurücklegen. Denn die Bewährung dessen, woran wir glauben und was wir lehren, sehe ich, der zwar unwürdige, aber amtliche Vertreter der Naturwissenschaften, nicht in dem Festhalten oder Nichtfesthalten an den Lehrsätzen des Aristoteles, sondern in etwas ganz anderem, o Galilei. Und ich kann dir in einem einzigen kleinen Wort sagen, worin ich es sehe: in der Freiheit.«

Abermals schwieg der Redner und sah bescheiden vor sich hin. Tobender Beifall erdröhnte um den Tisch herum.

»Erhebe dich, Cesare!« rief stolz der Hausherr.

Cremonini erhob sich bereitwillig, und während ihm ein neuer Applaus entgegenschwoll, ließ er die Finger seiner rechten Hand nachdenklich über den Rand des vor ihm stehenden Glases gleiten.

»Sicherlich bist du schon über den unerquicklichen Kampf unterrichtet, den hier in der altehrwürdigen Stadt der Freiheit jener Versuch entfacht hat, zwei Dinge miteinander zu vermengen: die Religion und die Wissenschaft. Vielleicht wird mich nicht der Vorwurf der Unbescheidenheit treffen, wenn ich darauf hinweise, daß das Hauptbestreben meines bisherigen Lebens darin bestand: zu klären und jedem verständlich zu machen, daß die Religion und die Wissenschaft getrennte Wege zu gehen haben. Wer mit Experimenten der Naturwissenschaft die geheiligten Wahrheiten der Theologie antasten wollte, würde gegen unsere heilige Religion verstoßen. Einen derartigen Versuch würden wir in erster Linie verurteilen; denn der religiöse Glaube hat nichts mit dem Wissen zu tun. Aber ebenso stehen wir auch mit unserem Leben dafür ein, – es hat schon welche unter uns gegeben, die das mit ihrem Leben bezahlten, – daß man die Naturwissenschaften hinwiederum nicht mit den Waffen der Religion angreifen dürfe; denn das Wissen hat mit dem religiösen Glauben auch nichts zu tun. Ich will nur ganz kurz auf Giordano Bruno verweisen, der erst unlängst unter uns weilte und den die Gottesgelehrten wegen astronomischer Fragen jetzt zur Verantwortung ziehen und eingekerkert halten. Wir ehren die Gottesgelehrtheit als eine heilige Wissenschaft, und wir haben auch einen Vertreter dieser Wissenschaft unter uns. Daß sich aber die Theologie in unsere Fragen der Physik, der Geschichte, der Medizin, der Sprachen oder der Mathematik einmengt, das haben wir noch nie und unter keinen Umständen zugelassen, und wir werden es auch nie und unter keinen Umständen zulassen.«

Tosender, lang anhaltender Beifall. Cremonini läßt den Sturm abebben, dann wendet er sich wieder an Galilei.

»Wenn also die Zukunft unsere liebwerte Hoffnung verwirklicht und wir dich, o gelehrter und hervorragender Mann, unter uns als Kollegen werden begrüßen können, so sieh die wahre Kraft deines Schaffens nicht darin, daß du diese oder jene Schule der Philosophie in ihren einzelnen Lehrsätzen zu widerlegen vermagst, sondern darin, daß unerwünschte Einflüsse dein hiesiges Schaffen niemals hindern werden. Wenn du dich von der Wahrheit einer Sache überzeugt hast, so kannst du das hier frei verkünden. Es kann vorkommen, daß einige mit deinen Behauptungen nicht ganz übereinstimmen, dann werden wir miteinander streiten, uns messen, aber nur mit den Waffen der Wissenschaft. Wenn ich dich also auf dem freien Boden der erhabenen Republik Venedig in unser aller Namen, in Liebe zugetan, begrüße, bitte ich dich zugleich, präge unseren Spruch, unser Prinzip und unsere Überzeugung tief in dein Herz ein: gib dem Staat, was des Staates ist, Gott, was Gottes ist, und der Wissenschaft, was der Wissenschaft ist!«

Er setzte sich. Stürmische Evvivarufe. Cremonini dankte für die Huldigung und nickte von seinem Platz aus nach rechts und links mit dem Kopf. Gleichzeitig riefen aber auch schon mehrere nach Galilei. Sie wollten seine Erwiderung auf diese Rede hören. Nach kurzem Zögern erhob er sich. Sofort wurde es still.

»Euer Gnaden, erhabene gelehrte Herren«, begann er, »ich kann gar nicht sagen, wie tief mich die an mich gerichteten gütigen Worte bewegt haben. Ich kann sie würdig, wie sie es verdienten, auch gar nicht erwidern; denn ich ahne, je mehr ich bestrebt wäre, ernst zu antworten, um so größere Heiterkeit würde bei Eurer erlesenen Gesellschaft meine starke toskanische Aussprache auslösen.«

Man lachte, winkte ihm freundlich zu, man munterte ihn auf.

»Ich möchte auch nicht lange die Geduld der lieben Gäste in Anspruch nehmen. Ich möchte deshalb nur sagen dürfen, daß ich die Weisheit der soeben gehörten Worte mit offenem Herzen in mich aufnehme und daß diese Weisheit mich mit unendlicher Beruhigung erfüllt. Alles das, was ich während meiner bisherigen kurzen Laufbahn für unhaltbar erkannte und zu widerlegen für notwendig erachtete, wollte sich in der Tat stets unter dem Mantel der Kirche verbergen. Hinter diesem Mantel ist es dunkel. Ich habe keine größere Sehnsucht, als denen zu helfen, die in diese Finsternis hineinleuchten wollen. Daß ich aber zu helfen vermag, hängt nicht allein von mir ab. Erlauchte Herren, ich liebe es, offen und gerade zu reden. Ich will auch jetzt sagen, was mir auf dem Herzen liegt: ich sehne mich unendlich danach, hier in Padua einen Lehrstuhl erhalten zu können. Helft mir, ihr Herren! Bei meinem Wort, ihr sollt es nicht zu bereuen haben! Wollt ihr mir helfen?«

In dem flehenden Gesichtsausdruck, mit dem er lächelnd in die Runde sah, lag etwas von der Hoffnungsfreudigkeit eines kleinen Kindes, das um Essen bittet. Die Anwesenden lachten, riefen »Evviva«, sprangen von ihren Plätzen hoch, drängten sich zu ihm, klopften ihm auf die Schultern. Dann setzte sich jeder wieder auf seinen Platz, und man unterhielt sich nunmehr ohne große Reden zwanglos weiter. Später zog ihn Pinelli zur Seite.

»Ich habe nun beinahe alle um ihre Meinung befragt, mein lieber Freund«, sagte er, »und muß Euch beglückwünschen, daß Ihr hier schon jeden erobert habt. Alle sind von Euch einfach hingerissen. Die Unterstützung des Universitätsrates ist Euch also sicher. Bleiben nur noch die Herren in Venedig.«

»Ob es gelingen wird?«

Pinelli nickte lächelnd.

»Jetzt, wo ich Euch kennengelernt habe, wage ich zu behaupten, daß es gelingen wird. Ihr paßt wirklich hierher, mein Herr. Warum seid Ihr verwundert?«

»Weil man mich in Pisa stets für einen unmöglichen, unverträglichen und unangenehmen Menschen hielt. Das Gefühl, daß ich irgendwo auch beliebt sein könnte, ist für mich so ungewohnt, daß es mich verwirrt. Ich muß mich erst daran gewöhnen.«

»Gut«, lachte Pinelli, »setzt Euch, schenkt Euch ein, trinkt und gewöhnt Euch daran.«

Da riefen die beiden Nachbarn des leer gewordenen Stuhles schon:

»Der Hausherr belegt unseren Freund mit Beschlag! Das können wir nicht zulassen!«

Mit strahlendem Gesicht, glückselig, eilte Galilei zurück auf seinen Platz.


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