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Viertes Kapitel

»Galileo Galilei, ein Florentiner Edelmann, ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt, in allen Wissenschaften der Mathematik außerordentlich beschlagen, Schüler von Ostilio Ricci, dem berühmten Manne, der einst im Dienste des hochseligen Herzogs Francesco stand, der diesen jungen Menschen stets wärmstens empfohlen hat, begann mit öffentlichen Vorträgen in Siena. Es gelang ihm sehr bald, auch private Kreise zu interessieren und so hielt er vor zahlreichen vornehmen Herren in Florenz und in Siena Vorträge. Ein bedeutender Gelehrter, der neben Mathematik auch viele andere Wissenschaften studiert hat, wie Humanismus, Philosophie und so weiter. Zur Zeit wünscht er in dieser Stadt mathematische Vorträge zu halten und ist bereit, sich auf diesem Gebiete mit jedem Gelehrten auf jedem Gebiete dieser Wissenschaft zu messen.«

Dieses Empfehlungsschreiben schickte der junge Gelehrte versiegelt nach Bologna an den Senator Dall'Armi, eine in Universitätsangelegenheiten einflußreiche Persönlichkeit. Und kein Geringerer hatte die empfehlenden Zeilen unterzeichnet als der Bischof von Tarso, Ascanio Piccolomini, dessen Vater zum Hofstaat der Medicis gehörte. Denn die Zahl der Gönner und Bekannten war von Tag zu Tag gewachsen. Der junge Mathematiker wurde eine bekannte Persönlichkeit.

Anfangs hatten ihn nur die Nachbarn gekannt: er war der Sohn des Tuchhändlers, der mit Schimpf und Schande als völlig unbegabt von der Universität zu Pisa nach Hause zurückgekehrt war; der Vater konnte keinen Arzt aus ihm machen, der Junge hatte sich auf der Universität nur zu seinem Nachteile verändert. Dann machte er die Bekanntschaft einiger Freunde seines Vaters, und schon unter diesen befand sich manch einer, der etwas von den Wissenschaften verstand. Ostilio Ricci hatte ihn weiter bei Hofe diesem und jenem vorgestellt. Vielen war bereits auch seine hydrostatische Waage bekannt, mit anderen wiederum hatte er sich um Aristoteles gestritten und die Kühnheit, mit der er die Unfehlbarkeit des griechischen Halbgottes einfach in Frage stellte, hatte seine Gegner allesamt staunen gemacht. Dann hatte jemand seine Arbeiten über Raum- und Flächeninhalt der Danteschen Schauplätze entdeckt und ihm geholfen, sie zu veröffentlichen. So hatte er sich allmählich einen Namen gemacht und war ebenso berühmt wie berüchtigt. Die geduldigen Menschen nickten ihm wohlwollend und friedlich zu, die ungeduldigeren, insbesondere die angesehenen Alten und unter diesen wiederum die sogenannten Halbgebildeten, die nicht vom Fach waren, hielten ihn für einen unverschämten, unbotmäßigen, maßlos eingebildeten Burschen.

Der Bischof Ascanio gehörte zu den Geduldigen. Er war mit ehrlichem Wohlwollen bestrebt, dem genialen jungen Mann, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte, zu helfen. Dieser junge Kerl hatte einmal eine eigentümliche Bemerkung gemacht, die ihm besonders gut gefiel.

»Du bist ein sehr kluger Junge!« lobte der Bischof den Sohn des Tuchhändlers.

»Ja«, erwiderte er gleichmütig, »ich bin sehr klug auf die Welt gekommen. Manchmal bewundere ich meinen Verstand selbst, wie scharf und schnell er ist.«

»Und hast du keine Angst, daß man dich für einen Prahler hält, wenn du so von dir sprichst?«

»Angst? Ich habe nicht die geringste Angst. Ich sage das ja auch nicht einem jeden, nur einem, von dem ich weiß, daß er mich richtig versteht. Ein dummer Mensch kann nicht wissen, ob ich klug bin, weil er gar kein Maß hat, mit dem er das Ganze wägen könnte. Wie sollte einer mit einem Zollstock fünf Maß Wein messen können? Deswegen darf man mit einem dummen Menschen nicht von Klugheit reden. Wenn ich mit jemandem überhaupt von Klugheit spreche, gleichgültig ob von meiner oder der Klugheit eines anderen, so ist das schon ein Zeichen dafür, daß ich auch den Betreffenden für klug halte.«

»Ich besitze also, mit einem Wort, das erforderliche Maß?« fragte der Bischof lächelnd.

»Sicher, sicher«, antwortete ebenfalls lächelnd der junge Mann.

»Du gefällst mir, Junge! Wenn wir also beide soviel Verstand besitzen, dann wollen wir uns auch an das Empfehlungsschreiben setzen und es gemeinsam recht geschickt abfassen.«

Vergnügt entwarfen sie das Schreiben, die verschiedensten Gesichtspunkte schlau beachtend. So schrieben sie zum Beispiel »ungefähr sechsundzwanzig Jahre«, obwohl er das vierundzwanzigste noch kaum erreicht hatte, aber dieses Wörtchen »ungefähr« enthob die Schreiber der Pflicht zu peinlicher Genauigkeit. Hätten sie geschrieben, daß der Bittsteller erst dreiundzwanzig Jahre alt sei, so hätten sie von Bologna kaum erwarten können, daß es den Bittsteller als einen Anwärter auf einen Lehrstuhl an der Universität ernst nehmen würde. »Ungefähr sechsundzwanzig Jahre«, – das klang schon nicht so unmöglich. Dazu kam noch eine kleine Verdrehung; den verstorbenen Herzog Francesco erwähnten sie so, daß man die »warmen Empfehlungen« auch auf ihn hätte beziehen können. Es konnte ebensowohl Ostilio Ricci wie der Herzog Francesco sein, »der den jungen Menschen stets wärmstens empfohlen« hatte. Das Schreiben erwähnte den Dekan der Universität Pisa nicht, – vielleicht fiel es der Stadt Bologna ein, sich bei dem Professorenkollegium der Universität Pisa zu erkundigen? Daraus hätte nichts Gutes werden können. Aber Siena, die altehrwürdige Stadt der Piccolomini, wurde genannt. Wer sich um Aufklärung nach Siena wendet, gelangt früher oder später zu den Piccolominis, und der Bischof Ascanio wird dann um eine passende Antwort nicht verlegen sein. »Er begann mit öffentlichen Vorträgen in Siena«. Auch das war zweideutig. Wenn jemand es so auslegte, daß der Bittsteller diese öffentlichen Vorträge von irgendeinem Katheder der Universität in Siena gehalten habe, so war das seine Sache. Wenn sich aber jemand die Mühe nahm, diesen Satz zu zerpflücken, so wurde ihm sofort eindeutig klar, daß er, nämlich Galileo Galilei, in Siena begann, öffentliche Vorträge zu hören. In Pisa war er noch Mediziner gewesen, diese Stadt durfte also nicht erwähnt werden. Und daß er vor »zahlreichen vornehmen Herren in Florenz und auch in Siena Vorträge gehalten«, konnte nicht bezweifelt werden. Denn er hatte wirklich gerade genug vornehmen Leuten seine hydrostatische Waage erklärt. Und was sollte das anderes sein, wenn kein Vortrag?

Der Brief ging nach Bologna ab. Und es war nicht der einzige Brief, der im Interesse von Galileo Galilei Bologna bestürmte. Nicht der erste und nicht der letzte. Ignazio Danti, Professor für Mathematik an der Universität zu Bologna, war gestorben. Bologna benötigte also tatsächlich einen Mathematiker für das sogenannte Nachmittagskolleg, die › cathedra pomeridiana‹. Und vorerst war noch nichts verlautet, daß ein anderer Kandidat die Cathedra besetzen sollte. Im Galilei-Hause sprach man schon immer frohlockender von der Zeit, wo der junge Mann Professor in Bologna sein würde. Sowohl er selbst, als auch die anderen Mitglieder der Familie begannen ihre diesbezüglichen Sätze zwar stets mit: »Wenn uns der liebe Gott beisteht« oder »wenn alles gut geht«, aber mit einer solchen Einleitung wähnten sie sich gegen den Vorwurf allzu leichtfertiger Hoffnungen gesichert zu haben, und in den nachfolgenden Sätzen malten sie die schöne Zukunft mit um so größerer Selbstverständlichkeit und Gewißheit aus.

Der Anwärter auf den Lehrstuhl in Bologna wartete und arbeitete. Daß das, was er tat, einzigartig und wichtig war, hatte er ganz klar erkannt. Seine Berechnungen des Schwerpunktes der abgestumpften Pyramide legte er in einem langen Brief an Clavius nieder und erhielt darauf eine Antwort, wie sie nur ein bedeutender Gelehrter einem anderen bedeutenden Gelehrten erteilen kann. Diese Antwort ermutigte ihn, auch an Moletti, den berühmten Professor in Padua, bei dem er die ersten Spuren einer tapferen Auflehnung gegen die Irrtümer des Aristoteles entdeckt hatte, zu schreiben. Moletti antwortete außerordentlich liebenswürdig und mit großer Anerkennung. Diese Antwort leitete einen ständigen Briefwechsel ein, dem sich noch ein anderer Professor in Padua anschloß, ein gewisser Riccoboni, der in der Universitätsstadt der venezianischen Republik Rhetorik lehrte. Ein Korrespondent schloß sich dem anderen an und mit einem Male bemerkte der Sohn des Tuchhändlers, nunmehr ein bärtiger Mann von vierundzwanzig Jahren, daß er mit angesehenen Gelehrten und vornehmen Gönnern der Wissenschaften einen weitverzweigten Briefwechsel unterhielt. So erhielt er an demselben Tage einen Brief von dem Abbé Coignet, dem Hof-Mathematiker des Herzogs Albrecht und der Isabella von Asturien, – und vom Grafen Marcantonio Bissaro aus Vicenza, der großen Gefallen an dem Briefwechsel mit berühmten Gelehrten fand. Galilei konnte also ohne weiteres behaupten, daß er in der internationalen wissenschaftlichen Welt, zwar allmählich, einen gewissen Namen zu erlangen im Begriff war, dabei aber, obgleich er schon einen Bart hatte, seinem Vater immer noch auf der Tasche lag und aus eigener Kraft auch nicht ein einziges Goldstück zu verdienen imstande war. Im väterlichen Hause war er zu nichts anderem nütze, als daß er mit der ihm eigenen Geschicklichkeit die Waage reparierte, die für die Stoffe gebraucht wurde, die man nach Gewicht verkaufte. Das hätte irgendein Schlosser aber genau so gut machen können. Allzu lange Zeit lebte er nun schon untätig zu Hause und sowohl er, als auch seine Familie hatten das Gefühl, daß nunmehr endlich etwas geschehen müsse.

Und gerade jetzt traf die schönen, ausschweifenden Hoffnungen der erste Rückschlag. Es kam Nachricht aus Bologna, daß um den mathematischen Lehrstuhl ein gefährlicher Nebenbuhler aufgetaucht war, ein gewisser Giovantonio Magini. Er stammte zwar aus Padua, hatte aber die Universität zu Bologna besucht und als fleißiger und guter Schüler das Bakkalaureat, die akademische Würde, erhalten. Sein Hauptfach war die Sternenkunde, er hatte darüber sogar schon allerlei geschrieben und auch drucken lassen. Alles, was man von ihm hörte, war anständig, zuverlässig und ausgeglichen. Er hatte die Vorlesungen regelmäßig besucht, wurde nach fleißigem Studium innerhalb der vorgeschriebenen Frist Doktor, frevelte niemals gegen die anerkannten Autoritäten der Wissenschaft, und war auch kein Jüngling mehr, da er schon über zweiunddreißig Jahre zählte. Mit diesem Manne hatte sich also der unruhige, unverträgliche, im Studium hin- und herschwankende Kaufmannssohn zu messen, der das vierundzwanzigste Lebensjahr noch nicht beendet hatte, das Doktorat noch nicht erworben hatte und auch noch durch keinerlei wissenschaftliche Veröffentlichungen seine Befähigung für das Lehramt nachzuweisen vermochte.

Die Nachricht von dem Rivalen jagte dem jungen Antragsteller, der den künftigen Sieg schon reichlich gefeiert hatte, einen mächtigen Schrecken ein. Jetzt hätte es so wohlgetan, zu dem alten, guten Ricci laufen zu können und sich von ihm beruhigen zu lassen. Aber Ricci war nicht mehr im Palazzo Pitti, er war in ein kleines Dorf gezogen und bald traf auch die Nachricht von seinem Tode ein. Auch ihm war es gegangen, wie so vielen alten, in den Ruhestand versetzten Beamten: wenn sie aus ihrer jahrzehntelangen Umgebung und Arbeitseinteilung herausgerissen werden, siechen sie dahin wie ein auf das Trockene geworfener Fisch.

Und nicht nur über die etwaigen Aussichten des gefürchteten Gegners hätte er mit Ricci sprechen mögen, auch noch über vieles andere wäre ihm sein guter Rat willkommen gewesen. Moletti war in Padua gestorben. Er war sehr alt geworden und man konnte seinen Tod nicht als unerwartet bezeichnen. Aber er war seit so langer Zeit ein alter Mann, daß mit dieser Möglichkeit überhaupt schon niemand mehr gerechnet hatte: seine Bekannten hatten sich auch daran gewöhnt, daß er ein Greis war und immer noch lebte. Jetzt war er fort und der mathematische Lehrstuhl in Padua war leer. Und obwohl die venezianische Aufsichtsbehörde der Universität in Padua erklärte, aus Pietät und Achtung vor dem großen, weisen Gelehrten den Lehrstuhl vorerst nicht neu besetzen zu wollen, so konnte dieses Katheder doch eine neue Hoffnung für den jungen, beschäftigungslosen Mathematiker bedeuten. Dann: auf dem Throne von Florenz saß ein neuer Mann, der durch den sonderbaren Tod seines Bruders emporgekommene Fernando, dem es überhaupt nicht einfiel, zur Ausbildung der Missionare nach Rom zurückzukehren. Schon hatte er auf seine Kardinalswürde verzichtet, war mit päpstlicher Erlaubnis in das bürgerliche Leben zurückgekehrt und begann nach Art neuer Herrscher schwungvoll zu regieren und zu reformieren. In jedem Gefüge der Staatsmaschinerie tauchten neue Reformpläne auf. Man befaßte sich auch besonders mit der Universität zu Pisa, die dem Staat Florenz unterstand. Es schien nicht mehr unmöglich, daß Pisa ernsthaft erwägen würde, seinen Lehrkörper durch eine bislang schmachvoll fehlende mathematische Professur zu ergänzen. Endlich stöberte jemand noch auf, daß einst auch in der Hauptstadt Florenz ein mathematischer Lehrstuhl bestanden habe – allerdings ohne den Rahmen einer Universität – und daß diesen Lehrstuhl Ostilio Ricci, der damals noch junge Gelehrte und bevorzugte Mathematiker des Hofes, innegehabt hatte. Warum könnte man also den neuen Herrscher nicht überreden, innerhalb seiner umfassenden Reformbestrebungen auch das wieder einzuführen und den mathematischen Unterricht der Jugend dem jungen und berühmten Florentiner anzuvertrauen?

Diese Tatsache hatte ein hoher Geistlicher in Florenz aus alten Erinnerungen ausgegraben: der Kardinal Francesco del Monte, das heißt genau genommen nicht einmal er, sondern sein Bruder, der Marchese Guidubaldo del Monte, Architekt aus Liebhaberei und reicher Grundbesitzer in Pesaro. In dem nach und nach immer bedeutendere Persönlichkeiten aufweisenden Bekanntenkreise Galileis war endlich sogar der Kardinal aufgetaucht, der ihm eines Tages die dringende Botschaft schickte, ihn unverzüglich zu besuchen: der Marchese sei aus Pesaro zu Besuch angekommen und wünsche den jungen Gelehrten kennenzulernen.

Die Nachricht erreichte Galileo beim Faulenzen: er lag auf dem Hofe im Schatten auf einer Matte, halb las er Ariosto, halb schlummerte er. Sofort sprang er aber vollkommen frisch auf die Beine. Von dem interessanten Marchese, der durch seine mathematischen Kenntnisse schon Universitätsprofessoren zur Bewunderung hingerissen hatte, war ihm schon vieles zu Ohren gekommen.

Er fand einen auffallend klein gewachsenen alten Herrn bei dem Kardinal vor. Wie ein Gnom aus dem Märchen sah dieser winzige Greis aus. Sein langer, dichter Ziegenbart reichte ihm bis zur Mitte der Brust. Ein Sonnenstrahl tanzte funkelnd auf seinem kahlen Schädel, und was noch zwischen dem großen Bart und dem glänzenden Gesicht zu sehen war, das war von tausend kleinen Falten kreuz und quer zerfurcht. Aus diesem Gesicht mit den unwahrscheinlich vielen Falten blickten aber zwei überraschend klare und junge Augen in die Welt. Der ganze Mann machte den Eindruck eines Methusalem, seine Augen jedoch hätten auch einem zwanzigjährigen Jüngling gehören können. Seinen auffallend strahlenden Blick begleitete ein mildes und weises, nie erlöschendes Lächeln, das so wirkte, als hätte er ständig jemandem verziehen; man konnte nicht wissen wem und man konnte auch nicht wissen was. Den eintretenden jungen Mann begrüßte er durch ehrerbietiges Aufstehen mit einer zeremoniellen Verbeugung. Er war außerordentlich höflich und voller Etikette-Rücksichten. Als ob er aus der längst vergangenen und viel ruhmvolleren Vergangenheit Florenz' irrtümlich hier zurückgeblieben wäre, – als ob er zu den Helden jener Geschichten gehörte, die sich die Alten von dem wundersamen Hofe des Lorenzo Magnifico erzählten.

»Ich habe schon von Euch gehört, mein vortrefflichster Herr«, sagte er gesittet, als ob er ein Gedicht vortragen wollte.

»Durch wen, mein Herr Marchese?« fragte Galileo verwundert.

»Zum Teil von meinem anwesenden Bruder, zum Teil von meinem lieben und unvergeßlichen Freunde Moletti, den mir der Tod entriß.«

»Hat denn Moletti mit Euch, mein Herr Marchese, über mich gesprochen?«

»Allerdings. Und er zeigte mir auch einige Briefe von Euch, mein sehr verehrter Herr, die mich mit Hochachtung und Bewunderung erfüllten. Die ideen- und geistreiche Berechnung des Schwerpunktes hat mir einen seltenen künstlerischen Genuß gewährt.«

Der goldbetreßte Diener, der lautlos seinen Pflichten oblag, goß Malvasier Wein in die venezianischen Kristallpokale. Der Kardinal bat seine Gäste, sich zu bedienen. Sie tranken, als ob sie eine offizielle Zeremonie bei Hofe verrichteten.

»Ob sich unser Aristoteles, dieses peripatetische Genie, in der Tat irrte, als er vom freien Fall behauptete …«

»Was Aristoteles von der Gravitation sagt, ist vollkommener Blödsinn. O, ich bitte um Entschuldigung, mich reißt die …«

Aus dem Lächeln des weisen kleinen Mannes sprachen Nachsicht und Verzeihung noch deutlicher als vorher.

»Das schadet nichts, mein Herr. Es gehört zur Ordnung der Welt, daß die Jugend Feuer hat. Ich liebe weder den hitzigen Greis, noch den allzu maßvollen Jüngling. Ob ich wohl des Vorzuges teilhaftig werden könnte, jene gewissen Versuche mit den Pendeln kennenzulernen, die bestätigen sollen, daß die Fallgeschwindigkeit aller Körper die gleiche und von ihrem jeweiligen Gewicht nicht abhängig sei?«

Galileo rückte lebhaft auf seinem Stuhl hin und her. Dann begann er seine Ansicht über die Sache und die Irrtümer des Aristoteles darzulegen. Der Greis hörte ihm mit nach vorn geneigtem Oberkörper höflich zu. Er nickte des öfteren beifällig. Als Galileo seinen langen Vortrag beendet hatte, bat der Marchese um Erlaubnis, nunmehr auch seine wichtigsten Einwendungen anführen zu dürfen. Daraus entstand eine sehr ungleiche Diskussion. Der alte Aristokrat sprach außerordentlich ruhig, in artigen, wohlgefälligen und verwickelten Sätzen; der junge Gelehrte unterbrach ihn fortwährend, gestikulierte unbeherrscht und brachte sich schließlich derart in Erregung, daß er bei der abermaligen Erwähnung des Aristoteles in heftige Schimpfworte ausbrach. Der Marchese del Monte nickte mit dem Kopf und lächelte. Beide genossen sie die Debatte außerordentlich. Bald darauf wechselten sie das Thema. Sie baten sich von dem Kardinal Papier und Federkiel aus, zeichneten Kreise und schrieben Gleichungen auf. Ein Page brachte einen mehrarmigen Leuchter, zündete die Kerzen an, – sie debattierten unentwegt weiter. Später folgten sie der Aufforderung des Kardinals, gingen in den anschließenden Saal hinüber und nahmen zu dritt an der Tafel Platz. Der Hausherr hatte bisher kaum ein Wort gesprochen, sie hingegen erörterten ohne Unterbrechung ihre wissenschaftlichen Hypothesen und schenkten den vorzüglichen Gerichten nur sehr geringe Beachtung. Nach dem Mahl kehrten sie in lebhaftem Gedankenaustausch zu ihren Papieren zurück und fuhren dort fort, wo sie aufgehört hatten.

Als sie endlich alle ihre Probleme der Reihe nach durchgenommen hatten, bemerkten sie plötzlich, daß die goldverzierten, roten Kerzen fast heruntergebrannt waren und der Kardinal nirgends zu sehen war. Der auf ihr Glockenzeichen herbeieilende Page berichtete untertänig, daß Monsignore den Gedankenaustausch der hohen Gäste nicht habe behelligen wollen und sich zurückgezogen habe.

Sie trennten sich jedoch noch immer nicht. Der Marchese erkundigte sich teilnehmend nach den Verhältnissen und der Zukunft des jungen Mannes. Treuherzig berichtete Galileo alles Wissenswerte. Insbesondere erzählte er von seinen Hoffnungen auf Bologna und von der Gefahr, die ihm durch das Auftauchen des Rivalen drohte.

»Ich kenne jenen Magini«, sagte der Marchese, »und es tut mir unendlich leid, aber ich muß ihn als ganz unmöglichen Menschen bezeichnen. Er ist nicht dumm, sondern weit schlechter als das: mittelmäßig. Er verfügt über ein Maß an Fleiß, wie wir es sonst nur bei Lasttieren zu finden gewohnt sind. Gefühlsmäßig scheut er sich vor allem, was neu ist. Wenn er die Professur erhält, wird er der Universität nützlich und der Wissenschaft schädlich sein. Denn die Studenten wird er großartig über das unterrichten, was schon da ist, sie aber gleichzeitig vor allem zurückhalten, was noch nicht da ist.«

»Verzeiht, Herr Marchese«, entgegnete Galilei, »aber ich wage zu bemerken, daß ich sowohl der Wissenschaft als auch der Universität wertvoll sein könnte. Ich fühle, daß ich noch zu allerlei Neuem fähig bin. Und wenn das alles den Ruf der Universität Bologna für die nächsten Jahrhunderte erhöhen könnte, so wäre ihr das nur von Nutzen.«

Der Marchese verbeugte sich im Sitzen bedächtig und höflich.

»Die Antwort ist des Kenners der Klassiker und des Klassikers der kommenden Erkenntnis würdig.«

Galilei wäre am liebsten aufgesprungen, um den vornehmen kleinen Greis stürmisch an sich zu drücken und rechts und links zu küssen. Er empfand eine leidenschaftliche Zuneigung zu ihm. In der außerordentlichen Liebenswürdigkeit des alten Mannes lag nicht nur etwas Anziehendes, sondern zugleich auch etwas Zurückweisendes. Seine runzlige Kindergestalt umwehte die Atmosphäre der Vornehmheit und Würde.

Als sie endlich in später nächtlicher Stunde Abschied nahmen, verbeugte der Marchese del Monte sich nicht weniger zeremoniell als der Teilnehmer einer großartigen Hof-Veranstaltung.

Auch am zweiten und dritten Tage verbrachten sie viele Stunden gemeinsam. Schließlich reiste der Alte mit dem Versprechen ab, daß sich Galileo in allem seiner Fürsprache versichert halten dürfe. Er lud ihn in sein Schloß nach Pesaro ein und forderte ihn zu einem ständigen Briefwechsel auf.

Der mittellose junge Gelehrte reiste zwar nicht nach Pesaro, um so häufiger schrieb er aber. In seinen Briefen an den Marchese und Clavius fand er Trost, wenn er über das gewöhnliche Maß hinaus Grund hatte, verbittert zu sein. Und das war nicht selten der Fall. Seine Hoffnungen auf Bologna schrumpften immer weiter zusammen. Wie die Monate verstrichen, so verminderten sich gleichermaßen diese Hoffnungen. Und als es August geworden war, traf dann auch die niederschmetternde Nachricht ein: den mathematischen Lehrstuhl an der Universität zu Bologna hatte Giovantonio Magini erhalten.

Schwere Wochen folgten: sein tägliches Leben in der Familie wurde wieder zu einer kaum noch zu ertragenden Qual. Sein Vater sprach wiederum kein Wort mehr mit ihm. Er pflegte zwar auch sonst nicht viel zu reden; seine freie Zeit widmete er seinen musikhistorischen Werken und dem Freundeskreise, der sich in einer für die Familie unerklärlichen Weise mit nie zur Aufführung gelangenden Theaterstücken und deren nie zum Vortrag kommenden Vertonung befaßte. Sonst ging er wortlos neben seinem erwachsenen Sohne einher, und wenn sich Gelegenheit geboten hätte, den Sohn zu tadeln, schwieg er um so düsterer. Dieses Schweigen war aber tödlicher als tausend Vorwürfe. Michelagnolo übte von frühmorgens bis spätabends auf seiner Laute, die Heranwachsenden Schwestern kicherten untereinander und flüsterten sich in der Ecke kleine Geheimnisse zu, die Mutter arbeitete unaufhörlich, wütete und zankte. Mit Galileo unterhielt sich keiner; sie lebten zwar neben ihm, hielten sich aber von ihm fern, als ob er mit einer ansteckenden Krankheit behaftet wäre. Und jede Woche einmal fand der übliche Skandal statt: die Mutter tobte, schrie, knallte mit den Türen, schlug alles kurz und klein, was ihr im Wege war; die Nachbarn liefen zusammen, zehn Häuser weit drang das Geschrei, lachende Kinder sammelten sich vor dem Tore an, um den Höllentanz im Galileischen Hause mitzuerleben.

Die Aussichten auf Bologna waren zunichte geworden, es blieben noch zwei Möglichkeiten: warten – vielleicht jahrelang, bis Venedig den leergebliebenen Platz des verstorbenen großen Moletti dem jungen Mann, der nicht einmal das Bakkalaureat besaß, zugesprochen hatte, – oder warten, daß die Regierung von Florenz doch noch einen Lehrstuhl für Mathematik an der Universität zu Pisa einrichten und den schlecht beleumundeten Studenten dahin berufen werde, der dort die Vorlesungen geschwänzt, sich mit jedem Professor gezankt und unsinnig erscheinende Dinge behauptet hatte. Die Aussichten für die Zukunft waren in beiden Fällen gering. Und doch klammerte er sich mit aller Kraft an diese zwei Möglichkeiten.

Eines Tages ging das Temperament seiner Mutter wieder einmal mit ihr durch. Diesmal erwischte sie Galileo als erstes Opfer und stürzte sich mit der Wucht eines vulkanischen Ausbruches zornerfüllt auf ihn. Mit fürchterlichen Worten beschimpfte sie den nichtsnutzigen Tagedieb. Galileo war an diesem Tage gereizter als sonst. Er widersprach. Mutter und Sohn standen sich gegenüber; die Mutter wie eine Irrsinnige im tobenden Fieber ihres maßlosen Zornes, und auch der Junge unzurechnungsfähig im Schmerze über seine Tatenlosigkeit. Sie schrien beide wie die Besessenen. Plötzlich schlug die Mutter ihren Sohn aus ganzer Kraft zweimal ins Gesicht. Gerade in dem Augenblick, als der Vater aus dem Laden herüberkam, um den Streit zu schlichten. Die Mutter brach in Tränen aus und begann ohne jeden Übergang den Sohn zu umarmen und zu liebkosen, den sie eben zuvor geschlagen hatte. Die anderen nahmen die Mutter beim Arm und führten sie fort. Jetzt standen sich Vater und Sohn gegenüber.

»Mein Sohn«, sagte der Vater leise, »das geht so nicht weiter. Ich habe es satt.«

»Ich sehe es ein«, erwiderte Galileo mit gesenktem Kopf, »Ihr tut mir aus ganzem Herzen leid. Ich werde morgen das elterliche Haus verlassen.«

»Wohin willst du gehen?«

»Ich gehe nach Pisa. Entweder erhalte ich dort an der Universität eine Anstellung oder …«

Er beendete den Satz nicht, hob nur die Schulter. Er ging, um sein Bündel zu schnüren. Dann besuchte er der Reihe nach seine Gönner und blieb besonders lange bei Belisario Vinta, auf den ihn noch der selige Ricci aufmerksam gemacht hatte. Vinta war stets sehr gütig zu ihm gewesen und hatte ihm schon lange versprochen, seine Angelegenheit mit dem Herzog Fernando selbst erledigen zu wollen. Jetzt wiederholte er sein Versprechen nachdrücklich.

Am Tage darauf erhob sich Galileo bei Sonnenaufgang. Alle schliefen noch, er wollte sich und ihnen die letzten bangen Minuten des Abschiedes ersparen. Er hinterließ seiner Familie einige wenige Zeilen und trat hinaus in den frostigen Frühmorgen. Frierend trottete er mit seinem Bündel auf dem Rücken zu jenem Radmacher am Ende der Stadt, der ihm versprochen hatte, ihn aus Freundschaft auf seinem Wagen mit nach Pisa zu nehmen.

Der Rektor in Pisa empfing ihn sehr kühl und unfreundlich.

»Ja, ich habe schon verschiedentlich allerhand Briefe von allerlei vornehmen Persönlichkeiten in dieser Angelegenheit erhalten. Das Professorenkollegium hält aber die Errichtung eines neuen Lehrstuhles zur Zeit nicht der Erörterung wert. Nächste Woche, am Montag, halten wir unsere nächste Besprechung ab, dann will ich diese Frage abermals zur Sprache bringen. Daß ich Euch aber nicht viel Hoffnung machen kann, glaube ich Euch heute schon sagen zu müssen.«

Müde und abgestumpft hörte Galileo ihn an. Er sprach noch bei verschiedenen einflußreichen Herren in Pisa vor, händigte ihnen allerlei Empfehlungsschreiben aus und bat sie, jeder Hoffnung bar, um ihr Wohlwollen. Er war froh, als er diese schweren Wege hinter sich hatte. Dann tat er tagelang gar nichts. Er fand in einem schmutzigen Wirtshaus Unterkunft, wie ein armer Wanderbursche; sein Geld reichte kaum noch für das tägliche Brot. Er irrte in den Straßen umher, seinen verschlissenen Umhang fröstelnd zusammengerafft, – am liebsten wäre er gestorben.

Montag mittag sprach er abermals auf der Universität vor. Die Beratung der Professoren war noch im vollen Gange. Er suchte den Pedell auf, um sich zu erwärmen und auch etwaigen Bekannten aus dem Wege zu gehen. Bei dem Pedell lag zu seiner größten Freude ein Brief für ihn. Schon an der Anschrift erkannte er die Züge des Marchese: » Al Molto Magnifico Signor onorando Il Sig. Galileo Galilei Pisa«. Hastig erbrach er mit seinen steifen Fingern das Siegel. Er las. Vielleicht enthielt der Brief irgend etwas Tröstliches über den Lehrstuhl in Padua; denn auf Pisa wagte er kaum noch zu hoffen.

 

»Mein hervorragend geschätzter, sehr geehrter Herr!

Ihr, mein Herr, habt keine Gelegenheit versäumt, mich auszuzeichnen, indem Ihr Eurer innigsten Freude über die Begeisterung meines Herrn Bruders, des Kardinals, für Eure Person Ausdruck gabt. Für das alles danke ich und küsse Euch, mein Herr, die Hand. Ich war in großer Sorge, ob Euch, mein Herr, die von mir aufgeworfenen wissenschaftlichen Probleme zugesagt haben, und beantwortete Euren Brief, ehrlich gesagt, eben deswegen nicht, weil ich die Befürchtung hegte, Ihr hättet sie schlecht verstanden. größter Freude nahm ich nun zur Kenntnis, daß Ihr Eure, die Gravitation betreffenden Berechnungen nach dem Auslande schickt, da diese Euch dort sicher große Ehren einbringen werden. Ich will auch jetzt nicht mehr langatmig werden. Wenn Ihr, mein Herr, mich gut kennt, so werdet Ihr nicht ermangeln, mir Bescheid zu geben, wie ich Euch zu Diensten sein kann. Und ich küsse Eure Hand.

Pesaro, den 30. Dezember 1588. Euer, mein Herr, geneigter Bruder Guidubaldo del Monte, Marchese.«

 

Der junge Mann, dem der Marchese brüderlich die von dem guten Ton geforderten brieflichen Handküsse sandte, seufzte schwer. Nichts Neues, keine Hoffnung. Da trat ein Student ein.

»Die Sitzung des Professorenkollegiums ist beendet«, sagte er zu dem Pedell, »ich bitte um die Sachen des Herrn Rektor.«

Galileo erhob sich und ging hinaus. In einem schwarzen Pelz mit Zobelkragen schritt der Rektor gerade die Treppe herab. Er begrüßte ihn und wartete.

»Wir haben die Angelegenheit erledigt, Messer Galilei«, sprach der Rektor gemessen, »der Lehrstuhl wird errichtet. Allerdings erst im Sommer. Ich will nicht verschweigen, daß unsere Auffassung sich nach wie vor nicht geändert hat. Unserer Meinung nach ist dieser Lehrstuhl überflüssig. Wir wünschen aber nicht, uns dem Willen der Regierung zu widersetzen. Die Einzelheiten können wir an einem der nächsten Tage besprechen, wenn ich mehr Zeit habe. Im übrigen wünsche ich Euch gute Gesundheit.«

Würdevoll zog der Rektor ab. Auch andere Professoren kamen bereits die Treppe herunter, Galileo hatte aber kein Verlangen, sie zu begrüßen. Sie waren insgesamt alte Feinde von ihm und jetzt seine neuen Kollegen. Schnell trat er auf die Straße hinaus.

»Ich bin Universitätsprofessor«, murmelte er verwundert vor sich hin.

Dann dachte er daran, daß er in sechs Wochen fünfundzwanzig Jahre alt werden würde. Erst danach fiel ihm ein, daß er sehr hungrig war, aber nur sehr wenig Geld hatte. Er rief das Gesicht Biancas in sein Gedächtnis zurück und jetzt erst erwachte die wahre Freude in ihm. Er blieb in dem leise rieselnden Regen stehen, blickte sich um und lachte laut aus vollem Halse. Die ihm Entgegenkommenden sahen verwundert auf den jungen Mann, der im Begriff zu sein schien, seinen Verstand zu verlieren.


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