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Drittes Kapitel

Im Frühling war er ausgezogen und im Herbst kehrte er bei gleichem Regenwetter auf dem gleichen Wege zurück. Nur die Erinnerungen einiger Monate brachte er mit, die aber wogen lange Jahre auf. Er hatte Siena gesehen, er hatte die mathematischen Vorlesungen im Hörsaal Senesis besucht, tagelang debattiert, er hatte die Gelehrten der altehrwürdigen Stadt der Piccolomini kennengelernt, hatte bei ihnen mit seinen kühnen Zweifeln an Aristoteles Ärgernis erregt. Endlich bekam er das Ganze satt, packte seine Habseligkeiten und machte sich bei entsetzlicher Hitze auf den Weg nach Rom. In Rom besuchte er das Collegio Romano, sprach mit dem Empfehlungsschreiben Riccis bei den verschiedensten Leuten vor, langweilte sich nach kurzer Zeit abermals, geriet abermals in den Geruch eines ehrfurchtslosen Frevlers, bekam auch dort wieder alles satt und rüstete abermals zum Aufbruch. Wenn er von den Ufern des Arno auf die Monate seiner Wanderschaft zurückblickte, reihten sich in seinem Gedächtnis in buntem Durcheinander die Fenster des Rathauses von Siena, die Türme San Gimignanos, die Tausende von Sternen widerspiegelnde Wasserfläche des Trasimenischen Sees, die altertümlichen Mauern der Gebirgsdörfer, die Peterskirche. Das alles kam ihm nur vor wie die Szenen eines Theaterstückes. Was ihm aber bis ins Innerste seiner Seele drang, was er gleich einem kostbaren Schatze mit nach Hause brachte, das war seine Begegnung mit dem Jesuitenpater Clavius.

Wenn er ihn mit in sich gekehrtem Blick wieder heraufbeschwor, sah er sich neben einem kleinen untersetzten Mann die schattigen Pfade des Pincio entlanggehen. Der kleine Mann ist überaus beleibt, er keucht unter der Wärme der schwarzen Kutte und fächelt seinen kahlen Kopf mit einem großen grünen Blatt. Trotzdem spricht er ächzend in einem fort zu dem von weither gekommenen jungen Burschen, entweder gebrochen in der Sprache der Römer oder in einem fremdartig klingenden Latein. Denn dieser Clavius war ein Deutscher, der in Bamberg das Licht der Welt erblickt hatte. Er war bei den Jesuiten eingetreten und vom Orden nach Portugal geschickt worden, um auf der Universität von Coimbra zu studieren, da der Ordensgeneral der Meinung war, daß in dem jungen Menschen eine seltene mathematische Begabung schlummerte, zu deren Entfaltung die Universität von Coimbra die geeignetste wäre. Als er seine Universitätsstudien beendet hatte, erhielt er sogleich einen Lehrstuhl: der Orden sandte ihn nach Rom, um dort die Schüler des Jesuitenkollegiums in der Mathematik, insbesondere aber der Geometrie, zu unterrichten. Mit dem jungen Mann aus Florenz, der mit seiner hartnäckigen, widerspenstigen Natur und seiner Respektlosigkeit dem Aristoteles gegenüber seine neuen Bekannten meistens vor den Kopf stieß, hatte er schon in der ersten Viertelstunde innige Freundschaft geschlossen. Er lud ihn zu seinen Vorlesungen ein, er unterhielt sich und debattierte öfter mit ihm; allmählich wurden diese Aussprachen immer häufiger, bis sie selbst schließlich bei täglichen Spaziergängen unzertrennlich wurden, soweit dies die Tageseinteilung des Mönches zuließ. Galileo zeichnete ihm die hydrostatische Waage auf, erklärte ihm seinen vom Pendel abgeleiteten Satz über die Zeitverhältnisse der Fallgeschwindigkeit und entwickelte ihm die von ihm durch seine Schwerpunktsforschung gefundenen Methoden. Schon nach einer Woche war der Altersunterschied zwischen dem fünfzigjährigen und dem dreiundzwanzigjährigen Gelehrten überwunden, die Verschiedenheit der Bamberger und der Florentiner Art ausgeglichen, der Gegensatz in der Lebensauffassung zwischen dem strenggläubigen Mönch und dem sich um die Kirche nicht viel kümmernden jungen Mann verwischt: sie beratschlagten und debattierten als zwei gleichwertige und innig miteinander verbundene Köpfe über Hunderte von immer neu auftauchenden Lehrsätzen.

In dem Bündel, das die Schultern des heimkehrenden Wanderburschen drückte, lag auch ein Buch. Christoph Clavius hatte dieses Buch geschrieben: es war eine lateinische Bearbeitung des großen Werkes des Euklid für solche, die die griechische Sprache nicht beherrschen, oder für Minderfortgeschrittene. Der Verfasser hatte dem jugendlichen Wanderer dieses kostbare Werk geschenkt. Aber was das Geschenk so wertvoll machte, war der Inhalt des Buches. Bei ihrer langen Unterhaltung waren sie kaum auf einen mathematischen Satz gestoßen, den Galileo nicht schon von Euklid her gekannt hätte. Wenn sie sich aber über das alles aussprachen, ordneten sich die Einzelheiten viel klarer und systematischer zum organischen Ganzen. Das war nämlich das Bewunderungswürdige an dem Verstande des deutschen Jesuiten: sein Gefühl für die Reinheit und Übersichtlichkeit des Systems. Als sie sich Lebewohl sagten, wußte der Jüngling kaum mehr als früher; was er aber wußte, das war in ihm zu tiefer Überzeugung herangereift.

Auch menschlich waren sie sich sehr nahe gekommen. Der alternde Mönch, der keine Angehörigen besaß, schloß den stämmigen, frischen Studiosus, dem die Lebendigkeit eines jungen Hundes eigen war, in sein Herz. Clavius selbst war ruhig, still und über alle Dinge der Welt friedlich und weise erhaben: er fand an diesem rebellierenden, heftigen, mit Händen und Füßen debattierenden, ruhelosen Jungen Gefallen. Der aber verspürte eine tiefe Zuneigung zu der reifen Festigkeit, die seiner Unrast so unendlich wohltat. Er liebte in dem betagten Gelehrten sein eigenes Vorbild. Von den jungen Jesuiten hatte er gehört, daß man Pater Clavius in der wissenschaftlichen Literatur schon des öfteren mit dem Namen »Euklid des sechzehnten Jahrhunderts« geehrt hatte. Auch hatte man ihm berichtet, daß Papst Gregor die Kalenderreform von Pater Clavius hatte bearbeiten lassen. Während ihrer gemeinsamen Spaziergänge streifte Galileos Blick oftmals verstohlen den kleinen kahlköpfigen Gelehrten, und er dachte mit begeisterter Ehrfurcht: dieser Mensch hat beschlossen, daß in der ganzen Welt auf den vierten Oktober des Jahres fünfzehnhundertzweiundachtzig sofort der fünfzehnte Oktober zu folgen habe!

Er wäre bis in alle Ewigkeit bei ihm in Rom geblieben, aber er erhielt von Ricci die Nachricht, daß es jetzt vielleicht nicht aussichtslos wäre, in Bologna einen Lehrstuhl zu erhalten, wenn man sich unverzüglich der Sache annähme. Und dann erkrankte auch Pater Clavius und mußte die Schwefelbäder der Campagna aufsuchen. Sie umarmten und küßten sich und nahmen Abschied voneinander. Der Mönch erteilte seinem jungen Kollegen noch seinen Segen und Galileo vermochte in der päpstlichen Stadt nun nichts mehr zu entdecken, was ihn noch hätte halten können. An einem späten Sommermorgen trat er den Heimweg auf der Landstraße an.

Und nun war er wieder zu Hause. Seine Familie empfing ihn nichts weniger als freundlich. Abermals kehrte er als Taugenichts in das elterliche Haus zurück, statt daß er irgendwo eine glänzende Stellung erhalten hätte und von dort Geld nach Hause schickte, um die Mitgift seiner Schwester Virginia zu vermehren. Wenn der Vater ihn etwas wärmer begrüßte, so geschah das nur, weil ihm Ricci bereits von den Aussichten in Bologna berichtet hatte. Aber schon am ersten Tage zog der Alte den heimgekehrten Sohn beiseite und brachte die Angelegenheit Virginias zur Sprache: der Bräutigam machte bezüglich der Mitgift Schwierigkeiten und verlangte außer der Bürgschaft des Vaters auch noch die Bürgschaft des zwar beschäftigungslosen, aber dereinst sicherlich gutverdienenden Sohnes. Schon nach den ersten Worten erklärte Galileo gutmütig, daß er gern bereit sei, die Bürgschaft für eine beliebig hohe Mitgift zu übernehmen. Es stehe ja nunmehr fest, daß er in kurzer Zeit vorwärtskomme, Clavius habe das in Rom auch schon gesagt.

Im Palazzo Pitti fand er ein großes Durcheinander vor, als er Ricci das erste Mal besuchte. In der Herrscherfamilie hatte sich ein bedeutsames Ereignis zugetragen: der jüngere Bruder des Herrschers, der Kardinal Fernando, war heimgekehrt. Sein Verhältnis zu seinem regierenden Bruder, dessen zweite Ehe er nicht billigen konnte, war zwar nach wie vor das denkbar schlechteste, aber Herzogin Bianca hatte sich solange bemüht, ihren Mann und ihren Schwager zu versöhnen, bis sich Fernando Medici entschlossen hatte, Florenz einen Besuch abzustatten. Jetzt war er also in Florenz eingetroffen, höchstwahrscheinlich in einer jener Prachtkutschen, deren Rappen den auf der Landstraße dahinschreitenden Wanderburschen überholt hatten. Und nun reihte sich ein Fest an das andere, und der Hof veranstaltete eine prächtige Jagd nach der anderen.

»Warte nur erst das Ende ab«, sagte Vincenzo, als sein Sohn am Familientisch das im Palazzo Gehörte erzählte, »ich traue diesem Frieden nicht. Fernando ist nur nach Hause gekommen, um Ordnung zu schaffen.«

»Wie soll er Ordnung schaffen?«

»Das weiß ich nicht. Irgendwie wird er diesem Flegel von einem Venezianer, diesem Vittorio Cappello den Laufpaß geben, der nur hierhergekommen ist, um uns mit seinen Steuerlasten zu drücken. Und dieser Hexe möchte man auch raten, ein wenig auf sich aufzupassen.«

Galileo drängte sein Märtyrerlächeln zurück. Er erwiderte nichts auf diese Bemerkung, die seine heimlich gehütete stille Liebe traf. Denn diese Liebe hatte sich auch während seiner Wanderschaft nicht geändert.

»Hör' zu«, fuhr der Vater fort, »in Rom hast du doch allerhand hören können, hat man denn dort nichts vom Kardinal Fernando erzählt?«

»Aber natürlich, sogar etwas sehr Interessantes. Seine Affäre mit Papst Sixtus und Kardinal Farnese.«

»Wie war das denn?«

»Der Papst zürnte dem Kardinal Farnese aus irgendeinem Grunde und verurteilte ihn zum Tode. Die Stunde der Hinrichtung war bereits festgesetzt. Herzog Fernando, der der beste Freund Farneses war, wandte sich nun wiederholt an den Papst mit der Bitte um Gnade für Farnese. Davon wollte der Papst aber nichts hören, auch nicht am Vorabend der Hinrichtung. Vergeblich flehte ihn Kardinal Fernando ein letztes Mal an, der Heilige Vater lehnte auch diese Bitte ab und legte sich in dem Bewußtsein ruhig zu Bett, daß sein Gebot erfüllt und der Kardinal Farnese bereits hingerichtet sein werde, wenn er morgens aus dem Schlafe der Gerechten erwachte. Nach päpstlichem Beschluß sollte der Verurteilte früh um fünf Uhr hingerichtet werden. Was tat da Herzog Fernando? Er stellte in der Nacht sämtliche Uhren des Vatikans um eine Stunde vor. Und als die Uhren ein Viertel vor fünf zeigten, es in Wirklichkeit aber erst ein Viertel vor vier war, weckte er den Papst auf seine eigene Verantwortung. Er bat nochmals um Gnade, jetzt im allerletzten Augenblick, zum allerletzten Male. Der Papst ließ sich mit dem Bittsteller in ein Gespräch ein und zögerte die Zeit absichtlich so lange hinaus, bis an der Uhr, die er verstohlen beobachtete, der Zeiger die fünfte Stunde überschritten hatte. Um fünf Uhr zehn Minuten begnadigte er endlich hämisch lächelnd den Kardinal. Er gab es sogar schriftlich und schlief dann weiter. Unser Fernando aber lief eilends mit der schriftlichen Begnadigung zum Scharfrichter. Er hatte reichlich Zeit: es war noch nicht einhalb fünf Uhr, als er bei ihm anlangte. Der Kardinal Farnese wurde nicht hingerichtet.«

Wohlgefällig hörte sich Vater Vincenzo diese Geschichte an.

»Ich sag' es dir ja. Der wird schon Ordnung machen. Und was hast du noch von ihm gehört?«

»Man lobt ihn besonders als Kunstmäzen.«

»Das liegt ihm im Blut, er ist ja ein Medici. Aber erzähle weiter.«

»Man sprach in Rom auch davon, insbesondere der deutsche Gelehrte Clavius, den ich schon öfters erwähnte, daß Kardinal Fernando es gewesen sei, der das verlorengegangene Ansehen des Vatikans in Sachen der Kunst wiederhergestellt habe. Die früheren Päpste hätten zu den ersten Kunstmäzenen der Welt gezählt, die letzten hätten aber keinerlei Gefallen mehr an der Kunst gefunden; besonders Pius V. habe sich in dieser Hinsicht von seinen heiligen Vorgängern weit entfernt, ihn hätten die Bilder und Statuen einfach gelangweilt und die berühmten alten Kunstsammlungen des Vatikans wären infolgedessen arg vernachlässigt worden, ja seien zum Teil zugrunde gegangen. Jetzt stelle aber unser Herzog den alten Ruf des Vatikans wieder her. Wo man auch nur eine antike Statue, Münze, eine Gemme oder sonst irgend etwas ausgrübe, schaffe man es geradewegs zu ihm. Er kaufe alles, was nur einen Wert habe.«

»Geld hat er dazu.«

»Und er versteht auch etwas davon. Man erzählt sich zum Beispiel, daß man vor vier Jahren bei der Porta San Paolo eine riesige Marmorgruppe gefunden habe, die Niobe und ihre Kinder darstellt. Fast unbeschädigt konnte man das Ganze ausgraben. Ich habe die Statue nicht selbst gesehen, aber Clavius hat sie gesehen und behauptet, sie sei wundervoll.«

Vincenzo nickte beifällig und zitierte seiner Gewohnheit gemäß aus Dante:

»O Niobe, mit Augen voller Qual
Erschienst du mir im Bild auf jenen Wegen,
Mit toten Kindern, vierzehn an der Zahl!«

»Und was hat er noch alles gesammelt?«

»Eine Venus, die man nach ihm die ›Venus von Medici‹ nennt. Man hat sie irgendwo in Tirol ausgegraben. Dann spricht man auch von einer berühmten Faunstatue, ich weiß das alles nicht mehr so genau. Daß er sich aber endgültig in Florenz niederlassen wird, mein lieber Vater, das glaube ich nicht. In Rom fühlt er sich hundertmal wohler. An den öffentlichen Angelegenheiten nimmt er dort auch starken Anteil. Man redet zum Beispiel sehr viel von einem Propagandakollegium, das er ausbaut.«

»Was hat er ausgebaut?«

»Eine › Propaganda fide‹ genannte Einrichtung, die Missionare ausbildet und sich sehr fleißig betätigt, um den alleinseligmachenden Glauben in der ganzen Welt zu verbreiten. Mit dieser Einrichtung befaßt sich der Kardinal Fernando sehr gern. Warum sollte er also hierher übersiedeln, wenn er hier am Hofe doch nur die zweite Rolle spielen kann? Und warum sollte er sich hier zu Hause um das Aufräumen kümmern, wenn er sich in Rom mit der Ordnung der ganzen Welt befassen kann?«

»Schon wieder streitest du! Du solltest es doch wissen, daß ein Sohn des Cosimo mit unserer Stadt lebt und stirbt, und wenn er hundertmal Kardinal ist. Wir Alten haben schon vieles hier an den Ufern des Arno erlebt. Auch du wirst noch einiges erleben. Mit der Macht dieser Hexe war es in dem Augenblick vorbei, wo Herzog Fernando heimkehrte …«

Galileo schwieg. Wenn der Name Bianca fiel, war er sogar imstande, seine sonst unbesiegbare Streitlust in Fesseln zu legen, da er unwillkürlich fürchtete, das Geheimnis seiner aussichtslosen Liebe preiszugeben. Um so mehr machte er sich aber Gedanken über das, was er sah und hörte. Eine unerklärliche fiebrige Erregung hatte die Stadt ergriffen. Jedermann wachte jeden Tag mit dem Gefühl auf, heute die Nachricht von etwas ganz Besonderem vernehmen zu können. In der Umgebung des Palazzo Pitti trieb sich ständig eine Anzahl Müßiggänger herum, die ohne jeden ersichtlichen Grund zu den Fensterreihen des stolzen Baues emporblickten und warteten, – aber keiner wußte, worauf sie warteten. Der Hof hielt sich zur Zeit nicht in Florenz auf. Herzog Fernando, der Gast aus Rom, hatte sich an den Lieblingsaufenthaltsort der Herzogin Bianca begeben, in ein idyllisch gelegenes Dorf, Poggio a Caiano mit Namen.

Auch Ricci, der Gönner des jungen Gelehrten, fuhr eines Tages dorthin. Bevor er aber die Stadt verließ und sich von seinem Schützling verabschiedete, machte er ihm noch eine erfreuliche Mitteilung.

»Eine große Überraschung erwartet Euch, mein Sohn: Ihr sollt ein eigenhändiges Empfehlungsschreiben der Herzogin Bianca an die Stadt Bologna bekommen, und wenn Ihr das habt, dann ist der Lehrstuhl Euch sicher.«

Galileo wurde rot und sogleich wieder blaß vor Freude.

»Von Bianca … Ein Empfehlungsschreiben … von Ihr …«

»Ja, mein Freund, von ihr. Gestern hielt sich hier im Palazzo ein Kämmerer auf, der verschiedene Angelegenheiten für die Herrschaften, die sich jetzt in der Sommerfrische befinden, erledigen sollte. Schon das letzte Mal, als er hier war, bat ich ihn, mir diesen Brief zu beschaffen. Er versprach es auch und halb hat er schon Wort gehalten: er hat der Herzogin die Sache vorgetragen. Und stellt Euch vor, die Herzogin hat sich Eurer noch erinnert.«

Galileo schnürte es die Kehle zu. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu fragen, konnte aber in seiner bestürzten Glückseligkeit keinen Laut von sich geben.

»Dieses Gespräch spielte sich während einer Jagd im Walde ab«, fuhr Ricci fort, »und nur deshalb konnte der Kammerherr den Brief nicht gleich erhalten. Jetzt gehe ich aber selbst nach Poggio a Caiano; für das Weitere werde ich sorgen, seid nur ganz unbesorgt. Ich bringe Euch das Empfehlungsschreiben, und wenn Ihr es wagt, müßt Ihr dann persönlich nach Bologna. Bis dahin arbeitet nur fleißig und vertraut mir.«

Der Gönner war weggefahren, und der Schützling arbeitete wie befohlen fleißig weiter. Er schrieb stundenlang an seiner wissenschaftlichen Abhandlung über die Schwerpunkte. Mit seinem Vater kam er ganz leidlich aus, und wenn Unruhe und Zanksucht seine Mutter überkamen, flüchtete er schnell aus dem Hause. Ein Buch steckte immer in seiner Tasche, entweder Dante oder Ariosto. Die Göttliche Komödie hatte er jetzt schon zum fünftenmal gelesen, und er ergötzte sich daran, die mutmaßlichen Dimensionen des Danteschen Himmels, des Purgatoriums und der Hölle auszurechnen. Er machte sich Notizen, er brachte einen fast architektonischen Grundriß zu Papier, mit Angaben über die vermeintliche Ausdehnung der Räume und mit Berechnungen ihres Inhaltes. Wenn er das satt hatte, holte er den » Orlando Furioso« vor und freute sich an dem Wohlklang der Verse und der Fülle der Gestalten. Wenn er ganz genau wußte, daß auf den nebligen Wegen von Giallani niemand in der Nähe war, las er sich diesen oder jenen geliebten Abschnitt laut vor. Und wenn dann die süßen Reime verklungen waren, an denen er sich kindlich ergötzte, schloß er die Augen: seine im Rhythmus der Verszeilen schaukelnde Phantasie kehrte immer wieder zu seinem leuchtenden, herrlichen Ideal zurück. Er wartete auf Ricci und wartete auf den Brief. Diesen Brief, den die wegen ihrer Schönheit berühmte Hand der Herzogin berührt hatte, den Berührungen anderer auszusehen, würde ein Frevel sein. Wenn er aber mit dem Brief seinen Bestimmungsort erreicht und den Lehrstuhl erhalten haben würde, dann würde er auch in der Wissenschaft der ewige Sklave Biancas werden: alles, was er entdecken, erfinden und an seiner neuen Wirkungsstätte ausarbeiten würde, sollte das Eigentum und der Ruhm Biancas werden, ohne daß jemand dieses herrliche Geheimnis auch nur ahnen könnte. Es war schon Oktober, aber immer noch sommerlich, immer noch spielte herrlicher Sonnenschein auf den Wellen des Arno, die Welt war mild und voll lieblicher Musik. An einem solchen klingenden, betörenden Nachmittag traf die niederschmetternde Nachricht ein.

Galileo war eben im Begriff, den Platz der Signoria zu überqueren. Er zerbrach sich den Kopf über ein schwieriges Schwerpunktsproblem und setzte, tief in seine Gedanken versunken, einen Fuß vor den anderen. Erst als an der Ecke der Uffizien ein Mann an ihm vorbeirannte, etwas rief und die anderen Fußgänger hinter ihm dreinzulaufen begannen, fuhr er auf.

»Was ist denn los?« erkundigte er sich bei einem kleinen Mädchen.

»Ich habe es nicht recht gehört, mein Herr«, war die Antwort, »aber mir schien es, als hätte er gesagt, daß jemand gestorben sei.«

Unbekümmert zuckte er mit den Achseln und tat, als ob ihn die ganze Sache gar nichts anginge. Ein unerklärliches, sonderbar pochendes Empfinden in seinem Herzen ließ ihn jedoch ahnen, daß hier irgend etwas Außergewöhnliches und Erschreckendes vorgefallen war, worum er sich wohl kümmern müßte. Er ging weiter. Er kam an das Ufer des Arno. Weit in der Ferne erblickte er am Brückenkopf des Ponte Vecchio eine Menschenansammlung. Er strebte auch in diese Richtung. Kaum war er aber auf halbem Wege angelangt, da begann sich die Menschengruppe schon wieder aufzulösen. Undeutlich sah er, daß jemand, der sich von der Menschenmaste abgesondert hatte, auf die Brücke rannte, daß sich andere mit aufgeregten Armbewegungen unterhielten, manche stehenblieben, andere wieder in großer Hast zu rennen begannen, anscheinend um ihren Angehörigen Bescheid zu geben. Jetzt beschleunigte auch er seine Schritte. Da kam ihm eine Bekannte entgegen: Frau Maccanti, die Tochter von Benvenuto Cellini.

»Was ist geschehen, Frau Maddalena?« rief er ihr entgegen.

»Habt Ihr es noch nicht gehört, mein Herr? Herzog Francesco und seine Frau sind diese Nacht gestorben.«

Sein Schritt stockte, als wenn seine Füße sich in diesem Augenblick in die Steinfliesen verwurzelt hätten. Er wollte noch mehr fragen, aber Frau Maccanti war eilends weitergelaufen, ihr Schleier flatterte hinter ihr her, wie der vom Wind gedrückte Rauch eines Schornsteins. Bianca ist gestorben? Unmöglich und unwahrscheinlich! Drei heftig gestikulierende Männer blieben vor ihm stehen, auch die kannte er. Es waren die Gerichtsdiener des Bargello. Er war nicht imstande, sie zu fragen, sah sie nur unentwegt mit fragendem Blick an.

»Denkst du«, sagte der eine, »daß Fernando es getan hat?«

»Ich denke es mir«, rief der andere heftig, »und er hat recht getan. Endlich wird Ordnung bei uns werden!«

»Aber womit? Mit Gift?«

»Das weiß ich doch nicht. Komm nur schnell ins Bargello, vielleicht können wir dort noch mehr erfahren.«

In der Stadt ging alles drunter und drüber. Die Menschen stießen aufeinander und befragten sich gegenseitig, konnten sich aber nur ganz unzulängliche und ungewisse Legenden erzählen. Hier und da fand sich einer, der mehr zu wissen behauptete als die anderen, und tat sehr wichtig. Den umzingelten dann die Fußgänger, hörten ihn an und sahen sich ratlos um, wer es ihnen wohl verraten könnte: durfte man glauben oder sollte man zweifeln?

Galileo setzte seinen Weg in der ursprünglichen Richtung nach der Brücke zu fort. Dort in der Straße der Goldschmiede konnte man sich kaum noch rühren im Gewühle der Müßiggänger; viele waren nach dem Platze der Signoria unterwegs, um dort Nachrichten zu erhaschen, andere drängten sich wiederum genau in die entgegengesetzte Richtung, um vielleicht vor dem Palazzo Pitti irgend etwas Sicheres zu erfahren. Galileo ging nun, wohin ihn seine Füße trugen; unfähig, irgendwelche Gedanken zu fassen, überließ er seinen Körper dem Herdentrieb und ließ sich in dem kopflosen Durcheinander einmal nach dem rechten und einmal nach dem linken Ufer schieben. Die Kinder, durch die Aufregung der Erwachsenen erschreckt, jammerten laut. Mit der Begeisterung Demonstrierender begann eine Gruppe junger Männer ein Soldatenlied zu singen, das zu der ganzen Situation in keiner Weise paßte, ganz gleich, ob die Nachricht zutraf oder nicht. Ein weißbärtiger alter Mann schrie wie in Ekstase:

»Suchet Vittorio! Wir müssen ihn töten! Wo ist Vittorio?«

Das unmenschliche Gedränge schob Galileo plötzlich in eine Ecke, da lehnte er sich an die Mauer. Jetzt begannen auch die Glocken zu läuten. Aus der Richtung des Palazzo Pitti kamen einige Leute zurück, die die große Nachricht bestätigten: Herzog Francesco und Herzogin Bianca lagen tot in ihrem Sommerschloß; die Wache des Palazzo hatte bereits die amtliche Bestätigung erhalten. Sie waren zu gleicher Zeit gestorben, nach der Meinung einiger sogar in derselben Minute. Wer aber und was sie getötet hatte, das konnte man noch immer nicht erfahren.

Galileo erwachte langsam aus seiner Betäubung. Da kam ihm der Gedanke, nach Hause zu gehen; vielleicht wußten seine Angehörigen von anderwärts weitere Einzelheiten. Keuchend langte er zu Hause an, nachdem ihn bekannte und unbekannte Neugierige mehrere Male aufgehalten hatten. Den Laden fand er geschlossen. In der Wohnung aber war schon eine ganze Menge von guten Bekannten beim Chianti versammelt. Den Rauch im Zimmer hätte man schneiden können. Er wurde gleich mit stürmischen Fragen empfangen, ob er neue Nachrichten mitgebracht habe. Da stellte es sich heraus, daß er nichts Genaueres und Bestimmteres wußte als die anderen und daß auch jene nicht mehr wußten als er. Durstig leerte er nacheinander zwei Becher Wein. Der Wein stieg ihm sofort zu Kopf. Er trat in den Hof hinaus aus diesem politisierenden Lärm und undurchdringlichen Pfeifenrauch und sah zu den Sternen hinauf. Seine Augen füllten sich mit Tränen, Schluchzen würgte seine Kehle. Berauscht und schmerzvoll stammelte er:

»Bianca … Bianca …«

Darauf, wie und wann er sich niedergelegt hatte, konnte er sich am anderen Tage nicht mehr erinnern. Spät erwachte er und erfuhr von seiner Familie, daß die Nachricht wahr sei: das regierende herzogliche Paar war gestorben und in der Stadt war bereits verkündet worden, daß der Kardinal Fernando als rechtmäßiger Erbe die Regierungsgeschäfte übernehme. Auf seinen kirchlichen Rang würde er also allem Anschein nach verzichten.

»Aber woran sind sie bloß gestorben?« fragte Galileo seine Mutter.

»Man erzählt sich allerhand. Sicherlich hat Fernando sie beseitigt. Erwähne das aber nicht deinem Vater gegenüber, denn er ist sehr zornig deswegen.«

»Zornig? Er war es doch, der das prophezeit hat.«

»Ja, aber sagen darf man das nicht. Man erwischt vielleicht die Verbreiter solcher Gerüchte und macht ihnen den Prozeß.«

»Wo ist mein Vater? Im Laden?«

»Nein, er hat den Laden gar nicht erst aufgemacht, sondern ist gleich auf die Signoria gegangen. Er hat hinterlassen, daß er vor dem Palazzo Uguccioni zu finden sei.«

Galileo ging aber nicht, seinen Vater suchen. Er wollte um jeden Preis mit Ricci sprechen. Er wollte über den Ponte Vecchio gehen, aber auf der Brücke hatten sich Hellebardiere zu einer Absperrkette aufgestellt. Zum herzoglichen Palazzo wurde niemand durchgelassen. Bis Mittag blieb er dort in der Hoffnung, vielleicht einen Bekannten vom Hofe zu treffen, von dem er dann irgend etwas erfahren könnte, – wenn schon nichts anderes, so doch wenigstens etwas über Ricci. In der Mittagsstunde erwischte er endlich einen ihm bekannten Hellebardier, von dem er hörte, daß Ricci schon zurückgekommen sei.

Während die ganze Stadt vollkommen kopflos und bis zur äußersten Erregung gespannt war, während in den Straßen aufgeregte Menschen wimmelten, schlenderte Galileo taten- und ziellos umher. Spät am Nachmittag traf er Ricci endlich zufällig: vor der Loggia bei Lanzi liefen sie sich in die Arme.

»Der Brief ist also für immer verloren«, waren die ersten Worte von Ricci.

Einander an der Hand fassend, weder nach rechts noch nach links sehend, eilten sie in das nächste Wirtshaus. Hier ließen sie sich in einer geschützten Ecke nieder und sprachen flüsternd miteinander, damit der Wirt nichts aufschnappen sollte, zumal er den Höfling erkannt hatte, ständig die Ohren spitzte und sich fortwährend in der Nähe ihres Tisches zu schaffen machte.

»Was ist in Poggio geschehen?« Ricci hob bedauernd die Schultern. Er berichtete ausführlich über den Verlauf der Sommerfrische in Poggio. Der Hof fühlte sich außerordentlich wohl und fröhlich, der Kardinal Fernando hatte allem Anschein nach mit seinem Bruder und seiner Schwägerin Frieden geschlossen. Der regierende Herzog hatte sich auf der Jagd erhitzt und sich an dem Ufer eines kleinen Sees im Park niedergesetzt. Die Erde war hier feucht und der Herzog stand bald wieder auf mit der Bemerkung, ihn fröstele. Abends hatte er schon starkes Fieber, Bianca wollte einen Arzt kommen lassen, er aber blieb dabei, sich mit seiner eigenen Arznei kurieren zu wollen, die er sich während seiner chemischen Experimente selbst gemischt hatte. Blindlings vertraute er seinem Heilmittel Bezoar. Dieses Mittel hatte er selbst mit unendlichen Kosten hergestellt, denn es wurde aus dem Gallensaft des Krokodils, des Stachelschweins, der peruanischen Ziege und der indischen Gazelle gemischt. Der Herzog nahm nur immerfort dieses Bezoar ein und ließ keinen Arzt vor. Sein jüngerer Bruder und seine Frau saßen ständig an seinem Bett. Vier Tage später wurde aber auch Bianca von einem Übelsein befallen, ein außerordentlich heftiges Fieber ergriff sie, was sie so sehr schwächte, daß sie nicht mehr imstande war, ihren Mann zu pflegen. Die beiden Kranken lagen in zwei benachbarten Zimmern des herzoglichen Sommerschlosses. Jede Stunde verständigten sie einander durch Boten genau über den Zustand ihres Befindens. Diese Boten aber logen auf beiden Seiten. Jedem Kranken richteten sie aus, dem anderen ginge es besser, obwohl sich der Zustand der beiden zusehends verschlechterte. Herzog Francesco wurde von einem Krampf unbekannter Ursache befallen, der mit fürchterlichen Schmerzen verbunden war. Achtundvierzig Stunden lang litt er unmenschlich, dann starb er. Bianca wußte nichts davon, da man ihr wiederum meldete, ihr Mann schritte der Genesung entgegen.

»Am sechsten Tage«, erzählte Ricci flüsternd weiter, »stand auch ich am Bett der Herzogin. Da wußte sie bereits, daß sie sterben würde. Sie sagte zu mir: ›Saget meinem Mann, Herrn Francesco dei Medici, daß ich mich von ihm verabschiede. Saget ihm, daß ich ihn nie betrogen und bis zu meiner letzten Minute geliebt habe. Wenn ich ihm jemals wehtat, so bitte ich ihn um Vergebung, weil mein Leben zu Ende geht.‹ Ich gestehe, daß ich da zu weinen anfing. Die Herzogin lag still in ihren Kisten und lauschte. Wir hatten ihr zwar eingeredet, ihrem Manne ginge es bester, aber ihren Argwohn konnten wir doch nicht vollkommen einschläfern. Aus dem anschließenden Zimmer trug man gerade den Leichnam des Herzogs fort, aber so vorsichtig man dabei auch zu Werke ging, – sie hatte das Kommen und Gehen doch hören müssen. Außerdem wartete unser Herzog Fernando keinen Augenblick länger, sondern ließ, sobald sein Bruder gestorben war, anspannen und fuhr mit dem Bischof von Florenz, der mit uns in Poggio weilte, mit Windeseile zur Stadt. Dies geschah in der Nacht, dort wußte es niemand. Herzogin Bianca aber hörte das Pferdegetrappel und das Rasseln der Kutsche zu so ungewöhnlicher Stunde. Ich sah an ihrem Gesicht, daß sie die Wahrheit wußte. Da sagte sie zu mir: ›Es kam, wie ich es mir immer ersehnt habe: ich sterbe zugleich mit meinem Mann.‹ Etwas anderes hat sie dann nicht mehr gesprochen. Sie starb.«

Galileo schwieg eine lange Zeit, dann sah er Ricci an.

»War sie schön, als sie starb?«

»Sie war sehr schön.«

Abermals schwiegen sie lange. Als Galileo dann wieder etwas fragen wollte, kam ihm der alte Höfling zuvor.

»Von den tollen Gerüchten, die man sich in der Stadt erzählt, habe ich schon allerlei gehört. Ich habe sogar gehört, die Herzogin Bianca habe eine vergiftete Torte für den Kardinal Fernando gebacken, zufällig aber habe Francesco davon gegessen, und nachdem die Herzogin gesehen habe, daß sie ihren Mann getötet, habe auch sie von der Torte gegessen, um mit ihm zusammen zu sterben. Ich kann darauf nur erwidern, daß unser gnädigster neuer Regent Herzog Fernando sofort nach dem Todesfall Ärzte nach Poggio a Caiano sandte und strengste Anweisung gab, die beiden Leichen zu sezieren, um festzustellen, ob auch nur das kleinste Anzeichen eines Giftes auffindbar sei. Die Sektion wurde auch vorgenommen, die Ärzte entdeckten aber keinerlei Spuren von Gift. Nach der Meinung des Hofes töteten den armen Herzog Francesco die Mittel, die er ohne jegliche medizinische Kenntnisse selbst zusammengebraut hatte …«

»Warum fanden die Ärzte dann aber nicht Reste davon?« unterbrach der junge Mann heftig.

»Mein lieber Sohn, dieses Streiten um jeden Preis ist eine sehr schlechte Angewohnheit von Euch! Kämpft nicht gegen die amtliche Entscheidung der Ärzte! Daß die Herzogin Bianca gleichzeitig mit ihrem Mann gestorben ist, betrachten sie in Übereinstimmung mit der Auffassung des Hofes als reinen Zufall. Das möchte ich Euch mit Nachdruck geraten haben.«

Galileo schwieg. Dann fragte er:

»War sie schön, als sie starb?«

»Ich sagte bereits, daß sie sehr schön war. Aber reden wir nun nicht mehr davon. Ich werde jetzt einige Tage angesichts der Veränderungen am Hofe viel zu tun haben. Sobald ich aber wieder Zeit habe, lasse ich es Euch wissen. Dann besprechen wir, was wir für eine Empfehlung an Stelle des Empfehlungsschreibens der Herzogin beschaffen könnten; denn sie wird keins mehr schreiben. Jetzt aber habe ich Eile.«

Sie trennten sich. Zwei Wochen lang sahen sie einander nicht. Galileo arbeitete zurückgezogen. Die Zeremonien des Begräbnisses kümmerten ihn wenig. An dem Begräbnis der Herzogin hätte er aber auch dann nicht teilnehmen können, wenn er es gewollt hätte. Der neue regierende Herzog hatte befohlen, seinen Bruder unter großer Feierlichkeit in der Kirche San Lorenzo zur ewigen Ruhe zu betten; Bianca aber sollte zu einem nicht bekanntgegebenen Zeitpunkt an einer geheimzuhaltenden Stelle beerdigt werden. Galileo saß zu Hause und hatte entweder seine Schwerpunktsberechnungen oder seine Liebe im Kopfe. Nach den Schrecken der ersten Tage erkannte er, daß seine Liebe sich nicht geändert hatte: in die Herzogin Bianca war er genau so verliebt wie zuvor. Die Tote zu lieben war ja nicht unsinniger als die Lebende.

Nach zwei Wochen hieß ihn Ricci zu sich kommen. Er ging in den Palazzo Pitti. Da begegnete er lauter neuen Gesichtern. Der regierende Herzog Fernando hatte die ganze Hofhaltung aufgelöst. Abbioso, Dovara, Serguidi und andere Machthaber des Hofes, die sich bislang in der Gunst Cappellos gesonnt und die Staatsgeschäfte gelenkt hatten, waren verschwunden. Vittorio selbst sollte noch während der Krankheit seiner Schwester geflüchtet sein. Neue Menschen traten auf den Plan, von denen es sich herausstellte, daß sie sich schon lange auf ihre Ämter vorbereitet hatten.

»Auch ich werde bald gehen«, sagte Ricci, »diese Welt ist nicht mehr die meine. Ich ziehe mich auf das Land zurück in die Stille und Einsamkeit. Bis dahin möchte ich aber noch Euer Schicksal zum Guten gewendet haben. Den neuen Minister Usimbardi kenne ich nicht so gut, daß ich Euch an ihn empfehlen könnte. Aber Belisario Vinta ist hier, mit dem stehe ich gut, und er ist hier der kommende Mann. Ich werde Euch morgen vorstellen. Heute geht es nicht, weil er sehr beschäftigt ist. Aber es sind ja auch noch andere da.«

Ricci holte einen Bogen Papier hervor, auf dem eine lange Liste von Namen stand. Hier reihten sich die Namen jener einflußreichen Herren aneinander, die sich für Mathematik, Physik und Geometrie interessierten. Zu jedem Namen erklärte Ricci, wie man den Betreffenden erreichen und in welcher Weise dieser behilflich sein könnte. Galileo hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen zu den einzelnen Namen. Baron Ricasoli, Graf Vernio, Piero Alamanni …

»Ihr werdet sehen, auch wenn ich nicht mehr da bin, wird es schon gehen.«

»Das hätte ich dann zweien zu danken: dem lieben Gott und Euer Gnaden.«

»Dankt mir nicht, ich tue es nicht Euch zuliebe, sondern um der Wissenschaft willen, die ich über alles liebe. Und es liegt im Interesse der Wissenschaft, daß Ihr einen Lehrstuhl erhaltet. Dann werdet Ihr, wie es sich gehört, schön heiraten und … bitte? Warum schüttelt Ihr den Kopf?«

»Ich werde nie heiraten.«

»Redet kein dummes Zeug. Warum solltet Ihr nicht heiraten? Das ist die Ordnung der Welt.«

»Nein, ich werde trotzdem nicht heiraten.«

»Warum?«

»Weil«, erwiderte er zögernd, »weil ich verliebt bin und die ich liebe, die … die … an die … kann ich nicht denken …«

»Ihr könnt nicht heiraten? Gehört sie einem anderen?«

»Sie gehört keinem anderen. Sie gehört jetzt nur noch mir! Nur mir!«

Der alte Ricci sah den jungen Mann verwundert an. Eine sieghafte, fast vergeistigt anmutende Seligkeit hatte sich auf dessen Gesicht ausgebreitet. Der Alte schüttelte sein Haupt.

»Ich habe es immer gesagt, mein Sohn, Ihr seid ein wenig verdreht. Aber ich frage nicht, ich will nicht in Euer Geheimnis dringen.«


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