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Fünfzehntes Kapitel

Vier gute Freunde machten zu viert einen Ausflug: die jungen Venezianer Zorzi, Boccalini, Magagnini und ihr Kamerad, der Mathematiker aus Padua. Es war heißes Sommerwetter, richtige Hundstage. Die Tore des Bo hatten sich geschlossen, aber Galilei war in Padua geblieben, weil er wegen seines Schwagers Landucci Angst hatte, nach Florenz zurückzukehren. Er war ihm noch immer viel Geld schuldig und mußte damit rechnen, daß Landucci nicht viel Umstände machen und ihn dem Gericht überliefern würde, sobald er den heimatlichen Boden beträte. Darum war er nicht nach Hause gefahren. Er fühlte sich zwar wie verbannt und sein angeborener Freiheitsdrang wehrte sich zornig gegen einen derartigen Zwang, aber es half nichts, er mußte sich damit abfinden, daß es ihm jetzt eine Zeitlang verwehrt sein würde, im Kreise seiner Familie zu sitzen und in den Straßen des vergötterten Florenz spazierenzugehen.

Die drei jungen Venezianer sahen diese Fußwanderung als einen Spaß an, und wie das die Vornehmen und Reichen zu tun pflegen, setzten sie sich über die Schwierigkeiten hinweg, um aus Neugierde auch solch ein Erlebnis auszukosten. Für den Professor der Mathematik dagegen war diese Art zu reisen etwas ganz Natürliches. Er hatte schon oft ausgedehnte Fußwanderungen unternommen und fand großen Gefallen an dem Wanderburschentum. Sie machten sich also auf den Weg; schon am frühen Morgen schien der Staub der Landstraße zu glühen. Jeder hatte ein kleines Bündel auf dem Rücken, am Gürtel hing ein Dolch, sonst belastete sie nichts auf diesem Wege, und ihre Herzen schlugen ebenso frisch und fröhlich, wie ihre Füße eifrig den Staub aufwirbelten. Wo sie die Lust zum Rasten überkam, dort ließen sie sich nieder, in einer Spelunke an der Landstraße oder an einem schattigen Wiesenrand. Alles reizte sie zum Lachen, sie waren jung und lebensfroh.

»Ich glaube«, sagte Benedetto, »daß sich von uns Vieren Messer Galilei am meisten seines Lebens freuen kann.«

»Davon bin ich überzeugt«, stimmte er bei. »Ich habe oft Minuten, wo ich vollkommen glücklich bin. Zum Glücklichsein muß man ein besonderes Talent haben, genau wie zur Musik oder zur Mathematik. Und von diesem Talent ist mir viel gegeben. Ohne jeden besonderen Grund möchte ich manchmal tanzen, in die Hände klatschen und laut jauchzen, nur weil ich lebe. Sein: das ist so eine unfaßbare Freude für mich, daß ich manchmal fürchte, ich könnte es nicht ertragen.«

»Darum beneide ich Euch«, sagte Magagnani, »mein Herz ist anders beschaffen. Ich habe in meinem Leben noch nie eine sogenannte glückliche Minute gehabt, obwohl ich aus reichem und vornehmem Hause bin.«

»Mir geht es ebenso«, erklärte Boccalini und nagte versonnen an einem Grashalm.

»Ich auch«, entgegnete Zorzi, »wahrlich, ich auch! Obwohl ich alles vom Leben bekommen habe. Immer aber, wenn mir eine große Freude zuteil wurde und es mir im allgemeinen gut ging, habe ich umsonst versucht, mich glücklich zu fühlen. Etwas, und wenn es nur eine Kleinigkeit war, fand sich immer, das sich mir auf die Seele legte. Wenn nichts anderes, dann eine kleine Beleidigung, die ich noch nicht gerächt hatte. Ich beneide Messer Galilei um seine Natur. Was ist denn das Geheimnis eines so beschaffenen Herzens?«

Galileo rief fröhlich:

»Der Leichtsinn.«

Als die drei jungen Männer ihn fragend ansahen, begann er das gutgelaunt zu erläutern:

»Das größte Geschenk, das ich von Gott erhielt, ist der Leichtsinn. Ich verstehe darunter die Eigenschaft, die es meinem Herzen unmöglich macht, mich mit Sorgen zu plagen. Selbstverständlich bewegt es auch mich außerordentlich, wenn ich etwa geldliche Schwierigkeiten habe. Ich quäle mich, ich zerbreche mir den Kopf, ich bin mürrisch. Aber eine Stunde später habe ich alles wieder vergessen. Ich stoße es einfach ab. Man muß sich das so vorstellen: das Leben ist ein unendliches Meer und mein Leben ein Kahn darauf, dessen spezifisches Gewicht nur um ein Iota größer ist als das des Wassers. Jetzt kommt das böse Schicksal, belastet meinen Kahn mit der schweren Bürde der Sorgen und fliegt wieder weg. Mich läßt es schadenfroh lachend zurück. Das spezifische Gewicht meines Kahnes wird plötzlich größer als das des Meeres, also beginnt er zu sinken. Da packe ich die ganze unangenehme Last und schleudere sie ins Wasser. Das spezifische Gewicht ist wiederhergestellt, mein Kahn steigt wieder aus den Fluten. Fröhlich schwimme ich weiter. Ich lebe. Die größte Freude ist es, zu leben. Nichts kommt dieser Freude gleich. Ich begreife den Vogel, der aus reiner Freude über sein Leben auf dem Baume zwitschert. Genau so zwitschere ich auch. Manchmal möchte ich wildfremde Menschen auf der Straße anhalten, sie bei der Brust packen und ihnen jauchzend, erklären, daß mich eine unglaubliche Freude befallen hat: ich lebe, ich lebe, ich lebe.«

Magagnani, der ernsteste unter ihnen, schüttelte den Kopf.

»Meine Worte dürfen Euch nicht verletzen, Messer Galilei, aber mögt Ihr ein noch so berühmter Gelehrter und noch so weise sein – ab und zu kommt Ihr mir doch vor wie ein Kind!«

»Sehr richtig«, erwiderte Galileo lebhaft, »das ist meines Erachtens keine Beleidigung, sondern ein Lob. Meiner Überzeugung nach kann niemand ein bedeutender Mensch sein, in dem nichts von dem Urkind vorhanden ist. Unser Genie, also das Göttliche, kann nicht anders geartet sein, als die Engel des Herrn, die Engel aber sind Kinder. Ich weiß ganz genau, daß neben meinem Mannestum auch ein zehnjähriges Kind in mir wohnt. Deswegen bleibe ich ewig jung, und wenn ich noch so alt werden sollte. Das ist leicht zu errechnen; denn das in mir wohnende zehnjährige Kind und mein äußeres Alter werden immer ein Verhältnis ergeben, das um vieles kleiner ist als bei den mir gleichaltrigen. Wie alt werde ich zum Beispiel sein, wenn ich mein sechzigstes Lebensjahr erreicht habe? Sechzig und zehn ist siebzig; das durch zwei geteilt macht fünfunddreißig. Andere sind in ihrem sechzigsten Lebensjahr auch sechzig Jahre alt. Ich werde nur fünfunddreißig sein. Auch dann ein sorgenloser, lustiger und leichtsinniger Mensch. Ich werde immer glücklich sein. Der liebe Gott schuf mich, damit ich klug und glücklich sei. Wie schön blau ist auch jetzt wieder der Himmel, wie bunt die Welt und welche große Freude, auf dieser Welt zu sein.«

Er seufzte so genießerisch, daß sie alle laut über ihn lachen mußten. Magagnani rechnete sogleich aus, daß der Freund seiner eigenen Berechnung nach jetzt zwanzig Jahre alt, also nicht der Älteste, sondern der Jüngste unter ihnen sei. Ob auch der schwächste? Mit überschäumender Lebenslust begannen sie auf dem Rasen miteinander zu ringen. Spielend besiegte Galileo sie alle. In seinem schmächtigen Körper wohnte eine Bärenkraft, jeden seiner Kameraden hob er in die Luft wie einen Ball und keuchte nicht einmal hinterher. Er lachte mit strahlendem Gesicht und genoß den Ausflug, die Gesellschaft, den Himmel, die Welt und die ganze Herrlichkeit unbeschreiblich.

Sie übernachteten meist in Gasthäusern, und zwar wählten sie mit Absicht die einfachsten. Sie schliefen aber auch unter freiem Himmel. Ziellos wanderten sie von Dorf zu Dorf, und wenn sie in eine Stadt kamen, betrachteten sie neugierig jede Sehenswürdigkeit. Sie waren auch in Verona und sahen sich das viersäulige sonderbare Gebäude des neuen Capitello an, in dem die Wahlen der Stadtväter von Verona abgehalten wurden. Auf der Piazza d'Erbe bewunderten sie die ehemaligen Residenzschlösser der Scaliger, dann die Kirchen, das vom Erdbeben zerstörte klassische Amphitheater, und sprachen von den in dem alten Gemäuer schwebenden Geistern Catulls und Dantes. Hier führte Galileo das Wort. Wenn von Dante die Rede war, so sprach er und die anderen schwiegen. Als Florentiner kannte er die Göttliche Komödie bis in die winzigsten Einzelheiten; er mochte mit den Terzinen beginnen, wo er wollte, – immer konnte er minutenlang deklamieren, ohne steckenzubleiben. Die Freunde bestaunten ihn.

»Das ist kein Verdienst von mir«, sagte Galileo, »erstens bin ich Florentiner, und zweitens habe ich bereits eine längere Abhandlung über die Topographie der Hölle geschrieben.«

»Was war das, wie war das?« riefen alle auf einmal und spitzten die Ohren.

»Das ist ein altes Problem, die Wissenschaft befaßt sich schon seit über hundert Jahren damit. Manetti war der erste, aber er hat sich vielfach vergriffen. Später machten sich andere daran. Ich auch. Ich ging die Dichtung Zeile für Zeile durch, und wo ich nur einen kleinen Anhaltspunkt über die Ausdehnung der einzelnen Orte der Hölle fand, schrieb ich mir das sorgfältig auf. Mit Hilfe schwieriger, langweiliger Berechnungen, der Lehre von den Kegelschnitten, der praktischen statischen Erfahrungen der Poliere bei der Berechnung der einzelnen Kreise und der Proportionenlehre Dürers habe ich schließlich die ganze Hölle in eine mutmaßliche geometrische Ordnung zusammengefaßt.«

»Dürer? Wer ist Dürer?«

»Als Venezianer solltet ihr das eigentlich wissen, denn er hat jahrelang in Venedig gelebt. Er war ein berühmter deutscher Gelehrter und Maler, sein Vater war aus einer deutschen Siedlung in Ungarn nach Deutschland eingewandert. Er ist in Nürnberg geboren. Er war einer von den wenigen Menschen, die ich stets zu den gescheitesten zählen werde.«

»Können denn diese Deutschen auch etwas?« fragte Zorzi.

»Und ob sie etwas können! Waren sie nicht diejenigen, die den Buchdruck erfanden? Meine Freunde, man muß sich an den Gedanken gewöhnen, daß auch jenseits der Berge die Menschen denken. Überall findet man viele Beschränkte und Denkende als Ausnahmen.«

»Haben sie einen großen Mathematiker?«

»Ich kenne einen deutschen Jesuitenpater in Rom mit Namen Clavius, der Hervorragendes geleistet hat. Ich hörte auch einmal von einem älteren deutschen Astronomen, Kopernikus, habe aber noch nichts von ihm gelesen. Ich werde es jedoch unbedingt tun; denn ein paar Esel haben arg über ihn geschimpft, also steht für mich es fest, daß seine Lehren zumindest beachtenswert sind. Neulich kam ein deutscher Schüler zu mir: er hätte sein Buch als Kuriosum gelesen, verstünde es aber nicht, ich möge es ihm erklären. Nun muß ich es wirklich bald lesen. Es kommt bloß immer etwas dazwischen …«

So kamen sie auch nach Vicenza. Dort wollten sie vor allem Bissaro besuchen, mit dem Galileo in freundschaftlichem Briefwechsel stand; er war aber gerade nicht in der Stadt. Sie stiegen in den Straßen umher wie sorglose Reisende, die sich alles ansehen und nichts unbeachtet lassen wollen und ergötzten sich insbesondere an den Schlössern, die Palladio erbaut hatte. Zorzi erzählte lebhaft:

»O, ich habe den Alten noch sehr gut gekannt. Er war oft bei uns zu Besuch, er mochte meinen Vater sehr gut leiden. Ich muß etwa sechs Jahre alt gewesen sein und war auf ihn sehr böse, weil er mich auf seinen Schoß nahm und mir ein Hörnchen auf dem Kopf drehte. Ich versteckte mich deshalb, so oft er zu uns kam. Mein Vater schalt mich und erklärte immer, daß er ein großer Künstler sei und daß ich ihn achten müsse.«

»Die Redentore ist eine sehr schöne Kirche«, ergänzte Magagnani.

»Und auch die San Giorgio Maggiore«, fiel Boccalini ein.

»Im Grunde genommen«, rief Zorzi begeistert, »gibt es keine schönere Stadt auf der Welt als unser Venedig.«

»Na, na«, sagte Galilei sofort, »Florenz ist doch auch noch etwas.«

Es entspann sich ein fröhlicher Streit, weil die drei Venezianer sich heimliche Blicke zuwarfen. Sie kannten die Schwäche ihres Freundes und hänselten ihn oft, indem sie Florenz nicht gelten ließen. Auch jetzt debattierten sie in Vicenza am Fuße des von Palladio erbauten Teatro Olimpico lang und breit darüber, ob Venedig oder Florenz schöner sei. Sie konnten aber nicht siegen, nicht einmal zu dritt gegen den einen. Galilei war nicht aufzuhalten, wenn er einmal zu streiten angefangen hatte, ebensowenig wie ein Strom, der seine Dämme bricht.

Die vier lustigen Burschen kamen aus Vicenza in das kleine Dorf Custozza, wo sie den Grafen Camillo Trento besuchen wollten. Das war ein vornehmer Herr, Teilnehmer an allen glänzenden gesellschaftlichen Ereignissen in Venedig, ein in aller Welt bekannter Jurist und großer Freund der Wissenschaften und Künste. Die drei reichen Jünglinge kannten ihn sehr gut und freuten sich schon, daß sie sich jetzt mit ihrem berühmten gelehrten Freund vor dem Grafen brüsten könnten. Aber auch den Grafen trafen sie nicht zu Hause an. Er war mit seiner Familie am Gardasee. Doch der Haushofmeister, dem die vornehmen venezianischen Namen wohl bekannt waren, wußte, was er in Abwesenheit seines Herrn solchen Besuchern schuldig war. Er ließ ihnen ein prächtiges Mittagessen bereiten. Es war ein ausnehmend warmer Tag, und nachdem sie kräftig zugelangt und auch fleißig getrunken hatten, sehnten sie sich stöhnend und halb ohnmächtig nach ein wenig Abkühlung. Der Haushofmeister deutete stolz nach dem rechten Flügel des Schlosses.

»In ganz Italien vermag niemand seinen Gästen eine angenehmere Abkühlung zu verschaffen als mein gräflicher Herr. Ich bitte ergebenst, mir zu folgen.«

In dem Zimmer, in das sie traten, schlug ihnen eine unerwartet kalter Luftzug entgegen. Sie waren sehr erstaunt. Der Haushofmeister wies auf eine Röhre, deren Öffnung schwarz aus der Wand herausragte.

»Nicht weit vom Schloß«, erklärte er, »liegen die berühmten Steinhöhlen von Custozza. Die eine Höhle hat eine eiskalte Quelle. Die Röhre hier führt unter der Erde bis in die Höhle. Von dorther kommt diese eisige Luft.«

»Eine gottvolle Kälte ist das!« rief Zorzi. »Wie wäre es, wenn wir hier einen kleinen Schlaf täten?«

»Ich kann eine bequeme Lagerstätte herrichten lassen, Euer Gnaden«, sagte der Haushofmeister. »Kissen sind zur Genüge vorhanden. Aber ich bitte, die Öffnung der Röhre zu verschließen. Einem Schlafenden kann die Kälte gefährlich werden. Mehr als einer unserer Gäste hat sich hier schon arg erkältet.«

»Habt keine Bange um und, Alter, schafft nur die Kisten herbei.«

Einige Minuten später streckten sie sich wohlig auf den Kisten aus; sie legten sogar die schweren Kleider ab. Die hereinströmende kalte Luft streichelte mit süßem Schauer ihre von Schweiß triefenden Körper. Galilei legte auch noch das Hemd ab, und bis zu den Hüften nackt, machte er sich eine bequeme Lagerstätte zurecht. Der Haushofmeister ermahnte ihn nochmals, die Röhre zu verschließen, aber sie jagten ihn lachend aus dem Zimmer. Im Dunkel hinter den herabgelassenen Rolläden schliefen sie alsbald alle vier tief ein.

Galilei erwachte davon, daß er stark fror. Er rieb Brust und Schultern, die mit einer Gänsehaut überzogen waren, legte seine Kleider wieder an und weckte auch die anderen. Auch sie froren. Sie eilten hinaus in die Wärme. Bald darauf verabschiedeten sie sich von dem Haushofmeister, nicht ohne dem Grafen einige liebenswürdige Zeilen zu hinterlassen. Abends kehrten sie schon in einem dritten Dorf in einem Gasthaus ein. Und am nächsten Morgen erwachte Galilei mit einem starken Schnupfen. Er verspürte einen unangenehmen Druck in den Schläfen und hustete. Aber er ging trotzdem noch mit den anderen weiter. Abends hatte er Fieber. Am dritten Tage wurde ihm so übel, daß sie einen Wagen nehmen mußten. Von Hitze geplagt, vor Fieber zitternd, quälte er sich, bis sie endlich in Padua ankamen. Hier legte er sich sofort zu Bett. Man ließ einen Arzt kommen, und der stellte fest, daß er eine eitrige Mandelentzündung habe und nicht aufstehen dürfe. Die drei Freunde aus Venedig nahmen mit schmerzlichem Bedauern von ihm Abschied. Ihm selbst tat es aufrichtig leid, daß die wirklich herrliche Wanderung ein so unangenehmes Ende genommen hatte.

Galilei fühlte sich sehr schlecht. Sein Hals war derart angeschwollen, daß ihm das Sprechen Schmerz bereitete und er nicht die geringste Lust verspürte, sich mit seinen zahlreichen Besuchern zu unterhalten. Professor Fabrizio verschrieb ihm einen teeartigen Saft, die Gurgel zu spülen, außerdem mußte er seinen Hals mit Talg, der mit Ochsengalle vermischt war, von außen einschmieren. Das Fieber stieg an einigen Abenden so hoch, daß er in einem halb ohnmächtigen Zustande dalag. Am vierten Tage war ihm etwas bester und er wollte lesen. Pinelli brachte ihm einige auserwählte Bücher. Außerdem erzählte er ihm eine große Neuigkeit.

»Stellt Euch vor«, berichtete er, »gestern hielt in Venedig ein deutscher Professor einen Vortrag. Ich habe seinen Namen dreimal wiederholen müssen, bis ich ihn aussprechen konnte. Christian Wursteisen. Er sprach über Astronomie. Angeblich soll er erstaunlich ungereimtes Zeug vorgebracht haben. Er setzte das System eines seiner deutschen Landsleute, eines gewissen Kopernikus, auseinander. Viele sind schon mitten im Vortrag weggegangen, so albern war das Ganze. Die anderen aber blieben bis zuletzt, um was zum Lachen zu haben.«

Der Kranke dachte nach.

»Besitzen Euer Gnaden das Buch von diesem Kopernikus?«

»Ich weiß nicht, ich muß einmal im Katalog-nachsehen.«

»Dürfte ich Euch bitten, es mir zu schicken, falls es vorhanden ist?«

»Sehr gerne, aber warum vertreibt Ihr Euch Eure Zeit mit solchen albernen Dingen, wenn Ihr ernste Sachen lesen könnt? Man hat doch so selten den Vorzug, bettlägerig zu sein. Ich pflege bei solchen Gelegenheiten immer das Versäumte nachzuholen.«

»Und trotzdem … wenn es vorhanden ist, bitte ich ergebenst, schickt mir das Buch.«

Pinelli versprach es. Und kaum eine Stunde später hielt der Kranke das Buch schon in der Hand. Der Titel lautet: » De revolutionibus orbium coelestium«, geschrieben von Kopernikus, aber nicht er hatte es herausgegeben, sondern ein gewisser Osiander. Er blätterte erst darin, las hier und dort eine Zeile, dann blätterte er wieder weiter. Schon aus diesen unzusammenhängenden Zeilen erkannte er, daß der Autor ein sehr kluger und geschickt schreibender Gelehrter sein mußte. Wenn er Dummheiten behaupten sollte, so tat er es offenbar sehr logisch und vernünftig.

Das mußte er sich näher ansehen. Er begann der Reihe nach zu lesen. In der Einleitung vollführte der Herausgeber Osiander, ein Schüler des Gelehrten, einen verdächtigen Eiertanz um die Würdigung dieses Werkes. Er wollte alles, was im Buche stand, anscheinend als spielerische Idee, als Kuriosum eines auf absonderlichen Abwegen schweifenden Geistes hinstellen. Dadurch wurde der Leser sofort in Spannung versetzt. Was bedeutete das, was ging hier vor? Was sollte diese bei den Haaren herbeigezogene Einleitung, deren Sinn im Grunde genommen nichts anderes sein konnte als ein entschuldigendes: »Nehmt es nicht ernst!« Hatte der Herausgeber dazu ein Recht gehabt, war es mit Zustimmung des Verfassers geschehen? Mit großer Spannung begann er zu lesen. Er wollte sehen, was dieser sonderbare Autor behauptete und wie ernsthaft er seine Behauptungen verteidigte. Galilei stützte sich auf den Ellenbogen, schob die Talgkerze, die auf dem Tischchen neben dem Bett zwischen Orangensaft, Kräutertee, aufgehäuften Büchern, der Pfeife und allerlei Krimskrams stand, näher heran und vertiefte sich in das Werk des Kopernikus.

Abends um acht Uhr hatte er angefangen zu lesen und am anderen Morgen um vier Uhr las er noch immer. Im Laufe der Nacht hatte er oft aufgehört, das Buch auf die Decke gleiten lassen und gedankenvoll auf das Dunkel der gegenüberliegenden Wand gestarrt. Stirnrunzelnd schloß er oftmals seine Augen halb, wie einer, der um jeden Preis noch schärfer sehen will. Dann nahm er das Buch wieder zur Hand. Er konnte seine rasende Neugierde kaum zügeln. Am liebsten wäre er die Zeilen entlang geflogen. Aber er war gezwungen, langsam und sehr sorgfältig zu lesen, Zeile für Zeile, um den Faden nicht zu verlieren. Um halb fünf Uhr schloß er das Buch. Schnell öffnete er es aber nochmals und warf noch einen kurzen Blick auf das Vorwort. Er geriet in heftigen Zorn; am liebsten hätte er es aus dem Buch herausgerissen, wenn er nicht alles so sehr geachtet hätte, was gedruckt und gebunden war. Jetzt stand mit einem Male dieser Osiander, als vorsichtiger Feigling entlarvt, vor ihm. Der Autor war kühn und ein Held. Der Verfasser der Einleitung ein feiger Heuchler. Dann legte er das Buch endgültig aus der Hand. Von draußen schien strahlend die Sonne herein.

Die Sonne. Die Sonne.

Er blies das Licht aus. Die Hähne krähten und vergnügt zwitscherten die Vögel im Garten. Sonst aber tiefe Stille am frühen Morgen. Die Welt erwacht jetzt. Die Erdkugel und die Sonne haben sich jetzt so weit gedreht, daß die Sonne Asien und die großen Gebiete um Asien herum beleuchtet, um dann abends über dem Atlantischen Ozean zu strahlen und nachts über Amerika zu stehen. Aber wer bewegt sich von den beiden und wie? Denn dieser aufregende Deutsche, dieser Kopernikus, behauptet ruhig und sicher, als wäre das ganz selbstverständlich, daß der Mittelpunkt des Weltalls nicht die Erde, sondern die Sonne sei. Die Erde sei genau so ein Planet wie der Merkur, die Venus, der Mars, der Jupiter und der Saturn. Und wie er das alles behauptete, das war astronomisch überwältigend klar.

Sicherlich, etwas Derartiges hatten auch die Alten behauptet; wenn auch nicht ganz so, aber Pythagoras und Aristarchus hatten auch schon gewagt, zu behaupten, daß die Erde nicht an einer Stelle stillstehe, sondern sich bewege. Aber das war in Vergessenheit geraten. Seit dreizehnhundert Jähren galt der Ptolemäische Lehrsatz, den auch Galileo Galilei seinen Schülern in den Almageststunden einbleute. Und jetzt kommt ein Deutscher und kehrt zu dieser vergessenen Behauptung zurück! Jawohl, die Erde bewegt sich. Die Sonne steht fest und die Erde bewegt sich samt den anderen Planeten. Sie bewegen sich alle in kreisförmigen Bahnen um diesen strahlenden Kern herum, der eine in einem engeren, der andere in einem weiteren Kreise, der eine in dieser, der andere in jener Richtung vom Zentrum abweichend. Der Weg ihrer Bahnen, wenn wir sie in unserer Vorstellung zeichnen, zeigt Silberreifen, ineinander verschlungene, sich aber nie berührende Silberreifen, und im gemeinsamen Mittelpunkt all dieser Reifen steht die goldgelbe Riesenkugel aus Feuer inmitten der blauen Unendlichkeit.

Zu Tode erschöpft lag der Kranke im Bett, aber es kam kein Schlaf über ihn. Die Räder seiner Gedanken liefen und dröhnten ununterbrochen wie in einer Mühle. Seine Schläfen hämmerten, die tiefliegenden Augen brannten. Gerade jetzt, trotz seiner Ermüdung, arbeitete sein Gehirn schärfer denn je; die Ermattung übte einen krankhaften Anreiz auf dieses Gehirn aus. Er versuchte, sich auf die Seite zu legen und, die Augen geschlossen, sich dem Schlaf zu überlassen, aber in der nächsten Sekunde fuhr er aus dem Halbschlaf schon wieder erregt hoch. Das, was jetzt in seinem Gehirn rumorte und seine Gedanken so leidenschaftlich beschäftigte, war etwas gewaltig Großes. Muß man es aber nur deswegen ablehnen, weil es das Kühnste ist, was seit Jahrtausenden behauptet worden ist? Und mit wessen Lehren steht es im Widerstreit? Vor allem mit der des Ptolemäus, letzten Endes aber auch mit den Lehren der ersten Autorität: Aristoteles.

Mit geblähten Nüstern starrte der Kranke in heftiger Erregung vor sich hin und setzte sich mit einem Ruck im Bett auf. Also wieder Aristoteles. Der ewige Tyrann, seit zweitausend Jahren der unerträgliche Erdrücker aller neuen Gedanken. Aus dem Buch da ging ganz eindeutig hervor, daß der deutsche Autor ein Kirchenmann war, er war irgendwo Domherr, konnte also nicht einmal Protestant sein, sonst hätte er dieses Amt nicht bekleiden können. Ein Geistlicher widersetzte sich den Peripatetikern! Bravo, bravissimo! Mit einem Male ergriff ihn eine kameradschaftliche Liebe zu diesem einstigen Domherrn, der sich nicht darum kümmerte, daß sämtliche Kirchenväter und Päpste, wenn von der Ordnung des Weltalls die Rede war, nur den aristotelischen Standpunkt gelten ließen.

Abermals versuchte er zu schlafen, brachte es aber wiederum nicht fertig. Vom Turme der Santa Giustina ertönten Glockenschläge. Draußen begann das Leben zu erwachen. Ganz vereinzelt klopften auch schon Schritte auf dem Bürgersteig. Frische, fröhliche Worte tönten durch die jungfräuliche Morgenluft klarer und heller als die Stimmen am Tage. Und die Sonne schien schon mit strahlender Kraft. Plötzlich ergriff ihn ein heftiger Drang, diese Sonne unbedingt einmal zu sehen, nachzuprüfen, wie es in Wahrheit um sie bestellt sei. Er sprang aus dem Bett, suchte nicht einmal nach seinen Pantoffeln und lief auf den Hof hinaus. Von dort sah er mit erregter Neugierde in den Himmel. Um die Gefahr für seine Augen kümmerte er sich nicht. Und wenn er erblindete, er mußte feststellen: bewegte sie sich oder die Erde? Er mußte aber die Augen sofort wieder schließen … Barfuß, im Nachtgewand stand der Kranke mitten im Hof. Da trat jemand durch die Pforte, die die nachlässigen Mägde nachts nicht verschlossen hatten. Professor Fabrizio trat ein. Er erstarrte fast zur Salzsäule, als er den fiebernden Kranken barfuß im Hemd auf dem Hof erblickte.

»Seid Ihr verrückt, geworden, mio caro? Was treibt Ihr hier?«

»Nichts«, entgegnete reuevoll und seine Unsinnigkeit einsehend der Sünder, »ich mußte bloß schnell etwas nachsehen. Aber ich gehe schon zurück.«

Er lief hinein, wie ein auf frischer Tat ertapptes Kind, geradeswegs ins Bett.

»Wie habt Ihr geschlafen, unfolgsamer Mensch?«

»Danke … aber warum soll ich lügen. Ich will die Wahrheit eingestehen. Ich habe die ganze Nacht gelesen.«

Er zeigte ihm das Buch.

»Ach so! Das? Ich habe es auch gelesen. Ausgemachter Blödsinn. Ich bin zwar kein Sachverständiger, aber soviel weiß ich trotzdem, daß sich die Sonne um die Erde bewegt. Morgens geht sie auf und abends geht sie unter. Ich kann einfach nicht begreifen, wie ein Mensch mit gesundem Verstand auch noch über etwas streiten kann, was er mit eigenen Augen steht. Bezeichnend, daß auch der Leser eines solchen Besessenen ein Narr ist, der sich um jeden Preis eine Lungenentzündung holen will. Nehmt zur Kenntnis: wenn Ihr noch einmal barfuß und nicht angezogen aus dem Bett steigt, komme ich nicht mehr hierher. Zufällig will ich heute den ganzen Tag über in meinen Weinberg, deswegen bin ich schon so früh am Morgen gekommen. Also sagt, Galilei, habt Ihr Euren Verstand wirklich verloren? Was glaubt Ihr denn eigentlich?«

Der Kranke hatte seine Gedanken ganz woanders. Er lächelte.

»Wenn ich nur selber wüßte, woran ich glauben soll.«

Der Professor ging wieder und er blieb mit seinen Gedanken allein. Erst vormittags gegen halb elf Uhr schlief er ein, zu Tode erschöpft. Abends erwachte er mit Schüttelfrost. Doch auch seine verwirrten Fiebergedanken waren sofort wieder auf Kopernikus gerichtet. Abermals nahm er das Buch zur Hand. Vor seinen fiebrigen Augen tanzten die Buchstaben … Nunmehr legte sich ihm die Krankheit auf die Gelenke. Aber da war er sich schon im klaren. Kopernikus hatte recht! Sicherlich war es so, obwohl er es noch nicht beweisen konnte. Und ein Gelehrter sollte eigentlich nie etwas behaupten, was er nicht handgreiflich und für die Augen klar wahrnehmbar durch Experimente beweisen kann! Wie sollte er das aber nur beweisen? Auf dem Papier überzeugte Kopernikus ja ziemlich deutlich. Seine Berechnungen, seine astronomischen Formeln, seine Beweise hielten stand und bildeten ein festes Ganze. Nicht für jeden war aber das ein Beweis. Und solange er keinen einwandfreien Beweis zu erbringen vermochte, mußte er das Almagest weiter lehren, obwohl er längst wußte, daß es irrig war und daß es ein solches Universum gar nicht gab. Aber mit seiner ganzen Kraft und seiner ganzen Begabung wollte er inzwischen die Beweise für Kopernikus suchen, und er würde sie auch finden, mochte es biegen oder brechen!

Zorzi kam aus Venedig herüber, um den Freund zu besuchen. Er fand einen schwerleidenden Menschen, der laut aufschrie, wenn er seinen Fuß bewegen mußte, und dessen eines Handgelenk entsetzlich angeschwollen über der Decke lag. Er litt so fürchterlich, daß ihm Schweißperlen auf den Schläfen stand und er sich vor Schmerz die Lippen blutig biß.

»Nicht wahr«, fragte Zorzi, die gesunde Hand voller Mitleid streichelnd, »der Mensch ist nicht immer glücklich?«

Der Kranke stöhnte und quälte sich, aber als er an seine große Aufgabe dachte, lächelte er und sagte:

»Das Leben ist herrlich!«


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