Max Halbe
Jo
Max Halbe

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16

Ewald hatte heute vormittag nicht im Atelier gearbeitet. Diese Regentage gaben kein günstiges Licht für sein Bild. Die gestrige Sitzung hatte mehr verdorben als gefördert. Nina war von einer Zerstreutheit gewesen...! (Naja! Erklärlich genug jetzt.) Heute morgen dann der Anfall... Man hatte doch endlich Aufschluß haben müssen. Laturner war geholt worden, hatte freudestrahlend Bericht erstattet und sich empfohlen. Die brave Haut! Ein Diplomat war nicht an ihm verlorengegangen. Aber um einen Schatten nachdenklicher schien sein breites Bauerngesicht doch, da er ging, als da er kam...?

Ewald schritt in seinem Bibliothekzimmer auf und ab. Also wäre er nicht vollständig Meister seiner selbst geblieben? Ein Jucken um die Mundwinkel, ein kurzes Verfärben, eine leise Tonschwankung, während er sich bei Laturner bedankte: irgend so etwas Dummes, Unkultiviertes hätte ihn verraten? Immer noch nicht trainiert genug? Man wurde Vater und besaß nicht die Gewalt über seine Nerven, um vor einem Bauernarzt seine Rolle mit Anstand durchzuführen? Körperreflexe? Wen es juckt, der kratzt sich. Aber man darf sich nicht kratzen. Man hat Haltung zu wahren.

Er blieb stehen und legte die Hand an die Stirn. Vater geworden von Rudolfs Gnaden... Der beliebte Kopfschmuck... Raum genug hier oben... Es lichtete sich... Wieder die tiefe Weisheit der Natur, die kein leeres Plätzchen duldete. Der horror vacui. Wenn die Haare ausgingen, dann kam das dafür... Und jetzt mußte ja wohl geknallt werden...? Gatte oder Liebhaber? Onkel oder Neffe? Zum Schluß (oder vorher? Wie war das in den Dramen?) das Gericht über die Sünderin. In Rudolfs »Jo« stand es ja. Töte sie! So schloß es in der Renaissance. Verstoße sie! Achte sie! So schloß es heute. Das Rezept der Renaissance war immer noch menschlicher. Die blonde Parisina, die dem Correggio als Jo gesessen, brauchte nicht lange zu leiden. Und der junge Feuerkopf, den sie zu lieben geglaubt, empfahl sich geräuschlos. Ganz wie in der Wirklichkeit, ein paar Jahrhunderte später. Die Dichter sind Seher. Besonders wenn es sich um das eigene kostbare Ich handelt. Vorsicht und Tapferkeit. Nicht umsonst hatte einer der Größten von ihnen ihre Rangordnung gemacht. Arme Parisina! Du starbst, und ein junger Poet der Nachwelt bedichtete dich ... Ärmere Nina! Dein Leben würde deine Sühne sein, dein Poet aber reiste ab, und sein nächstes Trauerspiel galt einer andern...

Ewald war ans Fenster getreten. Die Luft im Zimmer war muffig. Wahrscheinlich die Weisheit der Jahrtausende, die aus ihren Behältern quoll. Weisheit hat immer etwas Stockiges wie die Hosen eines alten Professors. Kaspar, dieser Schlemmer, schien das Odeur zu lieben, daß er kein Fenster aufmachte. Besser, man hätte den Extrakt aller dieser Folianten im Kopf gehabt statt in der Nase. Aber hätte man darum mehr für das Leben besessen? Hätte auch nur in einem Fall, wie dem seinen jetzt, einer von diesen Bänden ihm den Weg finden helfen? Den Weg, der sein Weg war, nicht der eines andern?... Vergangenheit alles, was hier stand. Aber jetzt galt es Zukunft zu schaffen, eigene und fremde. Vielleicht eine Zukunft, in der einst alle leben würden... Es war wie ein Lichtsignal, das einer in die Nacht hinaus gab, dem Bahnzug der Menschheit entgegen, den man in weiter Ferne kommen hörte. Ein Lichtsignal, das da hieß: Freie Fahrt! Ein kleiner bescheidener Signalwärter an dem großen Eisenbahndamm zwischen dem heute und dem Übermorgen... So etwas galt es vielleicht zu sein.

Er schüttelte den Kopf. Nein! Der Geist dort in den Pergamentbänden erschien ihm in diesem Augenblick wie jene Geister der orientalischen Märchen, jene Dschinns, die irgendein überlegener Zauberei in die Flasche gesperrt hat. Unterwürfig und unansehnlich, solange sie gefangen sitzen. Aber ist man schwach genug, sie herauszulassen, so verdunkeln sie den Weltraum und verschlingen uns. Also Vorsicht mit dem Geiste, den andere auf Flaschen gezogen haben, und nur dem eigenen Geiste trauen.

Ewald stieß das Fenster auf und atmete die feuchte Kühle, die ihm entgegenschlug. Der graue Regensack, der solange schwer und prall heruntergehangen hatte, schien ausgepumpt. Durch einzelne Risse und Löcher schimmerte es hell hindurch. Allmähliches Aufklaren, verkündete der Wetterbericht. Das Barometer stieg seit gestern.

Ewald nahm eine neue Prise Sauerstoff und abermals eine. Lindenblütenduft! Die letzte Garbe des großen Feuerwerks, womit Natur sich jedes Jahr von neuem in Szene setzt. Die Linden blühten. Der Frühling war aus... Sein Blick fiel auf den Casanova-Band, der aufgeschlagen auf dem Lesepult des alten braunen Klosterstuhls lag. Alles war darin enthalten: der Frühling, die Liebe, das Feuerwerk, die große Illusion... Aber auch der Herbst fehlte nicht, das Kaltwerden, Nachlassen, Versiegen. Es ging ganz klar und vernünftig darin zu, wie im Leben selbst. Kein besonderer Überschwang und doch weit entfernt vom Alltäglichen, vom Maßstab kleiner Leute. Gut! Man hatte das seine gehabt, trotzdem man gewiß kein Casanova gewesen. Es hatte doch mancherlei geblüht, daheim und draußen in der Welt. Mehr draußen eigentlich als daheim. Das Zuhause hatte ihn nie besonders gereizt, wenn nicht etwas Fremdartiges daran gewesen. Vielleicht war er darum auf Nina...? Aber konnte man sich wundern, daß Orchideen keine Veilchen sind? Er wollte ja doch Orchideen und keine Veilchen. Wenn sie das Klima hier nicht recht vertrugen...?

Und jetzt versuchte man das fortzupflanzen... Damit hatte des Dichters prophetisches Gemüt nicht gerechnet in seinem Werk: mit dem Kind. So etwas überließ man der banalen Wirklichkeit. Man liebte, man gaukelte, sog Honig aus allen Blüten... Was aus dem Spiel nachher wurde... Dafür war der gesetzlich deklarierte Gärtner da. Der bunte Falter flog weiter.

Ewald schlug mit der flachen Hand auf den geöffneten Casanova-Band. Das Buch machte einen kleinen Sprung in die Luft und fiel zur Erde. Ewald achtete nicht darauf. Es war ja doch ein Schimpf sondergleichen, was man ihm antat! Ein Kuckucksei ins Nest gelegt! Und von wem? Von einem jungen Libertin, dessen väterlicher Freund er jederzeit gewesen. Von einer Frau, deren Glück er gemacht. Das war...! Das forderte ja doch...! Nein! Ohne Blut ging das nicht ab! Man mußte die Konsequenzen ziehen. Schade um das junge Talent! Aber es würde sein müssen. Und sie? Nina? Die er geliebt hatte, für die er getan, was nicht der Hundertste tut... Die er vielleicht noch liebte? (Teufel! Konnte das sein?) Was wurde aus ihr?

Ewald sah nach der Tür. Kaspar trat ein und verbeugte sich. Ein Brief... Ewald winkte, und Kaspar glitt geräuschlos näher. Sein fragender Blick fiel auf das Buch am Boden, dann auf Ewalds Miene. Es war nicht ermutigend, was man da las. Bücher, die am Boden lagen und die man nicht aufheben durfte... Sturmzeichen! Nichts Gutes, was vorging!

Ewald hatte stirnrunzelnd den Brief genommen, während Kaspar, leise in seiner schwarzen, etwas geräumigen Dienerlivree schlotternd, sich mit dem Tablett zur Tür zurückzog.

»Wer hat den Brief gebracht?« fragte Ewald kurz.

»Die Jungfer von Frau Baronin, gnädiger Herr.«

»Wo ist Frau Baronin?«

»In ihren Zimmern, gnädiger Herr.«

»Es ist gut. Warten Sie.«

Ewald hielt Ninas Zeilen in der Hand. Wenige Worte.

»Verurteile mich nicht ungehört! Laß mich noch einmal mit dir sprechen! Ich warte auf das Zeichen. N.«

Ewald nahm eine Visitenkarte vom Schreibtisch und warf mit Bleistift die kurze Antwort hin. »Bringen Sie das Frau Baronin, Kaspar.«

Kaspar näherte sich wieder in seiner schattenhaften Art, die gleichsam um Entschuldigung zu bitten schien, daß so etwas wie er überhaupt da war, legte mit zitternden Fingern das versiegelte Billett auf das silberne Tablett und schickte sich von neuem an zu gehen. Ein Wink Ewalds hielt ihn zurück.

»Joseph soll ›Undine‹ bereit halten. Ich fahre aus.«

»Zu Befehl, gnädiger Herr.«

»Im übrigen bleibt es dabei: Ich bin heute für niemanden zu sprechen. Auch nicht für Frau Baronin. Verstanden, Kaspar?«

Kaspar knickte ergebungsvoll zusammen.

»Wie gnädiger Herr befehlen.«

Ewald war allein. Er trat wieder zum Schreibtisch, nahm Ninas Brief und ging damit zum Fenster. Besseres Licht dort... Der blaßblaue Bogen duftete kaum merklich. Ewald hielt ihn gegen das Gesicht. Ihr Lieblingsparfüm! Ein Geschenk von ihm selbst. Lavendel.

Er lachte kurz auf. Er hatte kein Monopol auf Lavendel. Wer weiß, von wem das hier stammte? Vielleicht hatte schon Francesco seiner Parisina Lavendel geschenkt, und ehe sie zum Richtblock ging, hatte sie ihr blondes Haar damit genetzt...

Er betrachtete Ninas Schriftzüge. Worte sind Maske. Aus der Schrift spricht der Mensch. Diese hier war fest und aufrecht wie immer. Kein Schwanken, kein Bereuen. Ich bin, die ich bin, sagte diese Schrift. Konnte man verzeihen, wo der andere sich gar nicht schuldig fühlte? Laß mich noch einmal mit dir sprechen, bat sie... Also doch wie ein Bekenntnis? Mit den Lippen! Nicht mit dem Herzen! Ich bin, die ich bin, sagte die Schrift... Wie nannte man das? Verworfenheit, Größe?... Größe?... Hatte er es nicht so gewollt? Nicht alles vorausgesehen? Wie sagten die Sterne? Mond in Quadratur mit Mars und Saturn. So stand es. Nur Jupiter konnte noch helfen...

Ewald sah unwillig auf. Also doch wieder soweit? Man weidete sich an seiner eigenen Schmach? Genoß seinen Schimpf wie ein kranker Lüstling die Peitschenhiebe der Dirne... Nein! Jetzt nichts von Nachsicht, Verzeihung! Er hatte sich seine »Undine«, sein Motorschiff, bestellt... Sammlung! Übersicht! Frische Luft! Seewind!... Aber sie wartete... wartete...? Das Zeichen, das kommen sollte...? Er gab kein Zeichen! Sie sollte warten lernen... Er hatte ja auch gewartet und kein Zeichen bekommen. (Erst neulich im Atelier!) Jetzt war die Reihe an ihr.


Draußen am Dampfersteg schaukelte »Undine« auf der grauen, klatschenden Flut. Joseph, der flachshaarige Stegwärter, bediente die kleine, aber starke Maschine, die ungeduldig trommelte. Kaspar stand mit Wettermantel und Sturmmütze bereit. Der Himmel blickte in einem scheckigen, noch ziemlich feindseligen Grau, aber es regnete nicht mehr. Eine kräftige Brise fegte über den See.

Ewald fühlte, wie es ihm freier ums Herz wurde. Wasser! Wind! Wellen! Schiffsgeruch!... Die Fahrten seiner Jugend. Smaragdene, amethystene Meere. Schokoladebraune Mädchen. Zitronengelbe Bonzen. Zungenbrechende Laute. Auf den Kopf gestellte Sitten. Hier Gottes, was dort des Teufels. Hatte er nicht Ehrfurcht vor beidem gehabt? War er nicht immer ein Freiherr gewesen? Freiherr im Höchsten, was das Wort sagt? Warum denn jetzt auf einmal anders? Was lag so Besonderes vor? Eine leichte Schwebung, Schwankung der Nadel im Kompaß... Das Schiff schlingerte, stieß auf Grund... Aber alte Teerjacken fürchten sich nicht... Man riß das Steuer, kam wieder ins Fahrwasser... Beinahe hätte man festgesessen!...

Er ließ sich von Kaspar den Mantel umlegen und streifte das Sturmband unter das Kinn.

»Haben Sie Marie den Brief für Frau Baronin übergeben?« fragte er.

»Zu Befehl, gnädiger Herr.«

Er zögerte einen Augenblick, dann fragte er wie beiläufig:

»Frau Baronin noch in ihren Zimmern?«

Kaspar schüttelte den Kopf und verbeugte sich, so daß er aussah wie ein lebendiger Pfropfenzieher.

»Frau Baronin haben anspannen lassen.«

Ewald war doch erstaunt.

»Anspannen lassen...?«

»Frau Baronin haben eine Spazierfahrt unternommen. Um zwei Uhr wollten Frau Baronin zurück sein.«

»Es ist gut,« erwiderte Ewald, Tenue! dachte er. Man durfte sich ein Beispiel daran nehmen. Auf diesem Wege konnte man sich vielleicht noch finden.

Er sprang mit einem jugendlichen Satz, über den er selbst erstaunt war, ins Boot. Joseph drehte die Kurbel. »Undine« warf sich zurück und begann zu tanzen.


Mit dem zweiten Mittagsdampfer war unerwartet Rudolf eingetroffen. Nicht lange nachdem Nina und Rudolf ausgefahren waren. Neubauer war in der Stadt geblieben. Die Suche nach einer Iphigenie und Leonore ging noch fort. Wegen der Jo hatte man sich schon gar nicht einigen können. Eine heiße Unruhe warf Rudolf aus einem Entschluß in den andern. Heute vormittag hatte es ihn nicht mehr in der Stadt gelitten.

Er begab sich vom Schiff geradeswegs zu seiner Mutter. Wenn jemand ihm raten konnte, so war sie es. Hätte er nur gleich daran gedacht, statt wie ein Irrsinniger oder wie ein Feigling davonzurennen! Die Kämpfe und Selbstvorwürfe dieser Tage waren nicht ohne Spuren geblieben. Sein sonst so frisches, dunkel getöntes Gesicht war blaß. Ein paar scharfe Linien waren auf den jugendlichen Wangen eingezeichnet. Das Haar war zerwühlt. Er machte einen ungepflegten Eindruck, wie jemand, der nicht ins Bett gekommen war, getrunken zu haben schien, vielleicht sich nicht gewaschen hatte...

Sophie erschrak über sein verwüstetes Aussehen, noch mehr über seine Rückkehr gerade in diesem Augenblick. Mord und Totschlag konnte das geben! Sie hatte sich Nina gegenüber in die Brust geworfen. Die Römerin, die ihren Sohn fallen sieht... Du lieber Himmel! Sie hatte ihn in Sicherheit geglaubt. Konnte man ahnen, daß der exaltierte Junge dem andern gerade in die Pistole laufen würde? Er mußte mit dem nächsten Schiff wieder fort. Ein Glück, daß weder Ewald noch Nina zu Hause waren! Vielleicht gelang es, ihn wegzuspedieren, ohne daß er jemanden sah. Die Zeit war kostbar. »Ich bin wieder da, Mutter,« sagte er, nachdem er sie in die Arme geschlossen hatte. »Du wunderst dich?«

»Daß du da bist, merke ich,« sagte sie mit gut gespielter Ruhe. »Und wundern? Nein! Das verlernt man, wenn man einen Dichter zum Sohn hat.«

»Was... Was macht Nina?« fragte er nach einem Augenblick etwas stockend.

»Nina ist ausgefahren,« erwiderte sie kühl.

»Es geht ihr also gut?«

»Offenbar nicht schlecht, wie es scheint.«

Sie glaubte zu bemerken, daß er erleichtert aufatmete. Also auf diese Weise... Man mußte ihn so behutsam, so unbefangen wie möglich auf seinen Weg führen...

»Und was macht Onkel Hans?« fragte er weiter.

»Onkel Hans ist auf den See hinaus mit ›Undine‹. Wolltest du ihn sprechen?«

Rudolf nickte lebhaft.

»Ja. Ihn und vor allem Nina. Das ist der Grund meiner Rückkehr.«

Sophie überlief ein unbehagliches Frösteln. Aber sie ließ nichts merken.

»Und wie lange gedenkst du...?« fragte sie.

»Bis ich mit Nina im reinen bin. Und vielleicht auch mit Onkel Hans. Das weiß ich noch nicht. Dann je nach den Umständen...«

»Tu' das nicht, Rudolf!« fiel sie rasch ein. »Du bringst nur Unruhe damit ins Haus. Vielleicht Schlimmeres.«

»Mutter! Ich halte es nicht aus!« rief er und begann zwischen den Kirschbaummöbeln hin und her zu laufen.

»Was hältst du nicht aus?« fragte sie, äußerlich immer ganz ruhig. »Ohne sie!« ächzte Rudolf und hatte die Hände in den zerwühlten Haaren.

»Nina scheint anders zu denken,« erwiderte Frau Bartholdy. »Ich habe sie mit keinem Wort von dir reden hören.«

Sie machte einen kleinen Gang durch das Zimmer. Log sie da etwa? Hatte denn Nina nicht Rudolfs Namen angerufen?... Ja! Aus Berechnung! Rudolfs Mutter sollte helfen, wo sonst vielleicht nichts mehr half. Deshalb beschwor man sie bei ihrem Sohn... Oh! Sie kannte jetzt diese Frau, die Spazierfahrten machte, statt sich in ihrem Kämmerchen an die Brust zu schlagen.

Frau Bartholdy schüttelte energisch den Kopf. Nein! Man log nicht! Man handelte nur als Mutter, wenn man seinen Jungen vor ihr zu bewahren suchte! Sie trat zu ihm hin. Er hatte sich auf einen Stuhl geworfen und preßte den Kopf in die Hände.

»Ich halte es nicht aus ohne sie!... Ich halte es nicht aus!« hörte Sophie ihn murmeln.

»Sei vernünftig, Junge!« sagte sie und beugte sich zu ihm hinunter.

»Vernünftig!« schrie Rudolf. »Du weißt nicht, was du sprichst, Mutter!«

Sie legte ihre mütterliche Hand auf sein zerwühltes Haar.

»Es wird alles verwunden. Selbst das. Jeder macht es einmal durch.«

»Als ob das trösten könnte!« schrie Rudolf von neuem. »Als ob es keine Unterschiede gäbe! Es ist ja doch nicht die erste Frau, die man kannte. Von den andern hat man sich getrennt. Man ging eben. Oder sie gingen. Es war ein Schmerz... eine Wehmut... Was weiß ich! Es war halt aus... Hier verliert man etwas. Ein Gefühl, als ob ein Stück blühendstes Leben aus einem herausgerissen wird! Was nie wiederkommt, so!... Es ist undenkbar!... Undenkbar!«

Er schluchzte krampfhaft in sich hinein. Frau Bartholdy kannte das. Schon als Kind hatte er sich in eine Leidenschaft, eine Wut, in irgendeine Stimmung gleichsam hineingehetzt, bis er schließlich nicht mehr konnte, an allen Gliedern zitterte, manchmal fast ohnmächtig schien. Sie hatte sich oft darum geängstigt. Aber es ging ja immer vorüber. Von wem er das haben mochte? Nicht von ihr, noch weniger von ihrem Mann. Sollte das gar...?... Fort mit dem häßlichen Gedanken! Er bettelte jetzt zu oft an ihrer Schwelle.

»Von Verlieren sprichst du,« sagte sie zu Rudolf, »von Niewiederkommen. Du mit deinen sechsundzwanzig Jahren! Ich will dir sagen, was du verlierst: eine Frau, die nicht dir gehört und niemals dir gehören darf. Und fahre nicht auf, Rudolf: eine Frau, die deiner nicht ganz würdig ist.«

»Ich weiß! Ich weiß! Ich weiß alles!« rief Rudolf und hielt sich die Ohren zu. »Man hat ja einen guten Arzt gehabt. Es ist einem nichts erspart worden.«

»Um so besser, wenn dir jemand die Augen geöffnet hat!« erwiderte sie. »Dann begreife ich meinen Jungen wirklich nicht mehr.«

Sie legte von neuem ihre Hand auf sein störrisches und verwildertes Haar.

»Weshalb ist sie denn Onkel Hansens würdig?« stöhnte er. »Darüber steht uns beiden kein Urteil zu,« gab sie achselzuckend zurück.

Rudolf sah mit gequälten Augen zu ihr auf.

»Ihr nennt sie kalt, treulos, unwürdig, oder was sonst noch,« sagte er. »Wißt ihr, was sie ist? Sie ist die Liebe!... Das Glück!... Die Phantasie! Kann das einem allein gehören? Haben nicht alle Anspruch darauf wie auf das Sonnenlicht?«

Sophie hatte ein bitteres Lächeln. Da war es wieder! Alle gleich, die Männer. Freund, Sohn, Bruder, alle suchten nur die eine Art von Weib.

»Dann freilich!« entgegnete sie. »Ich wußte nicht, daß ein Weib, das sich so teilt, so geliebt werden kann.«

»Da liegt es, Mutter!« rief Rudolf mit fast leuchtenden Augen. »Eben weil sie sich teilt. Weil man darum kämpfen muß... Sie hat mir Unnennbares geschenkt. Ich werde nie mehr eine Zeile schreiben, wenn sie von mir ist... Und meine ›Jo‹ vernichte ich.«

Er sprang mit beiden Füßen zugleich auf.

»Begreifst du jetzt, daß ich sie brauche wie das Sonnenlicht, und daß ich tot bin, wenn ich sie verlieren muß?... Das ist es, was ich Onkel Hans zu sagen habe. Mag es sich dann zwischen uns entscheiden!«

Frau Bartholdys Herz klopfte heftig.

»Rudolf!« sagte sie. »Ich habe niemand als dich. Ich glaube, ich bin dir eine ganz gute Mutter gewesen...«

»Das warst du, Mutter!« rief er und legte den Arm um ihren Nacken. »Und bist es noch und wirst es immer sein. Hätte ich sonst das Vertrauen zu dir? Mit keinem hätte ich so gesprochen wie jetzt mit dir.« Er zog sie ganz in seine Arme und küßte sie auf beide Backen, mit einem Lächeln, das zugleich aus Kindlichkeit und aus Überlegenheit zu kommen schien.

»Und nun rede!« sagte er, indem er sie mit einer fast linkischen Gebärde gleichsam auf ihren Platz zurückstellte, wie eine kostbare Porzellantasse, die man zu zerbrechen fürchtet.

Sophie atmete schwer. Sie mußte ein wenig nach Luft ringen.

»Na, Mutter...?« ermunterte er, indem er ihr leise auf die Wange klopfte.

Sie hatte sich gefaßt.

»Ich habe nie große Worte gemacht,« sagte sie. »Aber du bist für mich vielleicht das, was jene Frau für dich ist. Kannst du mich verstehen?«

Er nickte etwas ungeduldig. Ein neuer Anfall schien sich in ihm vorzubereiten. Sophie bemerkte es.

»Dann tu' das nicht, was du vorhast,« fuhr sie rasch fort. »Überdenke dir deinen Entschluß wenigstens reiflich. Es muß ja nicht von heute auf morgen sein. Dein ganzes Leben kann davon abhängen. Überdenke es dir. Versprichst du mir das?«

Sie legte ihre Hände bittend auf seine Schultern und sah in sein zuckendes Gesicht.

Ein Stöhnen kam aus seiner Brust.

»Was verlangst du von mir?... Was soll ich versprechen?«

»Ich verlange nichts Unmenschliches. Nur Aufschub, Überlegung... Nur Zeit sollst du dir lassen. Versprich es mir, Rudolf!«

»Also gut! Gut!« antwortete er gequält, wie jemand, dessen Kopf von dem einen, immer wieder herabfallenden Tropfen mürbe geworden ist. »Was soll ich tun? Ihr Frauen seid unbarmherzige Gläubiger. Ist es die eine nicht, dann ist es die andere... Ich fürchte, ich werde immer wieder vor euch kapitulieren.«

Sophie mußte trotz allem über ihn lächeln. Das war nun ihr Sohn! Ihr Sohn!

»Du bist ein großes Kind,« sagte sie. »Möge es nie eine Frau schlechter mit dir meinen, als deine Mutter. Und jetzt geh' und packe deine Sachen. Tim soll dir helfen. Mit dem nächsten Schiff mußt du fort.«

Rudolf fuhr auf.

»Mutter...?!«

Sophie erhob ihre Hand.

»Du hast es mir versprochen. Fahre nach München. In die Berge. Nach Italien. Wohin du willst. Nur laß dir Zeit. In drei, vier Wochen kannst du ja wiederkommen.«

»Ohne daß ich Nina gesehen habe...?... Unmöglich!«

Frau Bartholdy übermannte ein plötzlicher Zorn.

»Rudolf?!«

Aber sie fand sich sogleich wieder.

»Ihr führt immer euren Goethe im Munde, ihr Dichter!« rief sie. »Dann richtet euch doch nach seinem Beispiel. Denke an seine Stein. Auch Goethe ist stillschweigend abgereist. Und kam mit dem Tasso und mit der Iphigenie wieder.«

Rudolf durchzuckte es. Sein eigener Gedanke das, als er vor drei Tagen ohne Sang und Klang... Wäre er nur dabei geblieben! Der erste Einfall ist immer der beste. Jetzt von neuem dieser Kampf... Seine Mutter hatte recht... Goethe und Frau von Stein... Er atmete tief auf und strich sein Haar zurück. »Mutter, du bist ein Advokat, ich weiß nicht, ob Gottes oder des Teufels. Du kannst Schwarz in Weiß verwandeln und man merkt es nicht... Ich sehe dich noch.«

Er winkte ihr zu und ging rasch hinaus.

»Aber nur mich! Niemanden sonst!« rief sie ihm nach.

Sie sank erschöpft in einen Sessel und schloß die Augen. Das war ihr Sohn! Was für einen tiefen Blick in ihn sie getan hatte!... Und in sich selbst auch. In die eigene Vergangenheit. Da war jener Gedanke wieder, der wie ein schmutziger Landstreicher vor der Tür lungerte und herein wollte. Man mußte ihm einmal ins Gesicht leuchten...

Sie saß zurückgelehnt, noch immer mit geschlossenen Augen. Hatte sie nicht auch die Ehe gebrochen? Gerade so wie die andere, über die sie sich weit erhaben dünkte? Nicht so handgreiflich wie die. Nur mit dem Gefühl, mit der Phantasie. Aber war das vor dem Auge Gottes nicht gleich? Wie lebendig die Erinnerung in ihr war!... Jene ersten Zeiten ihrer jungen Ehe... Mein Himmel! Ein Menschenalter seitdem... Ihr Mann fast um zwanzig Jahre voraus... So ganz nur Freund. So gar nichts vom Liebhaber... Und da in seinen Armen... Wie hatte das nur kommen können? Ein fremdes Bild... Nicht er, der sie umfangen hielt, dessen Frau sie war... Der Fremde... Brandstädter vor ihren Augen, ihrer Seele... Ihm hatte sie sich geschenkt. Ihr Mann hatte nur ihren Leib besessen. Mit dem Geliebten hatte sie sich in der Seele vermählt... Nicht lange und sie hatte sich Mutter gefühlt... Rudolf ... Wessen Sohn war er nun eigentlich? Brandstädters oder Bartholdys? Wem gehörte er, seinem leiblichen Vater oder dem Vater im Geiste? Konnte ein Zweifel sein? Gerechter Himmel! Kam jetzt das Strafgericht?... Es hatte lange warten lassen. Aber Gott hat ja Zeit. All das Übertriebene, Verstiegene, das Gefahrdrohende in Rudolfs Charakter... erinnerte das nicht an Brandstädter? Und wenn ihr Sohn einmal an sich selbst zugrunde ginge, geschah es vielleicht, weil er im Zwiespalt empfangen war, in Sünde und Ehebruch mit einem, dessen Bild vor ihrer Seele schwebte und der ihr geheimer Geliebter war und nicht ihr Mann?

Sophie sprang auf und faßte sich an den Kopf. Irrsinn...?! Wohin ging es mit ihr durch...? Was waren das für Gedanken für eine Frau, die ohne Fehl gewandelt war zeitlebens! Einerlei, wie alles zusammenhing. Vielleicht wäre kein Dichter aus ihrem Schoß entsprungen, ohne diese Sünde... Falls es eine war. Aber was hieß dann Sünde, wenn dies keine war? So wäre Sünde doch wieder Leben... Höchstes, edelstes Leben! Lag nicht auch dazu der Keim in ihrem Sohn, trotz allem Trüben, Schlackenhaften seines Wesens? Und wenn der Keim einmal reifte, war dann nicht ein großer Mensch der Welt geschenkt, weil eine Frau schwache Stunden gehabt hatte? ...

Frau Bartholdy richtete sich straff auf. Durfte man Über eine andere den Stab brechen, wenn man selbst nicht rein war? Hatte sie nicht gelernt: Die Rache ist mein? Strafte sich zuletzt nicht alles durch sich selbst? (Ach! Sie hatte es nur zu sehr erfahren.) Und war nicht auch hier schon wieder ein neues Leben im Werden, das einst aus Bösem Gutes machen konnte? Das arme Geschöpf!... Nicht nur das, welches kommen sollte und unschuldig zu büßen hatte. Nein, auch sie! Die Schuldige selbst!... Nina!... Sie hatte sich vor ihr hingeworfen. (Ohne ein bißchen Komödie ging es ja nicht.) Sie hatte um Hilfe gejammert... Zurückgestoßen hatte man sie. Pfui! Das war schlecht von ihr. Rudolfs Geliebte... Die Mutter von Rudolfs Kind ... Wir Menschen müssen uns beistehen in unserer Not. Wäre Hans Lebrecht nur erst vom See zurück! Eine Frau, die einen Ausweg finden will, findet ihn auch.

Sophie atmete erleichtert, befreit auf. Es war fast wie Freude in ihr. Vielleicht war man doch noch zu etwas gut in der Welt. Nicht wenn der Himmel ihnen voller Geigen hing, brauchten die Männer eine wie sie. Aber wenn der Wind pfiff und kein Stern schien und die Galatheen versanken, dann waren die Erikas oder die Sophien am Platze.

Gegen zwei Uhr nachmittags kam Nina von ihrer Spazierfahrt zurück. Als die beiden Füchse in die Allee vor dem Schloß einbogen, dachte sie:

»Jetzt hat es sich schon entschieden. Du weißt es nur noch nicht. Wenn Hans Lebrecht sich noch besonnen hat, dann ist es gut, dann wird ein Brief von ihm daliegen. Wenn nicht, dann ist es aus. Dann mußt du es tun.«

Sie wiederholte sich mehrmals, als müsse sie es auswendig lernen:

»Entweder ein Brief von ihm, er verzeiht dir, oder du tust es.«

Während Christoph, der feiste Kutscher mit den roten Geheimratskoteletten, seine Füchse noch einmal ausgreifen ließ, daß die Hufe auf der schon etwas abgetrockneten Straße nur so knallten, zog Nina das Billett ihres Mannes aus dem silbernen Handtäschchen, das neben ihr auf dem Wagenpolster lag. Sie hatte das während der Fahrt durch den Park wohl ein dutzendmal wiederholt, ohne daß es ihr recht zum Bewußtsein kam.

»Hans Lebrecht von Ewald wünscht niemanden zu empfangen.«

Das war alles. Der Name lithographiert, das andere mit Bleistift daruntergeschrieben. Kurz und bündig! dachte Nina. Marie hatte ihr das versiegelte Kärtchen überbracht. Sie hatte es mit ihrem Elfenbeinmesserchen geöffnet und war sehr ruhig gewesen, als sie den Inhalt las. Marie hatte ihr gewiß nichts angemerkt. Konnte denn eigentlich etwas anderes darin stehen? Er ließ sie fallen. War sie nicht ganz darauf gefaßt? Sie hatte anspannen lassen und hatte währenddessen nur das Notwendigste im Schreibtisch geordnet. Was brauchte sie sich noch vorher gleichsam in Gala zu werfen! Wer das in die Hände bekommen würde, was im Schreibtisch lag – Ewald, Sophie vielleicht – der wußte ja doch, wer sie gewesen war. Wozu sich noch viel auf Tugend schminken...! Nur ein paar Briefchen aus der Dionysienzeit verbrannte sie rasch im Kamin. Was sollte das dumme Zeug jemandem in die Hände fallen! Das übrige konnte liegenbleiben wie es war... Und nun die Fahrt. Diese letzte Frist mußte man sich selbst und dem Schicksal gönnen. Hans Lebrecht konnte im ersten Zorn geschrieben haben. Sehr begreiflich schließlich! Zwei Stunden ließ sie ihm Zeit, sich zu besinnen. Es war Zwölf. Um Zwei würde sie zurückkommen. Kaspar wußte es von Marie. Von dem konnte es Ewald erfahren, wenn er wollte. Es war lange genug, um andern Sinnes zu werden. Wer sich bis dahin nicht besann, besann sich nie.

Die zwei Stunden waren um. Sie hatte noch einmal das Vergnügen des Fahrens genossen. Es war der große Traum ihres Mädchenherzens gewesen, dereinst in eigener Equipage mit eigenen Pferden durch einen eigenen Park zu fahren. Nun, das hatte sich ja erfüllt, alles drei. Sie hatte zum letztenmal an sich vorbeigleiten lassen, was nun schon so lange zu ihrem Leben gehörte: die Baumgruppen, die Wiesen, den Wald, das Seegestade, das Parkhaus (ein Wink mit der Hand im Vorüberfliegen, zurückgelehnt in die Wagenkissen), den alten Sebastian mit feierlich geschulterter Sense... Alles nur wie ein Bild im Film, gar nicht ganz wirklich und leibhaftig... Sie selbst scheinbar klar und ruhig und vernünftig und doch mit einem Gefühl, als gehöre der Kopf auf ihren Schultern jemand Fremdem an.

Und jetzt mußte es sich entscheiden. Der Wagen rollte hart über die steinerne Auffahrt. Christoph zog mit einem Ruck die Zügel an sich, die Füchse schäumten ein wenig. Kaspar erschien am Wagenschlag, hinter ihm Marie. Nina wiederholte sich schnell noch einmal, was sie schon auswendig wußte:

»Entweder er hat mir ein Zeichen gegeben oder es muß geschehen.«

Sie stieg ganz ruhig aus, nickte Christoph mit einem Lächeln zu (der würde sie nun auch nie mehr fahren!) und trat auf die Treppe.

»Noch irgend etwas zu melden?« fragte sie Kaspar wie beiläufig. Kaspar schüttelte den Kopf und verbeugte sich in seiner pfropfenzieherhaften Manier.

»Nichts, Frau Baronin... Herr Baron haben ›Undine‹ genommen, sind auf dem See. Herr Baron scheinen eine längere Ausfahrt vorzuhaben.«

Nina schlug einen Augenblick das Herz bis zum Halse herauf. Aber es war gleich wieder still. Also entschieden! Die Karten abgehoben... Schwarz lag obenauf ...

»Ich brauche Sie nicht mehr, Kaspar,« sagte sie freundlich. »Gehen Sie nur.«

Ein beileidspendender Blick Kaspars, eine Verbeugung, dann war er weg. (Auch den würde sie nicht mehr zu sehen bekommen!)

Marie folgte ihr durch die enge, winklige Galerie, wo die Bilder der Serbelloni hingen. Nina fand im Vorbeigehen, daß sie heute alle etwas besonders Nachdenkliches hatten, die Männer und die Frauen mit den Halskrausen und den Perücken in ihren verblichenen Goldrahmen. Vor dem Bild einer jungen blonden Frau mit schmalen blassen Zügen, in blauer Seide mit tiefem Ausschnitt, blieb sie einen Augenblick stehen.

»Die sieht mir ähnlich,« sagte sie zu Marie. »Es fällt mir immer mehr auf. Meinst du nicht auch?«

Maries braune Kinderaugen schienen merkwürdig groß und rund und auch etwas feucht. Das dumme, gutmütige Ding! Was hatte sie denn?

»Das soll doch die sein, die in den See gestürzt ist worden,« stammelte Marie und wischte sich über die Backen. »Weiß denn Frau Baronin nicht?«

»Die letzte Geliebte des Gasparo,« bestätigte Nina mit Kopfnicken. »Ihr Standbild steht irgendwo im Park, ganz versteckt an einem Tümpel mit grünem Wasser. Es kommt selten ein Mensch dorthin. Wahrscheinlich soll sie ihre Sünden abbüßen, weil sie so ganz allein in der Wildnis schmachten muß. Ja, ja, der Leichtsinn und die Liebe, mein Kind!«

»Ach, liebe Gnädigste!« stammelte Marie, und ihre runden braunen Augen liefen von neuem über.

»Galathea 1697, steht auf dem Sockel,« murmelte Nina und schien über etwas nachzusinnen.

»Merkwürdig! Auch Galathea!« wiederholte sie kopfschüttelnd.

In der Tür des Wohnzimmers begann ihr Herz abermals zu klopfen. Konnte nicht doch noch ein Brief von Hans Lebrecht...? Was wußten denn Marie und Kaspar davon? Er hätte ihn ja selbst hinlegen können. Sie schüttelte unwillig den Kopf. Was für Ideen! Hans Lebrecht und Briefe bringen...! Ein schneller Blick auf den Schreibtisch überzeugte sie, daß kein Brief dort lag. Das Zeichen war ausgeblieben. Jetzt stand es fest. Sie legte die Hand unter die linke Brust. Alles ganz still. Es tickte wieder seinen ruhigen Gang. Wie lange noch! Jetzt mußte es geschehen. Nur nichts hinausschieben! Mut und Stimmung waren da, wie nie. Wenn sie jetzt nur noch die kurze Zeit vorhielten! Es war wie im Augenblick, ehe man auf die Bühne tritt. Der Inspizient soll das Zeichen geben... Wird man es können? Man war so sicher...

Marie hatte ihr Hut und Jackett abgenommen und kniete nieder, um ihr die Halbschuhe aufzuknöpfen.

»Laß nur, Kind!« sagte Nina. »Ich bleibe jetzt schon so. Sie sind leicht genug. Du kannst gehen.« »Gnädigste sind so furchtbar blaß!« rief Marie mit ganz verängstigten Augen.

»Es hat nichts auf sich. Geh jetzt.«

Marie beugte sich plötzlich über ihre Hand. Nina fühlte etwas Warmes, Nasses. Sie wandte sich ab. Die hatte sie gern gehabt. Hübsch und anhänglich. Na gut! Aus!

Marie hatte leise die Tür hinter sich geschlossen. Nina wartete noch einen Augenblick, dann zog sie aus ihrem Handtäschchen Ewalds Billett, lief damit zum Schreibtisch, überlas es noch einmal und warf hastig ein paar Zeilen auf die andere Seite, die noch frei war. Sie steckte das Kärtchen in einen von ihren blaßblauen Umschlägen, die leicht nach Lavendel dufteten – ein Parfüm, von Ewald geschenkt –, siegelte, schrieb in ihren festen aufrechten Zügen Ewalds Namen darauf und legte das Billett auf das runde Glastischchen, unter die Stehlampe. Wer sich im Zimmer umsah, mußte es bemerken.

In der nächsten Sekunde war sie an der Tür. Noch ein Blick auf die dunkelroten Empiremöbel mit den Goldbeschlägen im Stil Katharinas II. Sehr reich! Sehr vornehm! Aber doch eigentlich nicht ihr Geschmack. Mehr für Männer oder für pompöse Frauen. Für sie war Rokoko und nicht Empire, behauptete Ewald ... Wie war sie denn eigentlich da hineingekommen?... Einerlei! Es war nicht viel daran verloren ...

Über die untere Treppe mußte man auf den Zehen hinauf. Nur jetzt keinem Menschen mehr begegnen! Und hier war ein häufiges Ab und Zu. Nur rasch und leise!... Es gelang. Sie war im ersten Stock. Niemand hatte sie auf ihrem letzten Weg gesehen. Die Hauptgefahr war vorbei. Die Treppe vom zweiten Stock kam selten einer herunter. Höchstens Ewald selbst. Aber der war ja draußen auf dem See.

Sie atmete tief auf. Ihr Herz schlug doch etwas schneller, vom raschen Gehen... Hoffentlich nicht Angst...? Sie stieg langsam Stufe für Stufe zum zweiten Stock. Also das war das Leben...! Man hatte sich ein bißchen umgesehen, ein bißchen geliebt, ein bißchen gelitten... Und jetzt vorbei! Warum mußte das sein? Wo lag ihre Schuld? War Schuld vielleicht nur das, daß andere es merkten? Wäre das Kind nicht gekommen...

Sie blieb auf der halben Treppe stehen und horchte scheu an sich hinunter. Nein! Das hatte noch nicht mitzusprechen. Das schlief noch. Hätte man es fragen können...? Waren die andern denn wirklich so viel besser als sie? Das bißchen Liebe! So viel Geschrei darum! Man war keine Nonne gewesen. Gott sei Dank! Aber die andern doch auch nicht. Warum brauchten denn die den Weg nicht zu gehen? Das waren die Reinen. Die Gott Wohlgefälligen... Aeh!

Sie schüttelte den Kopf und stieg langsam weiter. Ihr war, als würden ihr die Füße immer schwerer, gleichsam mit Blei ausgegossen, das sie die Treppe wieder hinunterzöge. Wenn sie nicht bald oben ankam, dann würde sie es nicht erreichen. Man mußte alle seine Kraft zusammennehmen... Nur die paar Stufen noch! Warum sie es eigentlich nicht mit Brandstädter machte? Er hat es ihr angeboten genug. Warum ging sie denn nicht mit ihm zusammen...? Sie legte die Hand an die Stirn. Warum denn nicht...? Sie hätte sich gefürchtet mit ihm! Ja! Komisch! Allein hatte sie Mut. Es war so still, so unauffällig... Zu zweien, mit ihm...? Es wäre eine große Szene daraus geworden. Zu viel Feierlichkeit! Zu viel Pomp! Sie hätte ganz den Mut verloren. Hier sah ihr niemand zu. Niemand kritisierte. Sie konnte es machen, wie sie wollte.

Sie stand vor der Tür des Laboratoriums und horchte. Alles ganz still. Herrgott! Wenn Ewald abgeschlossen hätte... ! Aber das tat er ja nie. Außerdem paßte auch der Schlüssel vom Atelier. Sie drückte leise auf die Klinke. Die Tür war auf... Gottlob! Noch einmal Luft geschöpft und dann hinein...

Plötzlich erschrak sie bis in die Haarspitzen. Es polterte etwas auf der unteren Treppe... Schnelle Tritte und Sprünge die Stufen hinauf... Jetzt war es im ersten Stock... Nina mußte sich am Türgriff festhalten, um nicht umzusinken... Wer kam da noch?... Was wollte man noch von ihr?... Es sauste die zweite Treppe in die Höhe... Kurzes Getrappel auf dem Gang... Ein Schnauben, Ächzen, Prusten...

»Marquis!... Liebling!... Bist du's?« rief Nina halblaut und zitterte noch immer. Das kleine schwarze Ungeheuer, dem die rote Zunge aus dem breiten Karpfenmaul heraushing, sprang mit einem kräftigen Satz an ihr empor. Es schien in die Arme genommen werden zu wollen. Nina beugte sich nieder und hob Marquis an ihre Brust.

»Willst du Frauchen Adieu sagen?« flüsterte sie. »Das ist recht von dir, Liebling... Meine schwarze Sonne kommt Abschied nehmen.« Sie küßte ihn neben die kleine schnuppernde Knopfnase und sah noch einmal die beiden hellgrünen Glaskugeln, die aus dem schwarzen Fell herausquollen, starr auf sich gerichtet. War das das Leben, das bitten kam? Oder wollte er mitgenommen sein, der kleine Satan? Nein! Pfui! Der hatte ja nichts verbrochen. Und Sophie würde schon für ihn sorgen. Er würde die besten Bissen bekommen. Auf den brauchte sie ja nicht eifersüchtig zu sein.

Sie stellte ihn behutsam auf den Boden zurück und flüsterte:

»Du mußt hier bleiben, Mausi. Du darfst nicht mit. Frauchen geht allein.«

Sie schlüpfte hastig durch den offenen Türspalt und schloß rasch hinter sich zu. Marquis war ausgesperrt. Gott sei Dank! Wenn sie noch lange in seine kleine schwarze Fratze geschaut hätte... Sie hörte ihn noch etwas an der Tür kratzen und schnauben. Daß nur niemand im Hause aufmerksam wurde... Aber nach einigen Sekunden schien er sich zu beruhigen.

Sie sah sich ein bißchen scheu um. Hier war es also! Hier wohnte der Tod! Weiße Wände und Vorhänge. Alles licht. Freundlich. Gar nichts Unheimliches. Gar nichts von Sarg und Begräbnis. Das kam nachher... Daran durfte man nicht denken... Nein! Man brauchte sich wirklich nicht zu fürchten. Dort drüben an der Wand die Apparate... Auf dem Tisch der Funkeninduktor... Dicht vor ihr die beiden Stäbchen am Boden... Sie kannte alles. Sie wußte Bescheid genug. Ewald hatte ihr guten Unterricht gegeben.

Marquis begann übrigens wieder an der Tür zu kratzen. Es war keine Zeit zu verlieren. »Still, Marquise! Still!« rief sie ärgerlich. »Du darfst Frauchen nicht stören.«

Sie glitt mit einem raschen Satz zum Werktisch und schaltete den Hebel des Induktors ein. Auf den beiden Stäbchen am Boden prasselten die Funken auf. Ströme von vielen tausend Volt! So hatte Ewald doziert. Es geht viel schneller als man denken kann. Man hört und steht nichts mehr. Ganz unbegreiflich schnell geht es. Wie das blitzte und knatterte da unten! Die weiße Lichtbrücke zwischen den beiden Stäbchen schoß ineinander. Über diese kleine Brücke mußte man hinweg...

Sie trat bis nahe davor. Der Boden unter ihr schien leise zu schwanken. Wenn jetzt Brandstädter neben ihr gestanden hätte... Es wäre doch eine Stütze gewesen ... Man kam ja wieder, behauptete er. Das Leben wiederholt sich... Schön! Aber unwahrscheinlich!... Der dumme Marquis mit seinem Kratzen!... Es schien wirklich so etwas wie Schwindel vor den Augen. Eine Art von grünem Schleier, der sich hin und her bewegte ... Und da... Konnte das sein? War das nicht der alte Sebastian, der auf einmal dort stand und die Hand am Schalterhebel hielt? Sie erkannte ihn deutlich hinter dem Schleier...

Plötzlich zerriß der Schleier. Sebastian war fort. Sie sah die Straße, die sie gekommen war, bis weit zurück. Ein langes, lustig gewundenes Band, auf das man wie von einer Höhe herunterschaute. Viel Leben und Treiben. Nur eines fehlte. Sie hatte keine Mutter gehabt. Jetzt wußte sie alles. Das war des blonden Rätsels Lösung, wie Ewald sich auszudrücken pflegte. Durfte sich das wiederholen? Sollte das neue Leben, das sie als Pfand von Rudolf in sich trug, abermals keine Mutter haben? (Man mußte ja dazu geboren sein!) Und wenn jetzt Ewald ihr verziehen hätte, konnte sie selbst sich verzeihen? Nicht daß sie war, was sie war (wem schuldete sie Rechenschaft dafür, als dem Unbekannten droben!). Nein! Daß sie auf einmal nicht mehr sein sollte, was sie bis jetzt gewesen. Dies war die Sünde wider den heiligen Geist – O verschollene Klosterzeit! –die Sünde, für die es keine Verzeihung gab. Jo als Klucke im Hühnerhof! Halb zum Lachen, halb zum Weinen!

Ein Ruck durchzuckte die junge blonde Frau. Sie schwankte, streckte die beiden Arme wie segnend hinab auf das weiße flammende Element und stürzte zusammen.


Wann werden wir die neue Kunst aus der Taufe heben?« fragte Brandstädter den jungen Dichter, den er zu seinem Erstaunen auf dem Verbindungsgang zu Sophies Zimmern getroffen hatte. »Und wo haben Sie Ihren Geburtshelfer, den Herrn Neubauer, mit seinem Patentschlüssel zur Erziehung des Menschengeschlechts?«

»Die Taufe wird abgesagt,« erwiderte Rudolf, in dessen Augen es flackerte. »Der Täufling ist eines plötzlichen Todes verblichen.«

Brandstädter zog die Mundwinkel herab.

»Ich kondoliere. Hoffentlich gibt es eine schöne Leichenfeier. Der Kulturpapst kann ja die Grabrede halten.«

Rudolf starrte vor sich hin, dann sagte er:

»Leben Sie wohl, Herr Doktor. Mein Schiff geht in einer halben Stunde.«

Brandstädter nickte. »Das meine geht heute abend. Thilde Harolds Pilgerfahrt! Grüßen Sie mir die Literatur.«

Rudolf erhob den Kopf.

»Ich werde der Dame schwerlich begegnen. Wir haben uns getrennt.«

»Sie?« rief Brandstädter und lachte grimmig auf. »Sie sind der geborne Literat! Sie werden immer wieder Bücher in die Welt setzen. Die eine Jo ist tot. Trösten Sie sich. Es werden noch zwanzig andere Jos folgen. Seid fruchtbar und mehret euch!«

»Und Sie, mein Meister?« fragte Rudolf, den das Gespräch zu amüsieren anfing. »Was sind Sie eigentlich mit ihren zwölf Dramen und zwei Romanen?«

Brandstädter strich sich über die Stirn.

»Ich war immer zuerst ein Mensch und dann ein Schreiber. Vielleicht werde ich in Zukunft nur noch Mensch sein und werde das Bücherschreiben ganz euch Jüngern überlassen. Euch gebornen Literaten!«

»Davon wird dann Wohl Ihr nächstes Buch handeln?« meinte Rudolf und der Spott blitzte ihm ans den Augen.

Brandstädter klopfte ihm auf die Schulter.

»Sie sind nicht ohne tieferen Witz, junger Mann. Pflegen Sie das! Es ist vielleicht Ihre Note.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Grüßen Sie mir das Leben von der Literatur!« rief Rudolf ihm nach.

Brandstädter kehrte sich noch einmal um. Seine Augenbrauen waren hochgezogen. Ein wilder Hohn flammte über sein Gesicht.

»Ich werde den Gruß an das Leben von Ihnen bestellen. Ich hoffe, es wartet schon auf mich.« Er nickte Rudolf zu und ging.

»Schade!« dachte Rudolf und sah ihm versonnen nach. »Man hätte sich etwas sein können. Man hätte sich vielleicht ergänzt. Aber er ist ja kein Mensch. Er ist eine Gehirnfunktion.«


Gute Arbeit gemacht, Sebastian!« sagte Brandstädter im Park zu dem Alten, der auf einem von den noch übriggebliebenen Heuhaufen am Wiesenrand kauerte, seine Sense neben sich hingestreckt hatte und zufrieden die Hände in den Schoß legte.

»Gute Arbeit gemacht,« bestätigte der Alte und rieb sich die Lider, als habe er soeben ein bißchen genickt. »Das alles, was der Herr Doktor vor Augen hat, und noch ein hübsches Stück mehr, wo der Herr Doktor mit seinen Augen nicht hinkommen kann. Vom See bis zum Schloß und vom Schloß bis zum Wald. Alles, was vor ein paar Wochen sich noch im Winde gewiegt hat, die Blumen, die Gräser, die Kräuter... alles mit der hier hingemacht...«

Er klopfte wohlgefällig auf den hölzernen Schaft seiner Sense und tat mit beiden Händen eine ausgreifende Bewegung in die Runde, als ob die Grenzen seines Reiches weit jenseits dieser Wiesen und Gründe lägen.

»Alles mit der hier hingemacht,« wiederholte er und kicherte befriedigt in sich hinein.

Brandstädter fiel jener erste Morgen im Park ein, das Gespräch mit dem Alten, ehe Nina erschienen war.

»Nur die Disteln nicht!« rief er Sebastian schon im Weitergehen zu. »Die Disteln kriegen wir auch noch mal,« krähte der Alte und schien wieder einzunicken.

Brandstädter lachte grimmig vor sich hin.

So bald noch nicht! dachte er. Erst kam mal die Reihe an den da selbst. Der Alte war mit einem Male ganz in sich zusammengefallen. Brandstädter warf einen Blick zurück. Sonderbar! Sah er nicht aus wie ein Gummimann, dem die Luft auszugehen beginnt?

»Undine« war in ihren Hafen zurückgekehrt. Ewald kam den abkürzenden Wiesenweg vom Landungssteg herauf. Seine Regenhaut flatterte im Winde. Der Himmel begann nun doch, sich aufzuheitern. Die hellblauen Flicken auf dem dünngewordenen grauen Laken mehrten sich. Morgen ist wieder Schönwetter, dachte Ewald. Die Fahrt über den See, das Hin- und Herkreuzen von Ufer zu Ufer, Wind und Wellen: alles hatte ihn leicht und frei gestimmt. Sein Entschluß stand fest. Nina sollte bleiben. Vielleicht würde er selbst reisen. Aber darauf kam es nicht an. Ihr Schicksal ging jetzt vor. Es handelte sich um zwei Leben, nicht mehr um ihres allein. Nina sollte verziehen werden... Verzeihen war eigentlich nicht das richtige Wort. Es war eine Schonzeit, die man ihr gab. Eine Gnadenfrist mehr für das Kind, als für die Mutter. Was später folgen würde...

Ewald schüttelte den Kopf. Schon wieder der Kleinmut! Kaum daß er an Land war. Nein, er würde sie auch später nicht im Stich lassen. Für Nina und für ihr Kind würde immer gesorgt sein. Die Leute würden die Nase rümpfen. Was kümmerten ihn die Leute? Sein Leben lag jenseits ihres Horizonts. Aber es ging doch schwerer in der Praxis als in der Theorie. Ob es je wieder so werden konnte, wie es gewesen?

Er fühlte eine leichte Röte aufsteigen. Wie man sich selbst belog! Was war sie ihm denn bis heute? Ein Phantom, das man malte! Nicht einmal gut. Eine Art von Haschisch. Seinen Elektrisierapparat hatte Brandstädter sie getauft. Menschenfreundlich wie immer! Der kam übrigens dort gegangen. Lupus in fabula. Nein! Man konnte sich nicht wundern. Es war ein bißchen frostig um ihn herum. Da war sie eben zu andern gegangen, sich wärmen. Schon deshalb mußte ihr vieles verziehen werden.

Ewald sah auf. Brandstädter stand vor ihm. Nicht weit davon lag der alte Sebastian lang über einen Heuhaufen hingestreckt, neben seiner Sense, und schien zu schlafen. Na, der hatte es verdient!

»Ich reise heute abend,« sagte Brandstädter. »Es wird dich interessieren, daß Nina mit mir geht. Sie verläßt dein Haus.«

Ewald strich sich das Kinn. Sein Blick haftete auf dem Gesicht des Jugendfreundes, das wie von blutigem Hohn überfloß.

»Ich danke dir für deine freundliche Mitteilung,« erwiderte er. »Ich gedenke jedoch, die Entschlüsse der Baronin nur von ihr selbst entgegenzunehmen.«

Brandstädters Züge hatten etwas Verzerrtes. Seine schwarzen Augen brannten in feindseligem Feuer.

»All dein Größenwahn kann dir nicht über die Tatsache hinweghelfen, daß du die Partie mit mir endgültig verloren hast, mein Bester, obwohl ich dir die Königin vorgegeben hatte. Du hast im einzelnen nicht schlecht gespielt. Trotzdem hast du die Partie verloren. Der stärkere Spieler hat eben gesiegt.«

Ewald hatte die letzten Sätze Brandstädters nicht mehr beachtet. Seine Aufmerksamkeit war auf Marie gerichtet, die vom Schloß her quer über den Rasen auf ihn zugestürzt kam. Ihr helles Kleid wirkte bunt und lustig gegen das saftige Grün. Weiter zurück tauchte Kaspars dunkle Gestalt auf. Was gab es denn da?

»Ach, Herr Baron...!« schrie Marie und taumelte ihm entgegen. »Die Frau Baronin... Wir wissen nicht... Marquis winselt und kratzt vor der Tür. Wir trauen uns nicht hinein...«

»Wo traut ihr euch nicht hinein?« fragte Ewald kalt.

»Ins Laboratorium!« stammelte Marie. »Die Frau Baronin muß drinnen sein. Jesus Maria!... Der Marquis heult wie ein Kind.«

Sie reichte ihm Ninas versiegeltes Billet.

»Für den Herrn Baron. Von meiner lieben gnädigen Frau. Es hat im Wohnzimmer gelegen.«

Sie hielt ihr Schürzchen vor das Gesicht und begann plötzlich zu schluchzen.

Ewald erbrach das Billett, las es und reichte es Brandstädter, der mit finsterer Miene dabeistand und an seinen Lippen kaute.

»Ich fürchte, wir haben beide die Partie verloren,« sagte er zu Brandstädter. »Nina ist ihren eigenen Weg gegangen.«

Brandstädter las:

»Dein Zeichen kam nicht. Ich bin im Laboratorium zu finden. Vergeßt mich! Nina.« Und als Nachschrift darunter:

»Wir sind alle anders als wir scheinen. Manche scheinen ihr Leben lang was sie nicht sind. (›Galathea‹ von Friedrich Brandstädter, 3. Akt, fünfte Szene.)«

»Ihr letzter Gedanke hat mir gegolten,« murmelte Brandstädter und ließ die Hand mit Ninas Kärtchen sinken.

Der alte Sebastian hatte sich von seinem Heulager aufgerichtet und war herangetorkelt. Seine lange dürre Gestalt schien sich allmählich wieder mit Leben zu füllen. Die Sense schwankte auf seiner rechten Schulter.

»Jetzt gehen wir hinauf,« befahl Ewald, der sich erst ein paar Augenblicke hatte sammeln müssen.

Der kleine Zug setzte sich in Bewegung. Voran Ewald und Brandstädter, hinter ihnen Marie, die leise in ihre Schürze weinte, hinten der alte Sebastian mit seiner blank geschliffenen Sense. Vor dem Schloß gesellte sich noch Kaspars schlotternde Gestalt dazu.

Als sie ins Haus traten, hörten sie bereits Marquis' ununterbrochenes Heulen und Winseln vom zweiten Stockwerk herunter. Es klang bald wie das Meckern eines Ziegenbockes, bald wie das Greinen eines kleinen Kindes, lächerlich und beängstigend zugleich, wie der Wehschrei aller Kreatur vor den Ohren unsterblicher Götter.

Im Laboratorium lag Nina friedlich und feierlich neben dem weißen knatternden Flammenbogen, dem sie sich anvermählt hatte. Ewald ging mit etwas tastenden Schritten zum Werktisch und schaltete den Hebel des Induktors aus, ehe jemand sie berühren durfte.

»Vielleicht bringen wir sie noch zum Leben?« sagte er, indem er sich niederließ und sein Ohr auf ihr Herz legte. Aber man hörte nichts mehr. Die Uhr stand ganz still.

»Mond in Quadratur mit Mars und Saturn,« dachte er und erhob sich. »Jupiter kam zu spät. Sein Licht war nicht stark genug. Wie sie jetzt wieder der Jo auf dem Bilde von Sorgius gleicht!«

Brandstädter hatte noch kein Wort gesprochen. Er starrte finster auf die Tote hinab. Sie hatte es gekonnt, er nicht! Ariel war zurückgekehrt in die Elemente. Prospero blieb allein. Das war das Weib, das er geliebt hatte! Jetzt ließ sie ihn im Stich. Eine tiefe Bitternis quoll in ihm auf.

»Galathea hat sich einen guten Abgang gemacht,« murmelte er. »Sie war eine bessere Schauspielerin als ich dachte.«

Er warf einen letzten Blick auf die stille blonde Frau am Boden.

»Warum hast du mir das getan?« brach er plötzlich aus.

Aber sie gab keine Antwort.

»Kommen Sie, Mann der Sense,« sagte er zu Sebastian, der wie eine Silhouette in der Tür dunkelte und ganz betrunken schien. »Jetzt gehen wir zusammen Disteln köpfen.«

»Der erste Schnitt ist immer der beste,« kicherte der Alte, indem er mit Brandstädter zur Tür hinausschwankte. »So eine Wiese im ersten Saft geschnitten! Das ist was für Kenner. Was später kommt, ist alles Mist.«

Seine letzten Worte verhallten auf der Treppe.

Marquis hatte sich dicht neben Nina hingekauert. Sein dicker schwarzer Kopf war auf die ausgestreckten Pfoten geduckt. So glotzte er, lauernd und bösartig, ohne Laut und Bewegung, mit seinen grünen Lichtern auf die Tote, als müsse er sie vor irgend etwas beschützen. Neben ihm kniete Marie und hielt die Hände krampfhaft gefaltet, während ihr die Tränen unaufhaltsam über die Backen liefen.

Vielleicht waren der Hund und das Mädchen die beiden einzigen, die Nina um ihrer selbst willen geliebt haben, dachte Ewald. Er sah nach der Uhr. Es war gegen drei Uhr nachmittags. Am dritten Tage nach Ninas neunundzwanzigstem Geburtstage.


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