Max Halbe
Jo
Max Halbe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2

Friedrich Brandstädter konnte auf ein stürmisch bewegtes Leben zurücksehen. Nur seine frühe Kindheit im elterlichen Pfarrhause hatte eigentlich den Frieden gekannt. Drei Geschlechter der Brandstädters, Vater, Sohn und Enkel, hatten nacheinander den Pfarrhof von Deutsch-Güldenau, dem Stammsitz der Ewaldschen Gutsfamilie, innegehabt. Als das vierte von fünf Kindern des letzten Brandstädters, der von der Güldenauer Kanzel Gottes Wort gepredigt hatte, war Friedrich zur Welt gekommen. Alle theologische Streitbarkeit, der ganze lutherische Zornmut, die über zweihundert Jahre in dem alten Pastorenstamm rumort hatten, schienen in dem jungen Friedrich wiedergeboren und gleichsam in eine einzige stachlige Knospe zusammengeschossen, die ihre wehrhafte Außenseite gegen jedermann kehrte und die Entfaltung einer ganz ungewöhnlichen und gottgesegneten Angriffslust gegen alle Widersacher des Herrn versprach. Nur mit dem jüngeren der beiden Gutssöhne, dem feinen und etwas mädchenhaften Hans Lebrecht, hatte den leidenschaftlichen und verbissenen Stubenhocker aus dem Pfarrhause eine zarte, schwärmerische Knabenfreundschaft verbunden, die ebensosehr in der Gemeinsamkeit der Interessen wie in der Verschiedenheit der Temperamente wurzelte. Beinahe gleichaltrig – Friedrich war der etwas ältere – hatten sie im Pfarrhause bei dem strengen Johann Erdmann Fürchtegott Brandstädter, Friedrichs Vater, den ersten Lateinunterricht gehabt und in ihren Freistunden zusammen ganz heimlich Märchenbücher und Lederstrumpfgeschichten gelesen, die Hans Lebrecht in vergessenen Winkeln des alten weitbauchigen Gutshofes aufzustöbern wußte. Die Führung in allen diesen mehr geistigen Knabenuntenehmungen war Friedrich zugefallen. In Dingen des Lebens, des Geschmacks, der äußeren Welt hatte gewöhnlich Hans Lebrechts Stimme den Ausschlag gegeben.

Das Band zwischen den beiden Freunden bestand und verstärkte sich noch während der gemeinsamen Gymnasialzeit in der stillen grauen Ordensstadt an der Weichsel. Aber schon jetzt begann es sich zu zeigen, daß die Hoffnung des Johann Erdmann Fürchtegott Brandstädter, sein einziger Sohn – es waren ihm außer Friedrich nur Töchter geboren – werde einmal das geistliche Erbe seiner Vorfahren übernehmen und fruchtbringend vermehren, von Gott dem Herrn nicht zur Erfüllung bestimmt sei. Die Anzeichen mehrten sich, daß der heftige und unduldsame Pastorensohn mit seinem Väter- und Kinderglauben bereits früher und gründlicher fertig geworden war, als mancher Mitschüler, der in geringerer Furcht des Herrn aufgewachsen war.

Mit vierzehn Jahren hatte er seinen Schiller und Goethe bis in ihre kritischen und wissenschaftlichen Reviere durchpflügt und war zu Hause in Lessings und Herders Erziehungsgebäuden und Weltbürgertempeln. Kein Zweifel, daß auch er einmal an dieser neuen und soviel erhabeneren Weltkirche, die sich auf dem Fundament der Dichtung, der Wissenschaft, der Philosophie erhob, mitarbeiten werde, und nur die eine Frage gärte bang und rätselhaft und entzückungsvoll in dem Werdenden, ob das Geschick ihn mehr zum Baumeister des äußeren Gerüsts, zum Betrachter, zum Kritiker, oder zum Höchsten, Heiligsten selbst, zum Schöpfer auserlesen habe. Warum nicht schließlich – so fragte er sich in vermessenen Augenblicken – für beides zugleich, wie es Lionardo, Rousseau, wie es Herder und Lessing selbst, ja letzten Endes auch Goethe und Schiller im größten Ausmaß gewesen waren?

An diesen Aufschwüngen und Wolkenflügen seines leidenschaftlichen Freundes hatte Hans Lebrecht auf seine Weise teilgenommen, indem er sich die schöngeistigen Interessen Friedrichs anzueignen suchte und zugleich ein verstehendes, manchmal auch widersprechendes Publikum für dessen waghalsige und seiltänzerische Gedankensprünge, Entladungen und Überschlagungen abgab.

In jener Zeit war Sophie von Ewald, Hans Lebrechts um einige Jahre jüngere Schwester, dem Bund der beiden näher getreten. Die Mädchenschule der alten noch vielfach umwallten Ordensstadt lag, nur durch ein paar verfallene Bastionen und einen bemoosten Festungsgraben getrennt, dem düstern burgartigen Gymnasium wie eine niedrigere und gefälligere Schwesterburg gegenüber. Wenn die Gymnasiumsglocke zur großen Pause oder zum Schulschluß ihren Baß erhob, so spitzten die Mädchen auch im jenseitigen Bezirk unruhig die Ohren, und umgekehrt, wenn das Weiberglöckchen mit seinem hellen Sopran sich den Vortritt nahm, geschah es bei dem Mannsvolk ebenso. Mittags um Zwölf und nachmittags um Vier flossen die beiden Ströme aus den sich grüßenden Geistesburgen gegen- und durch- und miteinander der winkligen inneren Stadt zu und versickerten allmählich in den dunklen Haustoren der alten Giebelhäuser.

Friedrich und Sophie begegneten sich hier fast täglich. Die erste Brücke zwischen beiden schlug der Bruder und Freund. Daheim im Pfarrhaus und auf dem Gut hatte der Altersunterschied sie einander ferngehalten. Nun brachte der Verkehr auf dem Schulweg und von Pension zu Pension sie in immer engere Berührung.

Man traf sich an den Sonntagnachmittagen, zuweilen auch an einem Wochenabend. Hans Lebrecht und Sophie waren bei einem alten Kauz von Privatgelehrten und dessen ebenfalls schon ältlicher Tochter in Pension, die eine Leihbibliothek unterhielten und nur ein lässiges Regiment über ihre Zöglinge führten. Um so strenger hätte Friedrich es bei seiner Pensionsmutter haben sollen, einer Pastorswitwe, mit einem Gesicht wie eine Spitzmaus, die den ganzen Tag Wäsche aufzuhängen schien. Er hatte sich aber durch seine angeborene Stachligkeit allmählich ein großes Maß von Bewegungsfreiheit erobert und konnte schließlich tun, was er wollte. Die sonst so zungenfertige Witfrau fürchtete nichts so sehr wie seine pfeilscharfen und giftigen Wortspitzen und zog sich vor den Dolchstößen seiner leidenschaftlichen dunklen Augen schleunigst auf den Wäscheboden zurück.

Die drei Verschworenen saßen also, so oft es ging, in Hans Lebrechts Stube, ihren Carlos, ihre Stuart, ihren Egmont in Händen, mit verteilten Rollen eifrig agierend und deklamierend. Oder es wurde die Privatbibliothek des Hausherrn nach historischen und populärwissenschaftlichen Schriften durchstöbert, die man dann gemeinsam besprach. Auch der mehr alltägliche Lesehunger konnte in den schmierigen und zerschlissenen Bänden der Leihbibliothek reichlich befriedigt werden. Was die drei damals an Wissen und Erkenntnis in sich aufnahmen, blieb die festgefügte Untermauerung ihres ganzen nachmaligen Bildungsgebäudes, das nach dem Urteil aller ihnen später Begegnenden von ungewöhnlicher Ausdehnung und Vielfältigkeit war.

Sophie von Ewald eignete dabei nichts Blaustrümpfliches. Sie war vielmehr von einer auffallenden Natürlichkeit und einem gefunden Mutterwitz, der auch vor einer kleinen Derbheit nicht scheute. Sie besaß Stolz und konnte zornig werden, wenn sie irgendeine Ungerechtigkeit gegen sich oder ihre Nächsten fühlte. Im ganzen war sie aber von sanfter und nachgiebiger Gemütsart und machte schon mit dreizehn Jahren einen merkwürdig harmonischen Eindruck. In den Stücken, die sie miteinander lasen, lagen ihr am besten die Elisabeth des Carlos und die Maria Stuart, andererseits Egmonts Klärchen, weniger die Amalie aus den »Räubern«, für die sie doch nicht blaß genug war, und gar nicht Weislingens Adelheid. Mit deren Teufeleien, wie sie es nannte, wußte sie nichts anzufangen, und ihr tragischer Untergang erschien ihr nur als gerechte Strafe.

Sie konnte sich hierüber gar nicht mit ihrem Partner Weislingen einigen, den Friedrich mit einem übertriebenen Pathos spielte, wenigstens nach seinem eigenen Urteil späterer Jahre. Friedrich – der Name Fritz kam nie so recht für ihn auf – sah in Adelheid von Waldorf so etwas wie das Weib selbst, allen seinen Reiz und alle seine Tücke, sein Wogen, Gleißen, Schillern, sein Anziehen und Abstoßen, Leidenschaft und Vernichtung, Leben und Tod, mit einem Wort den »Dämon Weib«, wie seine Lieblingswendung lautete.

Sophie dagegen wollte von einem Dämon, der im Weibe stecken sollte, oder von einem Elementargeist – auch eine von Friedrichs Formeln – nichts wissen und verlangte von ihrem Geschlecht Treue und Aufopferung. Eine, die das nicht hatte, taugte nichts und konnte sich nicht beklagen, wenn es nachher ein böses Ende nahm.

Hans Lebrecht, ein wohlmeinender, nur etwas zu fein angelegter Götz – vielleicht wäre er ein besserer Weislingen, Friedrich dafür ein wuchtigerer Götz gewesen – suchte zwischen Schwester und Freund zu vermitteln, indem er die Adelheid gegen ihre eigene Darstellerin in Schutz nahm, hinwiederum gegen Friedrich Götzens Hausfrau und Götzens Schwester, die tapfere Elisabeth und die treue Marie, ins Feld führte.

Die beiden vertrugen sich im übrigen auch ohne ihn aufs beste. Friedrich fand bei Sophie ein williges Verständnis für alle Leiden und Kämpfe, die schon damals seinen Weg begleiteten. Einerlei, ob der alte Brandstädter nicht wollte oder nicht konnte: jedenfalls erhielt der Sohn kaum das Nötigste zum Leben und mußte, um das knapp bemessene Kostgeld zu vervollständigen, auch etwa noch ein paar Groschen für sich selbst zu erübrigen, täglich mehrere Stunden an bemittelte jüngere Schüler geben oder durch sonstige Privatarbeiten Geld zu verdienen suchen. Sechzehnjährig schrieb er bereits Artikel, Skizzen, Kritiken für Zeitungen und veröffentlichte Gedichte in Sonntagsblättern, meist unter fremdem Namen.

Alles das machte ihn nur noch reizbarer und streitsüchtiger, verwickelte ihn in ärgerliche Häkeleien mit seinen Mitschülern, die er seine Überlegenheit rücksichtslos fühlen ließ, und mit den Lehrern, denen die Schreiberei nicht lange verborgen bleiben konnte. Ganz besonders, als er auch im heimatlichen Stadt- und Landboten unter ziemlich durchsichtigem Pseudonym sich über Zeit- und Weltfragen zu äußern und Theaterkritiken über die gastierende Truppe zu verfassen begann.

Das wurde ihm zwar von der Lehrerkonferenz streng untersagt. Er kehrte sich aber nicht daran, zog nur den Schleier der Heimlichkeit dichter um sich, und so blieb schließlich alles, wie es war. Man gab dem aufgeregten jungen Menschen, der mit seinem Schopf dichter schwarzer Haare und dem feindseligen Blick der dunklen Augen wie ein auf die Schulbank verschlagener böser Geist dazusitzen schien, nur durch mancherlei Nadelstiche zu verstehen, wie unbequem er allen war.

Der Verkehr mit den Geschwistern Ewald, vor allem mit Sophie, war zuletzt die einzige Freistatt, wohin er sein Menschliches flüchten konnte, gleichsam der Altar im wilden Tauris, an dem Orest, der von den Furien des Lebens und seiner eigenen Seele Verfolgte, sein schuldbeladenes Haupt verbarg. Hans Lebrecht wurde Pylades, der Weltgewandte, und Sophie nahm, ohne daß sie es wollte, immer mehr die Gestalt der schwesterlichen und mütterlichen Freundin Iphigenie, ja der jungfäulichen Göttin selbst an. Ganz schlimm hatte sich schon während der letzten Schuljahre das Verhältnis zum Vater gestaltet. Nach dem Abiturientenexamen kam es zum völligen Bruch. Zwischen der Welt des alten Bundes, in deren strenger Schriftauslegung Johann Erdmann Fürchtegott Brandstädter nach dem Beispiel seiner Väter gewandelt war, und jener des neuen Bundes im Geiste, zu deren ferne grüßenden Ufern der junge Friedrich sein Schiff zu lenken gedachte, bestand keine gemeinsame Sprache mehr und keine übereinstimmenden Gesetzestafeln. Man war von dem gleichen Fleisch und Blut, aber nicht mehr aus dem gleichen Geist, und der Geist entschied, so verstand es sich für beide Brandstädters von selbst, woraus denn hervorging, daß es im Grunde doch wieder der gleiche Geist war, der sie trennte, und die gleichen Pole, die sich abstießen.

Damals hatte Friedrich zum letzten Male das lindenumhegte Pfarrhaus von Deutsch-Güldenau betreten und hatte an dem efeubedeckten Grabe seiner früh verstorbenen Mutter, deren gütige Hand ihm nur zu sehr gefehlt hatte, Abschied genommen von den versinkenden Tagen seiner Kindheit. Und statt des Theologen, der, wie seine Väter, für das Kreuz zu streiten ginge, zog ein werdender Literat und Zeitungsschreiber in die Welt hinaus.

Heiße Lern- und Kampfjahre im Norden wie im Süden, in Berlin und in München, folgten. Literatur- und kunstgeschichtliche, ästhetische, historische, wirtschaftliche, staatswissenschaftliche, kulturgeschichtliche, philosophische, rechts- und naturwissenschaftliche Erkenntnis sammelte sich als buntgemischte Fracht in dem hin und her kreuzenden Geistesschiff des beutelustigen Abenteurers, der sogar bis zu den weltfernen Häfen der Mathematik und der Astronomie vordrang.

Seines Bleibens war zwar nirgendwo sehr lange, aber ein angeborener Scharfblick für das Wesentliche und Wichtige in den Dingen ließ ihn doch von überall her kostbares und einziges Lebensgut mit auf die Fahrt nehmen. Es fehlte nur oft die Zeit zu der nötigen Sichtung und engeren Verknüpfung, die das Erworbene erst zum Besitz hätten machen sollen. Wenn einmal die Sprache darauf kam, vertröstete der junge Kämpfer sich und andere auf später. Das war wie mit Reisenden in fernen Ländern, die zusammentrugen und an sich rafften, was sie konnten, das Ordnen und Verarbeiten aber der Zukunft überließen, wo man hinter dem Ofen säße und Zeit genug hätte, das Vergangene planvoll zu bedenken.

Mit einer Art von Ingrimm stürzte der abtrünnig gewordene Pastorensohn sich in alle Geisteswirbel und Lebensfluten des Zeitalters, als gelte es, seine Seele gesund zu baden vom jahrhundertalten Moder, der aus Kirchengewölben und Sakristeien her sie noch dann und wann umschauern wollte. Ein zorniger Wille, auf Menschen zu wirken, und sei es, indem man sie reizte, verwirrte, abstieß und sie gerade dadurch gewann, eine wilde Lust am Bessern, Umwandeln, Bekehren, ein heißer Drang, sich mitzuteilen, am liebsten von erhöhter Stelle her: alles dies mochte wohl ebenfalls aus der geistlichen Überlieferung der Familie stammen. Es führte ihn mit Notwendigkeit in die revolutionären Literaturzirkel und weltverbessernden Geheimbünde der jungen akademischen Welt, machte ihn zum Stürmer und Sektenstifter, zum geistigen Mittelpunkt und päpstlichen Oberhaupt aller literarischen, dramatischen, sozialen Konventikel, in die ihn die Irrfahrt verschlug oder die auf sein schöpferisches Wort hin erst entstanden.

Daneben war der bittere Kampf um die tägliche Notdurft unermüdlich und unentmutigt weiter zu führen. Der zwanzigjährige Student schrieb Artikel, verfaßte Rezensionen, gab Stunden, alles, wie es der sechzehnjährige Gymnasiast schon getan hatte, aber der Stachel, der ihn trieb, die Peitsche, die er über sich fühlte, waren doch in der furchtbaren Einsamkeit der Weltstadt, in dem erschütternden Brausen des Menschenmeeres, das den einzelnen Tropfen verschlang, um so viel schwerer zu ertragen, als in dem friedlichen, behäbigen Hämmern, Weben und Schwatzen der alten nahrhaften Landstadt, die am Ende niemanden verhungern ließ.

Hier in den Arbeiterquartieren des fernsten Nordens, gleichsam am äußersten Rande der Welt, unter den fünfstöckigen Steinwürfeln, die aus zahllosen Augenhöhlen auf hallende Höfe herunterglotzten, in dieser Luft von Armut, Lebensgier und Verbrechen, stand man dem Schicksal und dem Tod wie von Mann zu Mann gegenüber, den Dolch in der Rechten, die Pistole in der Linken, das geschliffene Messer zwischen den Zähnen. Ein Augenblick des Versagens, des Nachlassens nur und man lag am Boden, zertrampelt von dem gleichgültigen Elefantenhuf der Weltstadt.

So wurde Friedrich Brandstädter Sozialdemokrat und bald Anarchist, Revolutionär des Lebens, noch mehr der Kunst. Seine Aufsätze aus jener Zeit waren voll tödlichem Haß gegen alle, die in Staat, Gesellschaft, Politik, Literatur herrschten und besaßen. Sie erschienen meist in jenen kleinen, giftigen, wildwachsenden Blättern, die im Verborgenen, gleichsam hinter den Zäunen und Hürden des Gesellschaftsparkes wuchern und ihren Samen ganz unbekümmert unter die gepflegten Ziersträucher und Parkbäume fliegen lassen. Das meiste davon wird ja dann wieder ausgejätet oder vergeht zu seiner Zeit von selbst, es sind aber auch schon ganz kräftige und gesunde Bäume aus solchem scheinbaren Unkraut emporgewachsen, deren sich die Nachbarschaft nicht zu schämen braucht.

Aus der scharfen, zersetzenden Atmosphäre des Nordens war Brandstädter in die weichere, sinnlichere Welt des Südens geraten. Eigentlich hatte er nur einen Besuch abstatten wollen. Dann hatte es ihn festgehalten. Alles, was er sah, erregte seinen Widerspruch: die gewölkte Klassizität des Baustils, den die ersten Könige der Stadt gegeben hatten, die übergeräumige Anlage, die auf Zuwachs berechnet schien wie der Bratenrock des Konfirmanden, die lässige Weise des allgemeinen Arbeitsschrittes, der fast noch kleinstädtische Verkehr in den Straßen. Und auch er selbst stieß mit seiner heftigen und dreinfahrenden Art überall an. Seine schnelle und helle Rede verwirrte und verletzte. Man war an eine gemütlichere Auffassung, an dunkleren Klang gewöhnt. Der Pastorensohn in ihm empörte sich gegen den Weihrauch der Kirchen, der mit dem Bierdunst der Gaststuben in einen einzigen dicken Brodem zusammenzufließen und die Geister zu verdumpfen schien. Der Weltverbesserer lag fortwährend auf dem Anstand, um seine Theorien gegen die satte Behaglichkeit der Phäakenstadt abzufeuern. Wie es gekommen war, daß er trotzdem blieb, wußte er später selbst nicht mehr. Aus dem Besuch weniger Wochen waren Jahre geworden. Sie hatten den Drang zu gestalten, die Kraft zu formen, erst voll in ihm entwickelt. Er hatte zwar schon im Gewühl der Weltstadtstraßen leidenschaftliche Strophen der Anklage, der Erbitterung gefunden und kurze zerrissene Augenblicksbilder von gefallenen Frauen, gescheiterten Männern entworfen. Aber wenn der Rausch der Schöpfung vorbei war, das graue Morgenlicht der Ernüchterung kam, erschien ihm alles nur wie ein Stammeln, Lallen, Delirieren. Der Kritiker erschlug mit seiner Keule immer wieder den Dichter, so wie Kain den Abel, um dann wie jener mit schrecklichen Vorwürfen und Flüchen gegen sich selbst zu wüten.

Erst in der anfangs so verspotteten Beschaulichkeit jenes Münchens der achtziger Jahre, das damals noch viele Züge der mittleren deutschen Residenzstadt trug, war allmählich die Ruhe und Sammlung über ihn gekommen, die dem schöpferischen Walten den Boden bereitet. Es war, als sei bis dahin zu viel Anklagelust, zu viel Verfolgungssucht, zu viel Grübeln und Vernünfteln in ihm gewesen. Der Verstand hatte dem Gefühl den Mund verstopft. Seiner zergliedernden Phantasie hatte die Farbe, seinem gärenden Blut der Tropfen Liebe gefehlt. Der Himmel hier war oft leuchtender, die Wolkenfärbung tiefer und satter, als in der sachte verblassenden Heimat. Es atmete sich in der prickelnden Champagnerluft der waldbedeckten Hochebene leichter, die Brust hob sich freier, als in den qualmigen Vorstadtstraßen Berlins, in dem verbrauchten Dunstkreis der muffigen Hinterhäuser, die seinem bisherigen Leben und Schaffen den Schauplatz gegeben hatten. Die Sonnenuntergänge hier stammten vom Moos her am Abendhimmel der Stadt, als käme ihr Brennen aus überirdischen Welten. Die Buchenwälder hoch über dem schäumenden Alpenfluß, am sanften Gestade der silberblauen Seen, rauschten tiefer und klangvoller in die Seele, als die kleinen Gruppen schwarzer Kiefern, die auf den gelben Dünenkämmen der Sandhügel als verlorene Vorposten gegen das steinerne Weltstadtmeer standen.

Auch die Stadt selbst, wenn man sich einmal mit ihr vertraut gemacht hatte, war zwar viel stiller, doch bunter in ihrem Treiben. Selbst die nähere Umgebung war ländlicher und urwüchsiger geblieben. Noch stapfte viel unverfälschtes Bauerntum durch die breiten, marktähnlichen Straßen der Altstadt. Mannigfaltiges Trachtenwesen zog an den zahlreichen Feiertagen und bei den ausdauernden Volksfesten auf. Der Karneval war eine ganz neue Welt der Farbe, des Humors, der Sinne für den schwerblütigen Nordländer. In den Kaffeehäusern, Studentenstuben, Malerateliers wurde auch unendlich geredet, fanatisch gestritten, gigantisch gedonnert, ganz ebenso wie im streng geistigen Norden. Es war aber doch mehr Überschwang und Bejahung, als Kritik und Ablehnung, wie dort, und schließlich versanken die feindlichen Gegensätze in den weichen Armen verliebter Bürgermädchen, gefälliger Modelle. Die eigentümlich sinnliche und festliche Atmosphäre der Stadt wob um alle Ecken und Kanten ihren schimmernden Schleier, das Leben glitt wie ein buntbewimpeltes Boot dahin, auf dem es immerfort etwas zu schauen und zu feiern und scheinbar nie etwas zu tun gab.

Brandstädter wehrte sich mit zäher Verbissenheit gegen dieses Gefühl von Trunkenheit, Verantwortungslosigkeit, des Wiegens, Schlenderns, Sichgehenlassens, gegen diese »gottverdammte katholische Weichlichkeit und Faulenzerei«, wie der Pastorensohn in Stunden des Ingrimms, der Selbstquälerei es nannte. Oft genug beteuerte er, daß dies nur ein vorübergehender Zustand sei und bleiben dürfe, und schwor sich zu, mit nächstem einen Strich unter das alles zu machen.

Im stillen düngte sich indessen der harte strenge Geistesboden des Gehirnmenschen mit allen den Stoffen und Bestandteilen, deren das Saatkorn der Kunst bedarf, mit Sinnenkraft, Farbe, Anschaulichkeit, und als die Zeit sich erfüllt hatte, erwuchs ihm in heißen Sommertagen, stillen Winternächten voll inbrünstigen Schaffens das erste reife Werk seiner dichterischen Kraft. Es war ein Roman der Leidenschaft und hieß »Das Land der Verheißung«.

Der Erfolg zögerte erst ein Weilchen, kam dann, kaum mehr erwartet, mit der ganzen Wucht der Überraschung. Friedrich Brandstädter wurde der Held des neuen Geschlechts, das hier gegen die Ringmauer der älteren Generation seinen ersten siegreichen Vorstoß erfocht. In der Schar junger Genies und abenteuernder Frauen, die den frisch entdeckten Stern umkreiste, war auch Gerda von Koslowski, eine junge polnisch-skandinavische Pianistin von starkem, noch ungezügeltem Talent. Sie hatte feurige braune Augen, kurzgeschnittenes braunes lockiges Haar, eine etwas breite slawische Nase und Spuren von Blatternarben in dem übrigens sehr frischen rosigen Gesicht und war von untersetzter üppiger Figur, dabei von großer Behendigkeit und Lebhaftigkeit, mit schlanken Händen und kleinen Füßen: alles in allem nichts weniger als eine Schönheit, aber durch ihr Feuer, ihre geistige Regsamkeit, ihr entschlossenes Draufgehen, hinter dem sich doch viel weibliche Hingebung und Anschmiegung zu verbergen schienen, den Herzen der jungen Kunstzigeuner gefährlich.

Sie hatte Brandstädtern schon in den Tagen seiner Dunkelheit kennengelernt und mit der Spürkraft des Weibes sich auf seine Fährte gepürscht. Sein jähes, unduldsames Wesen reizte sie zugleich und stieß sie ab. So wurde ein Spielen mit der Gefahr daraus. In dem ehrgeizigen Literaten, der nach Ruhm, Anerkennung, Weibesgunst fast verschmachtete, seinen ungestillten Durst aber nur um so tiefer in sich verschloß, entzündete die halb kokette, halb ehrliche Huldigung der jungen, schon etwas bekannt gewordenen Künstlerin eine gefährliche Glut. Es kam zu fürchterlichen Ausbrüchen der Leidenschaft, sogar im größeren Kreise der Genossen. Liebe und Haß mischten sich auf eine unheimliche und bedrohliche Weise, so daß Gerda nun doch abgeschreckt wurde und sich zurückzog.

In dieser Zeit entstand das »Land der Verheißung«. Mann und Weib wurden im wilden Spiel voneinander angezogen und abgestoßen, um endlich im höchsten Taumel eines im andern zu versinken. Um sie her stürzte die alte Welt und das morsche Heute, aber aus den Fluten der Vernichtung stieg im Morgenlicht des Paradieses ein neues Eiland der Jugend, der Leidenschaft, der Sinne. Dorthin retteten sich der Held und die Heldin mit einer Schar gleichgestimmter Männer und Frauen und begründeten im freien Land, auf freiem Grund, eine neue Gemeinschaft höchsten und doch kindlichsten Menschentums.

Das kühne Buch machte nicht nur seinen Verfasser berühmt. Es führte auch Gerda zu ihm zurück, unterwarf sie vollständig seiner Gewalt. Die Rollen vertauschten sich, aus dem Bewerber wurde der Umworbene, aus der Herrin die Magd. Brandstädter hatte die Überfülle seiner Leidenschaft in sein Werk ergossen, Wirklichkeit war ihm zum Bild geworden. Als nun aus dem Bilde wieder Wirklichkeit wurde, wie blaß erschienen ihm da ihre Farben gegen die geisterhafte Leuchtkraft des Bildes! Die Phantasie hatte alle Spannungen und Reize des Erlebnisses im voraus entschleiert. Was jetzt nachkam, war grau und alltäglich. Für Gerda wiederum stand noch alles bevor. Was auch geschehen würde, es war in das Zauberlicht der Kunst getaucht. Wie immer es über sie verhängt war, sie wollte dulden, hinnehmen, sich besinnungslos verschenken, jeder Schritt in diesem Lande war von Anfang an geweiht, stand bis an die äußersten Grenzen unter dem heiligen Gesetz gütiger gewährender Götter.

Brandstädter nahm, was sich ihm taumelnd bot. Auch die Wirklichkeit hatte nun wieder ihre Reize. Nur mußte man seine Augen neu und anders einstellen, die überreizten Sinne durch die kalten Güsse des Alltags abhärten. Nach all den Surrogaten und Chemikalien der Wissenschaft, der Politik, der Kritik, der Kunst sogar, mit denen er seine hungrige und durstige Seele zu stillen versucht hatte, tat ihm doch die warme sinnliche Nähe eines jungen Weibes so wohl, wie einem durch Arzneien verdorbenen Magen ein schmackhaftes Fleischgericht.

So hatten die beiden ihr Schicksal zusammengetan, ihre Pferde vor einen Wagen gespannt, der sie gemeinsam nach dem Lande der Verheißung tragen sollte. Denn wie man den menschlichen Inhalt des Romans ins Leben gleichsam zurückübersetzt, aus dem Adam und der Eva des Buches einen freien Lebensbund von Mann und Weib gemacht hatte, so war es erst recht mit der geistigen Grundidee des Ganzen geplant. Das Land der Verheißung sollte zum Lande der Erfüllung werden. Die Gedanken des Buches verlangten nach Fleischwerdung durch die Tat.

Eine kleine erlesene Schar begeisterter Jünger, hingebender Jüngerinnen sammelte sich als engere Phalanx um das vorbildliche Führerpaar. So zog man hinaus an die Gestade des großen schwäbischen Sees, wo Brandstädter aus dem Gewinn seines Romans eine abseitige Liegenschaft erworben hatte mit einigen Baulichkeiten und ansehnlichen Obstpflanzungen. Ein weiterer Heerbann vor sich selbst frei gewordener Männer und Frauen wollte später nachrücken, wenn die Grundlagen des neuen kommunistisch-anarchischen Gemeinwesens fester gefügt sein würden. Brandstädter, damals dreißig Jahre alt, stand am Ziel seiner Sehnsucht. Wie den Mose der Herr vom Berge Nebo, so hatten ihn seine Träume einst das Land der Verheißung »fern gen Mittag und bis an das äußerste Meer« erblicken lassen, aber glücklicher als jener hatte er hineinkommen und es mit seinem Fuß betreten dürfen. Und alle, die mit ihm waren, hatten Anteil an seiner Herrlichkeit.

Drei Jahre dauerte das Experiment, während deren seine Teilnehmer alle Himmel und alle Höllen durchmachten. Dann war der Traum vom Lande der Verheißung zu Ende. Eine Zeitlang hatte die Glut der Begeisterung die etwa dreißig bis vierzig Individualitäten und Weltanschauungen unter einem gemeinsamen Siededruck zusammengehalten. Als die Abkühlung kam, begannen die wieder frei gewordenen Kräfte mit der ganzen Wildheit und Unbekümmertheit entfesselter Naturgewalten gegeneinander aufzustehen und die ihnen angezwungene Form auseinanderzusprengen. Während des ganzen letzten Jahres hatte Brandstädter um sein Werk gekämpft, wie ein Schwarzkünstler, der die Herrschaft über die gärenden und brausenden Stoffe in seinem Laboratorium verloren hat und mit Lebensgefahr sie wieder zu bändigen sucht.

Umsonst! Das Zauberwort hatte seine Kraft verloren. Man mußte Schluß machen. Es war, als flöge eine Pulverfabrik auf. Brandstädters und Gerdas Hab und Gut – viel war nicht mehr übrig – ging mit in Rauch auf. Der Bund der beiden war schon lange gelockert. Es zeigte sich, daß die Freiheit des Zusammenlebens nicht gleichbedeutend war mit Glück und Harmonie. Gerda hätte nicht eifersüchtiger sein können, wenn sie Brandstädter in aller Form angetraut gewesen wäre. Außerdem war sie launisch wie eine Primadonna und von einer persönlichen Art der Rechthaberei, die auch eine duldsamere Natur als Brandstädter aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Er hatte nie Widerspruch vertragen können und begegnete ihm nun täglich und stündlich im eigenen Hause. Seine Kraft zerrieb sich dabei noch mehr als in dem offenen Kampf, den er mit den immerfort aufgeregten Propheten seiner Kolonie zu führen hatte. Seine Stimmung, sein ganzes Schaffen litten zunehmend unter allen diesen Verwicklungen und Lasten, die sich wie Blei auf seine Brust wälzten, ihm jeden freien Atemzug, alles Aufrichten und Ausschwingen hemmten. Seit seinem »Lande der Verheißung« wollte ihm nichts Rechtes mehr gelingen und nun schien letzten Endes auch dieses, der geistige wie der materielle Ertrag seines großen Erstlings, abzubröckeln und langsam zu schwinden. Es kamen Stunden, und sie kamen oft und öfters, wo der einst so Zuversichtliche und Selbstgewisse den endlichen Sieg seiner Ideen und seines Gestaltens immer seiner in den Nebeln der Zukunft sich verlieren sah.

Gerda wieder grollte im stillen ihm und sich, daß sie dieser Leidenschaft zuliebe eine glänzende Künstlerlaufbahn aufgegeben hatte. Beide spürten kaum mehr einen Funken jenes einstigen Feuers, das sie beinahe verzehrt hatte, und doch fand keiner den Mut zu ehrlicher Trennung.

Als dann die Kolonie auf die bekannte Art unterging, – ein berühmter Witzbold jener Tage schrieb, aus dem Lande der »Verheißung« sei ein Land der »Verreißung« geworden – da schweißte das gemeinsame Mißgeschick die beiden doch wieder zusammen. Nicht nur äußerlich. Auf manche Weise auch innerlich. Man hatte so viel gemeinsam durchgemacht. Man war auch älter geworden. Gerda war über die erste Blüte hinaus. Ihr Reiz war Jugend gewesen. Nun begann mit dieser auch jener Abschied zu nehmen. Brandstädters scharfe Augen sahen und notierten das alles mit unerbittlicher Klarheit. Aber er verschloß es in sein tiefstes Geheimfach. Eigentlich fingen ihm erst jetzt, in der Mitte seiner dreißiger Jahre, die Sinne für Weibesreize so recht an aufzugehen. Da wollte es der tragische Genius, der über seinem Leben zu walten schien, daß in demselben Maße, wie sein geheimer Durst nach Jugend, Schönheit, Sinnenrausch wuchs, das Weib an seiner Seite rasch alterte. Er kämpfte mit aller Macht gegen diese Erkenntnis an. In einer gewissen Epoche seines Lebens – es war noch nicht gar so lange her – hatte das Wort Pflicht ihm körperliche Übelkeit bereitet. Dabei war er im Grunde immer ein Mensch der Pflicht, des kategorischen Imperativs gewesen, ohne es selbst zu ahnen oder zuzugeben. Aber jetzt begann der Begriff auch für sein Bewußtsein wieder neue Kraft zu gewinnen. Er hielt es für seine Pflicht, die Frau, die so viel für ihn geopfert hatte, nicht im Stich zu lassen, und als nach Jahren der Kinderlosigkeit sich Nachwuchs meldete, heiratete er Gerda.

Wieder waren dunkle Kampf- und Wanderjahre gekommen. In einem Lebensalter, wo so manchen schon sanfte Mittagsmüdigkeit beschleicht, mußte Brandstädter von neuem Segel setzen und sein gestrandetes Schiff flott machen, um abermals den Weg nach den glückseligen Inseln zu suchen. Dem »Lande der Verheißung« folgte in dieser Zeit eine bitterböse Fortsetzung. Sie hieß »das Land der Erkenntnis« und war eine schonungslose Absage an die Utopien seiner Frühzeit, ein grausam unumwundenes Eingeständnis seines eigenen Lebensbankrotts. Es brachte ihm, da es auch mit seinen ehemaligen Weggenossen ohne Erbarmen ins Gericht ging, ebensoviel Haß und Anfeindung wie einst sein Jugendwerk Glanz und Ruhm und Beifall. Wenn es richtig ist, daß über jedem Menschensein gleichsam eine bestimmte Wetterfarbe herrscht, die sich denn meist um Mittag entscheidet, so mochte sich Brandstädters Lebensbild um diese Zeit seiner Mittagshöhe im Gewitterlicht eines düsterfahlen und tragisch zerrissenen Wolkenhimmels darstellen. Er selbst empfand deutlich, daß dies wohl die Grundstimmung seines Daseins bleiben werde, und sein Wesen, das niemals sehr heiter gewesen war, auch nicht in den kurzen Stunden des Sonnenscheins, als Ruhm und Glück gekommen schienen, verdüsterte sich immer mehr, so wie das Wasser des Sees die Himmelsfärbung widerspiegelt.

Von seinen früheren Weltverbesserungsplänen hatte er sich ganz abgewandt. Das Theater hatte ihn in seinen Bann gezogen. Der alte Umstürzler und Aufwiegler wurde Begründer und Leiter einer »Experimentalbühne für Freilicht- und Kammerspiele«, von denen jene im Sommer, diese im Winter stattfanden, so daß jede Jahreszeit und jeder Geschmack zu ihrem Recht kamen. So wie einst an dem Menschen- und Zigarrendunst der Volksversammlungen, an dem süßlich betäubenden Zigarettenqualm der geheimen Welterlösungskonventikel, so berauschte er sich jetzt an jener gefährlichen Mischung von Leinwand, Öl, Schminke, Trikots und Frauenfleisch, deren scharfer beizender Duft durch alle Bühnenräume dringt. Damals war es, wo er Nina Wagner als Modell des Malers Sorgius kennenlernte und sie aus dem Getriebe ihres kleinen Volkstheaters in das heilige Tempelrund seiner Versuchsbühne, die »Dionysien« genannt, verpflanzte.

Nina war damals achtzehn Jahre alt. Sie war sehr früh zur Bühne gekommen. Es hieß, daß sie ein Theaterkind sei, die Tochter einer jung gestorbenen Schauspielerin und eines geheimnisvollen Vaters, der nach den einen ein berühmter Maler, nach anderen ein italienischer Marchese gewesen sein sollte. Nina selbst ließ sich nur in dunklen Andeutungen über ihre Abstammung und ihre Jugend aus. Sie widersprach weder der einen noch der anderen Lesart und schien den Schleier des Märchenhaften gerade recht für ihre Bühnenlaufbahn zu finden. Sie stand allein in der Welt, war ehrgeizig und wollte es zu etwas bringen. In dem nur gerade mittelgroßen, aber vortrefflich gewachsenen Persönchen mit den schimmernd silberblonden Haaren, den dunklen Brauen und Wimpern und dem sinnlichen Lächeln um die schmachtenden roten Lippen waltete ein heißes Begehren nach Leben, Genuß, Glück, nach jeder Lust und allen Reizen dieser holden, traumhaft wunderbaren Welt.

Sie gab sich Brandstädtern, wie sie sich Sorgius und dem oder jenem vorher gegeben hatte, mit einem besinnungslosen Versinken im Taumel des Augenblicks, und ahnte nicht, daß sie an den Mann ihres Schicksals geraten war, den gerade das an ihr hinriß, was die anderen übersehen hatten oder was ihnen selbstverständlich erschien, eben jene Besinnungslosigkeit der Hingabe, jenes trunkene und doch tief in sich verschlossene, ganz und gar schweigsame Bacchantinnentum. Er hatte nie geglaubt, daß es derartiges gäbe, und hatte doch gerade jetzt, in der Reife seiner Mannheit, eine im geheimen wachsende Sehnsucht danach gehabt. Wie auf ein Zauberwort war ihm da das Unerwartete, das für unmöglich Gehaltene als ein Geschenk der Götter in die Arme gelaufen. Es überwältigte ihn, machte ihn von einer Stunde zur anderen zum leidenschaftlich und rettungslos Verliebten.

Nina ihrerseits sah in Brandstädter zunächst mehr den berühmten Schriftsteller und den hochmögenden Direktor der »Dionysien«, ohne sich zu verhehlen, daß er auch als Mann durch die finstere Kraft seiner schwarzen Augen und durch das Ungestüm seines Willens Eindruck auf sie machte. Aber jung und leichtsinnig, wie sie war, zerbrach sie sich nicht viel den Kopf darüber und nahm das Abenteuer wie ein anderes. Erst allmählich merkte sie, daß aus Spiel Ernst wurde, ja, daß es für Brandstädter vielleicht niemals Spiel gewesen sei. Sie erschrak, suchte auszuweichen, zu dämpfen, wenn nicht anders, abzubrechen. Aber es war schon zu spät. Brandstädter hatte im Genuß mit ihr schon zu viel gelitten, im Leiden an ihr schon zu viel genossen, um einfach zu verzichten. Erst jetzt lernte sie die Kraft seines überlegenen Willens so recht kennen. Ob sie wollte oder nicht, sich Vorwürfe über ihre Schwäche machte, wohl auch Anwandlungen von Reue wegen seiner Frau und wegen der Zukunft überhaupt hatte, sich heilig vornahm, das Band endlich zu zerreißen, das zur Kette zu werden drohte: es half alles nichts, er zwang sie immer wieder zu sich zurück. Ja, was das Merkwürdigste war, so oft sie ihn auch hinterging, – und das Gerücht davon war wahrscheinlich schlimmer als die Wirklichkeit – sogar in der gefährlichen Rolle des Betrogenen wirkte er auf niemanden, am wenigsten auf Nina, lächerlich. Nur sich selbst kam er wohl dann und wann so vor. Alle anderen schreckte die schroffe Ablehnung jeder Anspielung, jedes leisesten Ratschlags oder Wortes nur. Ein Blick aus seinen brennenden Augen war wie ein Pfeilschuß jeder scherzhaften oder spöttischen Anwandlung ins Herz.

So gingen Jahre, ohne viel zu ändern. Mit Gerda war es ein äußerliches Zusammenleben, in das die fessellose Eifersucht der gealterten und vergrämten Frau immer häufigere und schwerere Stürme hineintrug. Auch die Kinder – zwei Töchter – konnten das Band nicht mehr fester knüpfen. Brandstädter war kein Familienmensch, hatte es niemals sein wollen. Es gab Stunden, wo er sich verachtete, daß er es auch nur äußerlich geworden war, daß er dieses Opfer seiner Überzeugung, seines besseren Selbst, wie er es nannte, einem falsch verstandenen Pflichtbegriff zuliebe gebracht habe.

Seine materielle Lage war damals leidlich gesichert, wenn er auch nie so recht das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben zu wahren wußte. Geld war ihm von jeher nur Mittel zum Zweck gewesen. Er verstand nicht, wie man es um seiner selbst willen lieben könne. Das Geld rächte sich und zerrann ihm zwischen den Fingern. Er wußte nie, es festzuhalten, und doch war schließlich noch immer Hilfe gekommen.

Für sein Theater »Die Dionysien«, das sie sehr nötig brauchte, fand er sie im schwierigsten Augenblick bei seinem Jugendfreunde Hans Lebrecht von Ewald. Die beiden hatten in dem Vierteljahrhundert, das seit ihrer Schulzeit vergangen war, nie ganz die Fühlung miteinander verloren. Auf der Universität, in den Jahren des Werdens und Reifens, hatten ihre Wege sich öfters gekreuzt, aber die Lebensverhältnisse waren gar zu verschieden. Ewald hatte das Dasein eines jungen reichen Genußmenschen von gepflegter Kultur geführt. Sein etwas gewalttätiger älterer Bruder war als Offizier im Duell gefallen. So hatte sich das große Ewaldsche Erbe in der Hand der beiden anderen Geschwister vereinigt. Es waren die Mittel zur Befriedigung selbst hoher Ansprüche. Dazu wollten der fadenscheinige Radmantel und der schwarze Demokraten-Schlapphut des jungen Weltverbesserers wenig passen. Zwischen dem Kämpfer und dem Genießer kam es zu keiner rechten Herzlichkeit mehr, und doch fanden sie, wenn sie sich einmal begegneten, daß eigentlich immer noch ein tieferer geistiger Einklang bestünde. Das war, wie wenn in ein gleichgültig geführtes Tagesgespräch ganz ferne Glockenklänge hineintönten, und während die Worte ruhig weiterplätschern, lauschten doch im geheimen die beiden Sprechenden der dunklen Melodie, die der Wind weit her aus der Jugendzeit herüberzutragen schien.

Auch mit Sophie von Ewald hatte Brandstädtern das Schicksal noch einmal für ewige Zeit zusammengeführt. Es war in seinen späteren Universitätssemestern, nicht sehr lange, ehe er der scharfen Berliner Luft Lebewohl gesagt. Sophie hatte sich bei Verwandten einquartiert, und dort, in einem ungewöhnlich vorurteilsfreien Familienkreise, hatte Brandstädter sie wöchentlich einmal besuchen dürfen. Es waren Abende voll Duft, Farbe, voll Geist und Humor gewesen. Das Idyll vom »Augusta-Ufer« nannte er es in seiner Erinnerung. Unter diesem Namen kannten es auch seine Freunde. Mehr erfuhr niemand.

Genug, daß er eben damals Berlin verlassen hatte und Sophie von Ewald nachher die Frau des viel älteren Regierungsrates Bartholdy geworden war.

Aus dem nur losen Verhältnis zwischen Ewald und Brandstädter schuf das Erscheinen des »Landes der Verheißung« wieder eine festere Lebensbeziehung. Ewald hatte sich in allem äußeren Schlemmertum doch immer die feinen geistigen Fühlfäden für das Merkwürdige und Besondere, ja fast noch mehr für das Absonderliche bewahrt. Brandstädters Erstling enthielt genug davon, um den Gaumen des Feinschmeckers zu reizen und die alte Bewunderung für die Künste des Jugendfreundes wieder wachzurufen. Als dann aus der Dichtung ein viel bestauntes und schließlich mißlungenes Experiment des Lebens wurde, erregte es bis in Kreise, die sonst diesen Dingen fernstanden, ein gewisses Aufsehen, daß auch ein Mitglied der besten Gesellschaft daran beteiligt sei. Ewald ließ zwar öffentlich erklären, daß er es nur auf einen vorübergehenden Besuch seines Freundes Brandstädter abgesehen habe, an dessen »lehrreicher Gründung« er übrigens den »Anteil des Psychologen« nehme. Für seine Kreise blieb er doch heillos bloßgestellt, gewann aber auf diesem Wege schon frühzeitig die Erkenntnis, daß das ganze Gebilde nur der chemischen Retorte, nicht lebendiger Zeugung entsprungen sei.

Er zog sich unauffällig – wie es seine Art war – zurück und ging auf Reisen. Jahrelang hielten ihn die alten Kulturen Indiens, Japans und Chinas fest. Als er wiederkehrte, geschah es gerade rechtzeitig für Brandstädter und seine »Dionysien«, die in schwerer Seenot nach allen Seiten Rettungssignale aussandten. Ewald half und brachte das Schiff aus der Sturmzone wieder in ruhigere Breiten.

Bald danach errang Brandstädter auf den Brettern eben dieser »Dionysien« einen starken Bühnenerfolg. Es war mit dem Drama »Galathea«, einer phantastisch-satirischen Gestaltung des Themas Künstler und Modell. Nina spielte die Galathea, die in vielem sie selbst war, so daß die Eingeweihten den doppelten Reiz von Phantasie und Wirklichkeit, von Erlebnis und Dichtung genossen. Man wußte zwischen der Darstellerin und der Dargestellten nicht mehr zu unterscheiden, und indem man es doch versuchte, von allen Seiten an dem Schleier zupfte, der das Verhältnis zwischen den beiden und dem Dichter verhüllte, wuchs der Erfolg auch ins größere Publikum hinein.

Es war noch einmal eine Lebenshöhe für Brandstädter. Er stand in der ersten Hälfte seiner vierziger Jahre und konnte sich sagen, daß er zweimal auf eine ganz verschiedene künstlerische Art und Weise, wie einst im Roman, so jetzt im Drama, eine geglückte und überzeugende Lösung des eigenen Rätsels gefunden habe.

Über Nina als Schauspielerin waren die Stimmen geteilt. Die einen sahen ein anziehendes und eigenartiges, wenn auch noch nicht entwickeltes Talent. Die anderen schrieben alles den besonderen Umständen zu, eben jenem Hineinwirken des Persönlichen, Menschlichen, Allzumenschlichen in die Sphäre der Kunst, und nannten Ninas (und schließlich auch Brandstädters) Sieg nichts weiter als einen Schlüsselerfolg.

Für den Dichter hatte das Ereignis die nicht ungefährliche Wirkung, daß er sich nun erst recht dem Theater verschrieb und während der nächsten Jahre nur noch für die Bühne arbeitete, in der doppelten Eigenschaft als Direktor und als Hausdichter der »Dionysien«. Aber ein Stück nach dem anderen fiel durch, mehrmals unter stürmischem Lärm und Gelächter. Der Erfolg der »Galathea« rächte sich schwer an ihrem Verfasser. Er büßte das Glück des einen Kindes mit dem Untergang aller übrigen. Es zeigte sich auch, daß bereits ein neues Geschlecht auf den Plan getreten war, welches jetzt ebenso ihn als einen Nichtskönner und Kunstverderber bekämpfte, wie einst er und die Seinen die vorhergehende Generation.

Mitten in dieses verzweifelte Ringen um Stellung und Namen, um äußeres und inneres Gleichgewicht, schrillte Gerdas Tod wie ein zerbrochener Geigenton in das Toben eines aufgewühlten Orchesters. Sie hatte durch eigene Hand geendet. Einen Augenblick schwieg alles. Dann setzte der Lärm wie mit verdoppelter Kraft wieder ein. Mißgunst und Anfeindung wuchsen um Brandstädtern. Er kämpfte wie ein Ertrinkender. Auch sein Werk, die »Dionysien«, geriet immer tiefer in den Wirbel. Ewald hätte vielleicht noch weiter geholfen. Aber Brandstädter war es satt. Ihm war zumute wie dem Galeerensklaven, der zehn Jahre an die Ruderbank geschmiedet gewesen ist. Er warf alles hin und ging seiner Wege. Gleich darauf meldeten die Blätter den Untergang der »Dionysien«.

In der allgemeinen Auflösung schien Nina Wagner die einzige Gewinnerin. Hans Lebrecht von Ewald bot der um zwanzig Jahre Jüngeren seine Hand, und Nina nahm sie. Schloß und Herrschaft Dietramsried, die Ewald schon vor Jahren angekauft hatte, wurde der Sitz des jungen Paares. An ihrem Hochzeitstage hatte Brandstädter dort zum letzten Male den beiden gegenübergestanden.

Über sein Leben und Wirken seitdem war wenig in die Öffentlichkeit gedrungen. Er hatte sich in die Einsamkeit der Weltstadt zurückgezogen, die er einst als junger literarischer Abenteurer verlassen, und hatte sich philosophischen, metaphysischen Studien zugewandt. Die Gedanken der Seelenwanderung, der Wiederkunft, des freiwilligen Todes und ähnlicher geistiger Verirrungen, wie die Blätter tadelnd bemerkten, sollten von dem einst stählernen Manne Besitz ergriffen und ihn ganz unterhöhlt haben.

Die Mühlen des Lebens mahlten weiter. Eines Tages stand in den Zeitungen zu lesen, daß der bekannte Theatermäzen Hans Lebrecht von Ewald auf dem Grund und Boden seines Schloßgutes Dietramsried eine Naturbühne einzurichten gedenke, auf der während des Sommers der Kunst ein Feiertag bereitet werden solle. Und Brandstädter, den fast gleichzeitig ein ausführliches Schreiben Ewalds erreichte, hatte sich auf den Weg gemacht, zurück zu den Spuren seiner frühen und reifen Mannheit, seiner Höhezeit und seines Abstiegs, seiner Hoffnungen, Leidenschaften und Irrtümer.


 << zurück weiter >>