Max Halbe
Jo
Max Halbe

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14

Neubauer hatte von Zehn bis Elf am Tennisplatz auf Nina gewartet. Es war ja nicht möglich, daß sie ihn sitzen ließ! Abgesehen von dem Eindruck, den seine Erscheinung als Mann auf sie gemacht haben mußte, wie er sich ohne Übertreibung eingestehen durfte... wußte sie denn nicht, was für sie auf dem Spiele stand? Hatte er ihr nicht mit aller Deutlichkeit und Bestimmtheit sein Ultimatum gestellt? Nicht nur sein Selbstbewußtsein, auch jede vernünftige Überlegung von ihrer Seite sprach dagegen, ihn umsonst hierher zu bestellen, in dieser unangenehm schwülen Nacht, die einem den Schweiß aus allen Poren trieb, an einem glattgewalzten Tennisplatz, der die Hitze eines Hochofens ausspie, und mit dem nahen Blumengarten vor der Nase, aus dem unaufhörlich der widerliche Geruch der Levkoien und der Rosen herüberquoll. Nein! Es konnte nicht sein! Es wäre zu schnöde gewesen! Noch beim Tee hatte sie ihm auf seine Mahnung bedeutsam zugenickt. Was konnte denn das anders heißen als: Es bleibt dabei. Ich komme.

Er wanderte ruhelos auf und ab, das gelbseidene Taschentuch in der einen Hand, den grünen Jägerhut in der andern, fortwährend in die schwüle Stille hinausspähend wie ein Pfadfinderhäuptling, und den Schweiß abtrocknend. Ein paarmal stolperte er über eine von diesen Wurzeln. (Die Wurzeln schienen es auf ihn abgesehen zu haben!) Der Mond ging und kam und ging. Im Observatorium oben, das auf dieser Seite des Herrenhauses lag, war Licht. Dort trieb Ewald seine astrologischen Narrenspossen. Hatte der Mann nichts Besseres zu tun? Warum paßte er nicht lieber auf seine Frau auf, damit sie ihn nicht mit andern betröge, während er, Neubauer, sich hier unnütz die Beine in den Leib stand!

Ja, unnütz! Jetzt konnte kein Zweifel mehr sein. Die Schloßuhr in dem kleinen Glockenstuhl neben der Kuppel des Observatoriums hatte vor fünf Minuten Elf geschlagen, und Nina erschien nicht. Man mußte der bittern Wahrheit ins Gesicht sehen: Er war schnöde betrogen! Dieses Weib hatte ihn in lächerlicher Weise versetzt! Ihn, Thomas Neubauer! Den Herrn und Meister der »Funkenturm«-Bewegung. Den mächtigsten Mann der Gegenwart und jedenfalls der Zukunft.

Das verlangte Rache. Das bedeutete Krieg zwischen ihnen, bis sie zu Kreuze kroch und sich ihm unbedingt unterwarf. Sie sollte seine Macht fühlen lernen. War sie denn nicht schon jetzt völlig in seiner Gewalt? Wußte er nicht genug von ihr und Rudolf, um Ewald die Augen zu öffnen, oder, wenn dieser durchaus verstockt blieb, um auf der andern Seite Rudolf ganz über sie aufzuklären, diesen naiven Phantasten, der sich in Wunder was für Träumen über ihre Reinheit und ihre Liebe wiegte?

Ja, tat man nicht sogar ein gutes Werk, wenn man dem heillos verliebten jungen Menschen einmal den Star stach, ihm den Abgrund zeigte, dem er entgegentaumelte? Er hatte das Erlebnis dichterisch verwertet, hatte seine »Jo« daraus geschöpft und obendrein noch das Glück gehabt, daß ein Neubauer sich seines Werkes annahm. Schön! Jetzt war es genug! Die Geschichte mußte ein Ende haben. Zu seinem eigenen Besten. Solche Weiber wie Nina brauchten Männer! Keine jungen Laffen und keine wandelnden Ruinen!

Solches bedenkend und mit einem gallig bitteren Nachgeschmack des ausgestandenen Ärgers auf der Zunge, war er, ohne es gewahr zu werden, vom Tennisplatz in den Park geraten. In einiger Entfernung vor sich glaubte er Brandstädter zu sehen. Es war sein Gang und seine Haltung, soweit man es im schnell wechselnden Mondlicht unterschied. Was wollte denn der jetzt hier? Hatte Nina am Ende mit Brandstädter... ? Während er, Neubauer, am Tennisplatz Blut geschwitzt hatte...! Das wäre ein Abgrund von Bosheit...! Oder hatte vielleicht auch Brandstädter umsonst...? Ein Gedanke nicht ohne tiefere Komik, den größenwahnsinnigen Narren hier in der Nacht auf den Spuren einer Kurtisane herumirren zu sehen, die ihn seit zehn Jahren zum besten hielt!

Er lachte befriedigt in sich hinein und überlegte gerade, ob er nicht vielleicht vorsichtig hinterhergehen solle, als auf einem Seitenweg, der vom Schloß herführte, eine weibliche Gestalt auftauchte, die erst langsam, dann schneller sich zu nähern schien, wie um Brandstädtern den Weg abzuschneiden. Sollte das nun doch Nina...? Er blieb etwas abseits an einem Gebüsch stehen und spähte hinter seinen großen blauen Rundgläsern wie ein Eulenkönig in die schwüle Dämmernacht hinaus. Jetzt hörte man auch Stimmen. Eine männliche. Brandstädters. Eine weibliche. Es war nicht Nina. (Gottlob!) Es war Sophie.

Neubauer grunzte von neuem in sich hinein. Ei! Ei! Was nicht alles in solch einer Sommernacht in einem alten Schloßpark vor sich ging! Also die beiden jetzt ..! Na gut! Es war doch eine Erleichterung, daß es nicht Nina war. Diese Nacht schien den Menschen gründlich einzuheizen, wenn sogar eine Frau wie Sophie Bartholdy, ein solcher Eiszapfen, auftaute. In der Tat! An Schlafen war nicht zu denken. Der Schweiß rann von der Stirn. Wer jetzt vor der Waldschenke säße...! In lustiger Gesellschaft, statt daß man hier auf den Leim gekrochen war! Kalte Ente! Musik! Mädchen!... Der Weg dorthin durch die Schlucht bei Nacht war halsbrecherisch. Aber es gab noch einen andern Weg, weiter durch den Park. Einen Umweg zwar...

Ehe er sich dessen recht bewußt war, hatten seine Beine bereits die Richtung eingeschlagen. Man mußte am Parkhaus vorbei, dann rechts und die Waldlichtung hinauf. Vor Zwei kam das verrückte Volk droben nicht zur Ruhe. Es lohnte sich also noch. Man konnte dort übernachten, wie schon so oft.

Er ging so rasch, als es die Schwüle erlaubte. Merkwürdig! Bei Tage war ihm nie eingefallen, was für ein alter versponnener Park das war. Jetzt im Geisterschein dieser verdrehten Mondkugel, die sich fortwährend von den dunklen Wolkenrachen verschlucken und wieder ausspeien ließ, sah alles ganz verwandelt aus. Man hätte meinen können, aus einer dieser schwarzen Baumgruppen, die lautlos auf dem Rasen standen, könne jemand hervortreten: Vielleicht jener Gasparo Serbelloni, von dem hier so viel die Rede war, jener verschollene Don Juan, den am Ende der Teufel geholt hatte und den es immer wieder zum Schauplatz seiner Abenteuer zurückzog, wie die Leute behaupteten. Keiner, der ihn nicht in allem Ernst gesehen haben wollte, in solch einer Sommernacht wie dieser, oder eines Herbstabends am See.

Eine muntere Begegnung konnte das werden zwischen den beiden Schwerenötern, dem aus dem Barock und dem aus der Moderne! Heute nahm es kein so fatales Ende mit den Don Juans.

Neubauer meckerte halblaut vor sich hin. Wie verrückt solch ein Lachen klang in der Totenstille! Er blieb stehen, lauschte. In weiter Ferne glaubte er Musik zu hören, Stimmen... Vielleicht von der Waldschenke. Und horch...! War das nicht wie ein Schrei...? Ganz, weit...? Der Schweiß tropfte ihm von der Stirn auf die Nase. Er lauschte von neuem. Nein! Eine Täuschung. Man hörte nichts.

Plötzlich fühlte er, wie sich eine Hand auf seinen Arm legte. Er taumelte, wie von einem Schlag auf den Kopf, und wandte sich mit einer jähen Bewegung, gegen das Gebüsch hin.

»Der Herr braucht nicht zu erschrecken,« klang es aus dem Halbdunkel. »Es ist nur der alte Sebastian.«

Die lange, dürre Gestalt des Alten löste sich lautlos von den schwarzen Laubkulissen, zwischen denen im Hintergrunde die etwas helleren Umrisse einer niedrigen Baulichkeit auftauchten.

»In Satans Namen!« rief Neubauer wütend. »Das sind schlechte Späße, einen so in der Nacht zu überfallen. Wo kommen Sie denn plötzlich her in dieser Wüstenei?«

»Ein bißchen Luft schöpfen auf den Abend, muß der Herr wissen,« erwiderte Sebastian und nickte bedächtig.

»Hier mitten im Dickicht?« grollte Neubauer. »Und mit der Sense auf dem Rücken?... Toller Kerl!«

Sebastian hatte die Sense von der Schulter genommen und streichelte wie liebkosend ihren Schaft mit seinen knochigen Fingern.

»Die gehört nun mal zum Handwerk. Hat der Herr noch nie was vom Schnitter Tod gehört?«

Neubauer trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

»Was faseln Sie da vom Tod?... Hergottsachsen! Nehmen's doch das eklige, scharfe Ding weg! Und wo sind wir denn hier? Was ist das für ein Gebäude dort? Etwa schon das Parkhaus?«

Sebastian schüttelte den Kopf.

»Das ist das Leichenhaus,« sagte er mit treuherzigem Lächeln. »Da kommen die hin, wo das ganze Lamento hinter sich haben, muß der Herr wissen. Da kann auch der Herr mal hinkommen, wer weiß wie bald, wenn's Gottes und des Teufels Wille so ist.«

Neubauer war von neuem zurückgeprallt.

»Das Leichenhaus, Sie Blödian, Sie?... Lassen's Ihnen heimgeigen! Man sieht ja Licht durch die Fensterläden.« »Das macht, weil sich einer erschossen hat,« flüsterte Sebastian, indem er sich ganz nahe zu Neubauers Ohr neigte.

»Erschossen...?!«

Sebastian nickte vertraulich.

»Erschossen! Vor einer knappen halben Stunde, kann ich dem Herrn sagen. Jetzt liegt er da in dem Leichenhaus, hübsch aufgebahrt, und sein Feinsliebchen hält Wache bei ihm, die ganze Nacht. Der Herr kann sich ja überzeugen, wenn er will.«

Er faßte ihn mit seiner knöchernen Hand unter den Arm, als ob er ihn selbst an Ort und Stelle führen wolle.

»Ich werde den Teufel tun!« schrie Neubauer und riß sich los. »Sind Sie ganz von Gott verlassen? Sie stinken ja nach Schnaps, Mensch, daß einem der Atem stillsteht!«

Er stülpte aufgeregt sein Jägerhütchen auf den Kopf und ging mit raschen Schritten den Weg zurück, den er gekommen. Der Appetit auf kalte Ente war ihm vergangen. Ein liebliches Abenteuer, das! Selbstmörder besichtigen in einer Leichenhalle, oder was es war! Mitten in der Nacht! Am Arm eines verrückten Schnapsbruders, der mit einer Sense herumfuchtelte und jedes Streichs fähig war! Fehlte nur noch, daß der alte Strolch hinter ihm hersetzte! War es nicht, als ob man seine höhnische Fratze bereits im Nacken fühlte?

Er ging schneller und schneller, begann schließlich beinahe zu laufen, bis er keuchend, schweißtriefend, zu Tode erschöpft auf einer Bank unweit des Schlosses zusammenbrach. Gottlob! Man war in Sicherheit. Nach all den Aufregungen und Sensationen dieser traumhaft wüsten Nacht kam eine wohlige, gliederlösende Entspannung. Die Augen fielen ihm zu. Die großen, blauen Rundgläser gaben ihm das Aussehen eines in sich zusammengesunkenen, riesenhaften Uhus, der in der dämmerigen Sommernacht auf Beute lauerte.


In dieser selben betörenden Julinacht hatte es sich vor der Waldschenke zugetragen, daß Ethelried Maria von Borsdorff, der Artistische Sekretär und Vertraute Benvoglios, in einer abgelegenen Jasminlaube den jugendlichen Helden Philidor Dormann mit Barbara Frantzius überraschte und als Mann von Wort die längst angekündigten Folgerungen daraus zog, indem er mit seinem handlichen, an Boxern und Hottentotten erprobten Revolver Barbara Frantzius schwer verwundete, sich selbst aber durch einen wohlgezielten Schläfenschuß auf der Stelle den Garaus machte. Nur Philidor Dormann, der als früherer Meisterschaftsläufer über große Gewandtheit und Schnelligkeit verfügte, entkam wie durch ein Wunder dem ihm zugedachten Schicksal. Vier Kugeln hatte Borsdorff dem Entweichenden nachgejagt, ehe er an sich selbst ging, und alle vier Kugeln waren rechts und links an Dormann vorübergepfiffen, ohne ihm ein Haar zu krümmen.

»Borsdorff hat sich einen guten Abgang gemacht,« bemerkte Felix von Keßler nach dem ersten Schrecken in seiner humorigen Weise. »Er hat unserm braven Philidor, der es sehr nötig hatte, den Strahlenkranz des Genies um den Kopf gefeuert. Denn wer nach vier Borsdorffschen Kugeln noch auf seinen zwei Beinen auskneifen kann, muß wirklich zu Größerem bestimmt sein als zum Seiltanzen.«

Auf andere Weise drückte sich Friedemann Schilling aus, als man den Leichnam Borsdorffs fortschaffte.

»Hier haben«, sagte er mit düsterem Ton, in dem man das mühsam verhaltene Grollen des sozialen Umwälzers spürte, »hier haben zwei Entwicklungsreihen zu der tragischen Koinzidenz des Schicksals, zu dem tödlichen Kontakt gleichsam, geführt. Von der einen Seite die ethischen Atavismen und Imponderabilien einer ins Unterbewußtsein gedrängten alten Kultur. Von der andern Seite die seelischen Zwangsassoziationen und latenten Phobien eines Degenerierten und Entwurzelten, eines déraciné. Ich habe es lange kommen sehen. Leid kann einem nur die arme Frantzius tun, daß sie sich vielleicht noch lange quälen muß. Auch hier wieder das komitragische Element bei Borsdorff! Er wollte alle, die er für schuldig hielt, töten. Und er traf nur den einzigen wirklich Schuldigen zu Tode: Sich selbst!«

Der am schwersten Getroffene war aber Tobias Benvoglio, als Mensch wie als Direktor. Nicht nur den Freund und Vertrauten hatte ihm das Geschick von der Seite gerissen. (»Verschmerzen werd' ich diesen Schlag, das weiß ich, denn was verschmerzte nicht der Mensch?« zitierte Benvoglio später im kleineren Kreise. »Doch fühl' ich's wohl, es ist der Glanz hinweg aus meinem Leben und kalt und farblos seh' ich's vor mir liegen.«) Was für einen Mann von seinem Verantwortlichkeitsgefühl noch schwerer wog, das war die Unsicherheit über die nächste Zukunft seines Bühnenunternehmens. Einerlei, ob Barbara Frantzius gerettet werden konnte oder nicht: für ihn, für die Naturbühne war sie erledigt. Der Hauptstern seiner Truppe war ausgelöscht. Bis zu ihrer Genesung konnte es Wochen, Monate dauern. Dann waren Sommer und Spielzeit zu Ende. Vier Wochen Proben waren verloren. Selbst wenn man sich einen neuen Stern verschrieb, es fehlte das runde Zusammenspiel, das restlose Ineinanderaufgehen, das nur die Proben brachten und das die Meisterspiele einer Gesellschaft wie der »Funkenturm« forderten, wenn man vor einer verwöhnten hauptstädtischen Kritik bestehen wollte. Eine Iphigenie, eine Leonore, die studiert war, ließ sich zur Not auftreiben. Aber wo eine Jo hernehmen? Eine Rolle, die zum erstenmal gespielt wurde und ungefähr das Schwerste darstellte, was in den letzten zwanzig Jahren zutage gefördert war. Es war, um sich die paar Haare auszuraufen, die noch von dem einstigen Liebhaberschopf übrig waren!

»Schon als ich heute früh aus meiner Schlafstube trat, wußte ich, daß es ein schwarzer Tag werden würde, ein dies ater!« äußerte er erregt zu Felix von Keßler. »Wer steht vor meiner Tür! Wer ist der erste Mensch, der mir in den Weg tritt – soweit das Wort Mensch hier mit dem männlichen Artikel am Platze ist! Na, raten Sie mal wer? Unsere komische Alte! Unsere Weichselbaum! Da mußte ja etwas passieren!«

Nachdem für Barbara Frantzius ärztliche Hilfe geholt war, mußte natürlich Ewald benachrichtigt werden. Benvoglio selbst hatte sich auf den Weg gemacht.

Ewald saß noch bei Sextant und Tabellen im Observatorium, als Benvoglio von dem erschrockenen Kaspar hereingeleitet wurde und seinen Bericht erstattete. Es trifft also zu! dachte Ewald. Zwischen Elf und halb Zwölf war es geschehen, und gerade um diese Zeit hatte der Mond in Quadratur mit Uranus und Mars gestanden. Er hatte die Planetenstellung soeben erst ausgerechnet. Es waren die charakteristischen Aspekten für solche Leidenschaftstaten.

Alles Erforderliche wurde zwischen den beiden Männern verabredet. Die morgige Generalprobe des »Tasso«, die Eröffnungsvorstellung übermorgen mußten bis auf weiteres verschoben, das »Sommernachtsfest« natürlich ganz abgesagt werden. Über das Schicksal der »Jo«-Premiere wollte man sich später entscheiden. Auch Neubauer mußte ja befragt werden. Kaspar hatte an seiner Tür geklopft, aber keine Antwort erhalten. Ewald legte im übrigen Wert darauf, daß nicht das Haus mitten in der Nacht aufgeschreckt werde. Morgen sei auch noch ein Tag.

Benvoglio hatte sich mit allen Zeichen seelischer Gebrochenheit verabschiedet und Ewald war wieder allein in dem drückend schwülen Dachraum. Er trat unter die niedrige Kuppel, durch deren weitgeöffnete Klappen das nächtliche Himmelsgewölbe hereindunkelte. Hier befand sich auf einer Ziegeluntermauerung der Refraktor mit dem Beobachtungsstuhl. Ewald blickte hinauf. Der Himmel hatte sich verdüstert. Das Wolkengeschiebe, das während des ersten Teils der Nacht rasch gewechselt hatte, war in langsamern Fluß gekommen, wie ein allmählich erstarrender Lavaüberzug, unter dem Mond und Sterne begraben lagen. Dort drüben im Steinbock mußte Jupiter stehen, nicht weit davon Uranus, der ebenso wie Jupiter rückläufig war. Mars war schon hinunter, Saturn, der sich im Zeichen des Stiers befand, noch nicht lange aufgegangen.

Ewald schüttelte versonnen den Kopf. Das große Lebensbuch droben war geschlossen. Zeit zum Schlafengehen! Er wandte sich zum Tisch zurück und überflog noch einmal die Blätter, in denen die Arbeit der Nacht niedergelegt war: Ninas, Rudolfs und Brandstädters Nativitäten. Merkwürdig und doch für den Wissenden so naheliegend, daß alle drei Horoskope gemeinsame Züge aufwiesen! Menschen, die sich liebten und anzogen, am Ende auch wieder sich abstießen und verließen. Mußten sie nicht auch in ihren Horoskopen Verwandtschaft haben? Bei Rudolf der Mars dort, wo bei Nina der Mond und bei Brandstädter Saturn war. Und das überwiegen der ungünstigen Planeten bei ihnen allen dreien, doch so, daß Rudolf die günstigsten Aspekten hatte, Brandstädter die dunkelsten von fast verzweifelter Konstellation, Nina wiederum zwischen ihnen beiden stand. Mond in Konjunktion mit Mars, in Quadratur mit Saturn! Aspekten für ein frühes, vielleicht gewaltsames Ende (wie bei den zwei andern auch), wenn nicht Jupiter und Venus dazwischen traten, wofür Ninas Horoskop die Hoffnung ließ.

Ewald richtete sich entschlossen auf. Kein Zweifel! Sie war in Gefahr. Jemand, über dessen Weg glücklichere Sterne walteten, mußte sie in seine Obhut nehmen, mußte sie schützen und bewahren. Er war kein Ethelried von Borsdorff, der an der, die er liebte, für ein verpfuschtes Leben Rache übte und wie ein Schuljunge mit dem Revolver um sich knallte. Er wußte genug von den Dingen Himmels und der Erden, von den verschlungenen Pfaden dieser rätselhaften Welt, deren doch so klares und durchsichtiges Schlüsselwort droben in den Sternen zu finden war – wußte genug von Aufblühen und Verwelken, von Leben und Tod, um nicht sein kleines, persönliches Glück zum Maßstab alles Urteils zu machen, wußte genug von dem gleichsam geographischen Aufbau des Daseins, wo nach erreichter Paßhöhe die Wasser uns nicht mehr in Sturm und Lust wie einem geliebten Freund entgegenstürzen, sondern von uns fort talabwärts schießen, als könnten sie wie Jugend und Glück und Liebe uns nicht schnell genug verlassen. Entsagen! Verzichten! So lautete wohl die Formel dafür. Aber besaß nicht um so inbrünstiger und unverlierbar, wer verzichtete? Herrschte nicht um so lebendiger und ganz unbesieglich, wer entsagt hatte? Nicht umsonst stand Jupiter an oberster Stelle in der Planetenkonstellation zur Stunde seiner Geburt. Das große, glückhafte Gestirn, das über seiner Wiege geschienen hatte, sollte fortfahren, seinen Weg zu leiten, wenn es auch schon tief unter den Meridian hinabgestiegen war.

Der nächste Tag – Ninas Geburtstag, auf den so Hoffnungen gesetzt gewesen waren – verlief ganz unter der Nachwirkung der Bluttat vor der Waldschenke. Der Himmel blieb düster, ohne daß Regen kommen wollte. Die Stimmung in Dietramsried war finster und verschlossen. Alle schienen einander aus dem Weg zu gehen. Jeder wandelte wie ein eigener Weltkörper in seiner besonderen Atmosphäre, die keine Annäherung der Nachbarwelt duldete, wenn nicht schwere Zusammenstöße stattfinden sollten. Den geladenen Gästen aus der Stadt war telegraphisch abgesagt worden. Man hatte genug mit sich selbst zu tun, brauchte keine fremden Zuschauer bei dem stummen Kampf der Seelen, der in der Tiefe fortdauerte.

Der lauteste von allen war nach seiner Art Neubauer. Seit gestern abend ging alles schief! Ninas schnöder Verrat ... Das unheimliche Abenteuer mit dem sensentragenden Strolch ... Das Märchen von der Leichenhalle und dem Selbstmörder ... Ganz klug konnte man aus der Geschichte nicht werden, denn einen Selbstmörder hatte es ja tatsächlich gegeben (woher der alte Vagabund das wohl wußte?), nur daß er nicht im Parkhaus gelegen hatte. Das Parkhaus nämlich und nichts anderes war es, wo der Sensenmann ihm entgegengetreten war, davon hatte er sich heute bei Tageslicht überzeugt. Was für wüstes, unwahrscheinliches Zeug das alles! Die Flucht vor dem verrückten alten Kerl, das Einschlafen auf der Bank im Freien, obwohl man sein schönes französisches Bett so nahe gehabt hätte, das Aufwachen nachher mit einem Schädel, in dem ein Eisenhammer in Betrieb gesetzt schien, und was das tollste war: das Erscheinen von Nina und Rudolf, die eng umschlungen mitten in der Nacht an seiner Bank vorüberwandelten. Von eben jener Nina, um derentwillen dieser Katarakt von Unannehmlichkeiten über ihn hereingebrochen war!

Schöne Geschichten! Ein grüner Laffe ihm vorgezogen! Womöglich kamen die beiden von jener sogenannten »Leichenhalle« her, vor der er – Neubauer, der Begründer des »Funkenturms« – sich hatte ins Bockshorn jagen lassen. Wehe, wenn die Sache ruchbar wurde! Ein gefundenes Fressen für die Konkurrenz! Peterseim und Habakuk Sanktjohanser, die Führer des »Amphitryon«, hätten es den Zeitgenossen sofort serviert.

Er wußte nicht, hatten die beiden, die so ganz ineinander versunken gewesen waren, ihn im Halbdunkel bemerkt oder nicht? Sie schienen sich sehr sicher zu fühlen. Ihre Stimmen klangen durch die Nacht. Ja, diese Stimmen waren es, die ihn erst aufgeweckt hatten. Auch der alte Strolch mit der Sense war im Hintergrund wieder aufgetaucht ...

Weg, zum Teufel, mit den ekligen Bildern und Gesichten! Es war nicht das Schlimmste in dieser Unglücksnacht. Es war lächerlich und grotesk, und die Rolle, die er darin spielte, ließ zu wünschen übrig. Aber es blieb im Persönlichen. Was gleichzeitig vor der Waldschenke geschehen war, betraf die Sache, betraf das Geschäft, und hier hörte der Spaß auf. Dieser Borsdorff, dieser Revolverheld, der ihm von Anfang an unheimlich gewesen war, hatte ihm in einer Minute die Arbeit von Monaten zusammengeschmissen wie ein Kartenhaus. Und auch hieran war Nina schuld, sie ganz allein. Denn hätte sie ihn nicht gestern an den Tennisplatz gelockt, so wäre er in dem verhängnisvollen Augenblick vor der Waldschenke gewesen, und dann wäre der Irrsinnige sicher zurückgehalten worden.

Zu spät! Was halfen alle Leichenreden! Keine Iphigenie! Keine Leonore! Keine Jo! Und der Skandal obendrein! Aber konnte nicht gerade aus dem Skandal auch die schönste Reklame erwachsen? Daß ihm das erst jetzt einfiel! Der verdammte Eisenhammer in seinem Schädel! Vielleicht hatte dieser Borsdorff noch ein gutes Werk getan, indem er die Frantzius unschädlich machte. Es schaffte Platz für die Wagner, für Nina als Jo. Selbst Ewald mußte einsehen, daß jetzt um der Sache willen alle andern Rücksichten zurückzutreten hatten.

Er tröstete den noch immer fassungslosen Benvoglio und beschloß, ohne Umschweife aufs Ziel loszugehen. Der berechtigte Groll des Mannes, des gefoppten Liebhabers sollte schweigen. Nur die Sache sollte für sich sprechen.

Gegen Mittag ließ er sich bei Nina melden, erhielt aber von Marie den Bescheid, daß die Baronin unpäßlich sei und sehr bedauere. Er setzte sich hin und legte seine Vorschläge in einem Brief nieder, dem es nicht an ein paar vorsichtigen Anspielungen fehlte. Nach einer Weile brachte Marie die Antwort. In den festen Schriftzügen Ninas standen auf dem duftenden, blaßblauen Bogen nur die Worte:

»Es bleibt bei dem, was ich gestern sagte. Ich werde weder als Jo noch in einer andern Rolle jemals wieder die Bühne betreten, außer wenn mein Mann, Baron E., es wünscht. Mit allem weiteren bitte ich es einzurichten, wie Sie es für notwendig halten. N. v. E.«

Neubauer schäumte. Diese Vorstadtpflanze, dieses ehemalige Modell behandelte ihn wie den ersten besten Kollektebruder, den man durch die Dienstboten abfertigt! Nur wenn mein Mann es wünscht. Lächerlich! Als ob Ewald anbeißen würde, wenn sie nicht selbst wollte und trieb! Mit dem hochnäsigen Junker war überhaupt nicht gut Kirschen essen. Man hatte seine Erfahrungen. Bei den Verhandlungen heute morgen war Ewald von einer bedenklichen Zugeknöpftheit. Vorläufig mußte man es herunterschlucken. Der Kerl war kapabel, einem den Kassenschrank zu sperren, und dann Funkenturm ade! Die Sache, nur die Sache durfte jetzt mitsprechen.

Also blieb nur Bartholdy, um es auszufressen. Das Schäferstündchen, heute nacht, während er – Neubauer! – am Tennisplatz geschwitzt hatte, sollte ihm nicht geschenkt sein. Bartholdy war jung, war Wachs. Man konnte ihn kneten. Neubauer begab sich auf die Suche nach ihm.


Rudolf war seit dem frühen Morgen verschwunden. Das Ereignis vor der Waldschenke hatte wie ein Blitz in schwarzer Nacht den Dachfirst beleuchtet, auf dem er seit sechs Monaten traumwandelte. Es war ein Donnerschlag, der auch Taube erwecken konnte. Zur selben Stunde, wo er Ewald im Parkhaus betrog, hatte Borsdorff einen ähnlichen Schimpf mit Blut abgewaschen. Mit dem eigenen und mit dem des schuldigen Weibes. Daß der Hauptfrevler heil geblieben, war ein Zufall. Nicht jeder, der seinen Freund, seinen Anverwandten betrog, konnte Schnelläufer sein, wie der wackere Philidor, über den heute – so traurig der Fall war – die ganze Waldbühne lachte. Wenn nun Ewald sie beide ebenso überrascht hätte, wie Borsdorff seine Barbara in der Jasminlaube? Eine unerklärliche Ahnung hatte ihn plötzlich beschlichen gehabt, als müsse etwas vorgehen, etwas geschehen. Er hatte Nina davon gesprochen. Sie lächelte, überging es in ihrer schnellen, flüchtigen, gleichsam abwesenden Art. Und doch war es eingetroffen. Die Schauer von Borsdorffs Tat waren bis in das Zimmer des Parkhauses gedrungen, wie der Steinwurf im See immer weitere Wellenkreise zieht. Auch in dem Fluidum, das die Seelenwelt durchdringt und verbindet, gab es solche Wellenkreise. Sie warnten, sie übertrugen Ahnungen von Zukünftigem oder schon Gegenwärtigem, das noch ungewußt. Wehe dem, der sie überhörte oder verlachte!

Es mußte zum Ende kommen! Was wird das mit uns zweien? hatte er erst gestern Nina gefragt. Dies war die Antwort darauf. Borsdorff hatte sie mit Blut geschrieben. Noch war es Zeit. Vielleicht nur noch eine kurze Frist, die ihnen das Schicksal ließ. Durfte er Ewald, durfte er seine Mutter, die menschlichste aller Frauen, in ein dunkles Verhängnis hineinreißen? Und Nina und er selbst? War das wirklich Liebe, die durchs Leben vorhalten konnte? Mußte es nicht doch einmal aus sein? Hatte seine Mutter nicht recht? Konnte ein Besitz glücklich machen, der durch das Leiden des Andern, des besten Freundes, des Wohltäters erkauft war?

Und doch ... Unausdenkbar, so selbst den Schnitt zu machen, durch den er sich für immer von ihr trennte! Von einem Glück, das auf diese Weise nie wiederkommen konnte! Einem Rausch, dessengleichen es nicht mehr geben würde, solange auch Menschen noch lebten und liebten! Was wollten alle die Halfter des Gesetzes, der Sitte, der Gesellschaft gegen das eine große Naturrecht der Leidenschaft! Er war ein Dichter, ein Künstler. Er stand unter diesem Recht, unter ihm allein. Es wirkte in ihm. Handelte durch ihn. Er war nur sein Werkzeug, sein schuldloses Gefäß. Mochte die ganze Welt zusammenlaufen, um ihn und die, die er liebte, zu steinigen, was lag daran! Man mußte es dulden und genoß noch im Untergehen alle Wonnen jener schuldlos Schuldigen, die im Andenken der Menschen fortlebten und durch das Lied der Dichter Unsterblichkeit erfuhren.

Hatte er dies nicht alles in seiner Jo vorausgesehen, vorweggenommen? Was wären das für Verse, für Bilder geworden, hätte er sie mit der gewässerten Milch des Alltags, des Herkommens getränkt, statt mit dem roten Blut der Leidenschaft! Parisina, Correggio, Sigismondo, Francesco ... Sie alle lebten, begehrten, kämpften, starben in einer Welt jenseits des Gesetzes, bis zuletzt das Gesetz über den Trümmern von Leidenschaft und Schönheit triumphierte.

Also dann doch triumphierte! Und Francesco, jenes Spiegelbild des eigenen Ichs, in dem er sich vor sich selbst angeklagt und schließlich freigesprochen hatte, was tat Francesco? Starb er wie Parisina? Ging er für seine Liebe, für seine Schuld in den Tod? Weit entfernt! Er glaubte sie besser durch das Leben als durch den Tod, besser durch ein langes, selbstvergessenes Arbeiten und Schaffen, als durch einen kurzen, wenn auch schrecklichen Augenblick der Vernichtung sühnen zu können, und floh.

Ja! So lächerlich es war ... Francesco, der Geliebte der Parisina, floh vor dem Blutgerüst, wie heute nacht Philidor Dormann vor dem sechsläufigen Revolver Borsdorffs ausgerissen war! Sollte auch dies eine Vorahnung ...? Hatte er auch darin sich selbst, sein eigenes Schicksal bereits zu Papier gebracht, bevor es Wirklichkeit geworden, wie wir ja alle, gleich der Zwiebel mit den sieben Häuten, schon unsere ganze Zukunft in uns tragen?

Zweifel über Zweifel! Wer half ihm weiter? Führte ihn aus weglosem Gestrüpp ins Freie?

Der verstörte junge Mensch war stundenlang im Park herumgeirrt, hatte sich dann in ein Boot geworfen, um planlos über den bleiernen See zu rudern, und war gegen Mittag an einer fernen Stelle des Parkufers wieder gelandet. Er zog das Boot auf den Strand und trat den Rückmarsch zum Schloß an. Unterwegs traf ihn Neubauer. Als er ihn nach einer Stunde wieder verließ, sah die Welt anders aus. Es war eine Welt ohne Sonne, ohne Farbe, ohne Götter, ohne Liebe. Grau und bleiern wie der See! Hoffnungslos wie der Himmel und dieser ganze Tag heute! Aber es war die Wirklichkeit, die unerbittliche Wahrheit, die Neubauer ihm enthüllt hatte. Nina eine Unwürdige! Er hatte sich an eine Dirne fortgeworfen! Neubauers Beweise waren unwiderleglich. Hatte Neubauer doch selbst einstmals ...! Sein Lächeln, sein Augenzwinkern ...! Man hätte den Kerl ohrfeigen mögen und mußte ihm noch dankbar sein. Alle hatten Bescheid gewußt. Nur er natürlich nicht! Er hatte wieder alles in Rosenrot gesehen, hatte die innern Stimmen, die von Anfang an warnen wollten, schweigen heißen. Ein lächerliches Opfer seiner eigenen Phantasie wie immer!

Sein Entschluß stand fest. Aber niemand außer Neubauer sollte ihn vorher erfahren. Nicht Nina, nicht Ewald. Nicht einmal seine Mutter. Es mußte heimlich geschehen wie Goethes Flucht aus Karlsbad. Neubauer wollte mit dem Drei-Uhr-Schiff abreisen, um sich in der Stadt nach einem Ersatz für die Frantzius, vor allem nach einer neuen Jo umzusehen. Was war natürlicher, als daß er – Rudolf – sich ihm anschloß. Es handelte sich doch um sein eigenes Werk. Ewald und seiner Mutter gegenüber genügte es, wenn er den Grund von unterwegs telegraphisch mitteilte. Und Nina?... Was brauchte sie Worte, Erklärungen? Mußte sie nicht alles begreifen, wenn sie erfuhr, daß er fort war? War es nicht Schonung genug, daß er schweigend ging?

Als Neubauer sich um drei Uhr von Sophie und Ewald verabschiedete, erklärte Rudolf, ihn bis Seehausen geleiten zu wollen. Wenige Minuten darauf saß er an Neubauers gelbkarierter Seite auf dem großen, heute nur schwach besetzten Prunkdampfer und sah im grauen Dunst des trüben Tages langsam das grüne Gestade verschwinden, wo er Schmerz und Glück von nie gekanntem Maß erlebt hatte. Wer wußte, wann er es wiedersehen würde!


Nina war erst gegen Abend aufgestanden. Von Rudolf war ein Telegramm angelangt, daß er sich entschlossen habe, Neubauer nach der Stadt zu begleiten. In einigen Tagen würden sie wiederkommen. Sophie hatte es ihrer Schwägerin durch Tini sagen lassen.

Nina hatte Kopfschmerzen. Irgendwo in der Herzgegend lauerte wieder diese Angst. Ihr war schwach. Aber sie durfte nicht zu sehr darauf achten, mußte versuchen sich abzulenken. Frische Luft! Das würde gut tun. Ein Spaziergang am See. Weiter Blick, Atemfreiheit. Nur nicht diese ewigen Bäume, die dunkel und traurig wie Schatten von Gestorbenen durch die offenen Fenster sahen, manchmal etwas Drohendes sich zuflüsterten. Sie ließ sich von Marie, die mit unsichern Blicken um sie herumging, ankleiden und begab sich zum Strand hinunter.

Als sie am Badesteg war, sah sie Brandstädtern von der Ruine her sich nähern. Die gestrige Szene mit ihm fiel ihr ein. Er wollte Bescheid. Wenn nur nicht die Kopfschmerzen wären! Aber sie konnte ihm nicht mehr ausweichen. War das wirklich erst gestern, daß sie hier gelegen und seine schwarzen Augen heißer als die Julisonne auf sich brennen gefühlt hatte? Es kam ihr vor wie ein Menschenleben seitdem. Was war nicht alles geschehen! Dieser Borsdorff! Dieser Wüterich! Raubtiere die Männer! Die arme Barbara! Wen es gerade traf. Morgen konnte die Reihe an ihr selbst sein. Ah bah! Man hatte gehabt, was ein Mensch haben kann! Man hatte genossen, gelebt. Jetzt war Rudolf fort. Sie hatte gewußt, daß es einmal so kommen mußte. Rudolf war kein Mensch, dessen Leidenschaft dauern konnte. Wessen Leidenschaft dauerte denn? Es gab Ausnahmen: Der, der dort gegangen kam. Aber Rudolf? Nein! Sie hatte nie geglaubt, kaum gewünscht, daß es für's Leben sein werde. Rudolf war ein lieber, hübscher Junge, der manchmal mit seinen braunen Augen, seinem dichterischen Ungestüm etwas hinreißendes hatte. Aber er war Sechsundzwanzig. Seine Sonne stieg noch. Die ihre... ? Man war ein Weib. Es ging schneller in allem. Ihm konnten noch viele Frauen begegnen. Dann abdanken, sich in Eifersucht verzehren? Sie hatte gestern gedacht, ein Ende beizeiten... heute war es da!

Ein bitterlicher Schmerz wie ein scharfgeschliffenes Messer zuckte irgendwo in der Tiefe. Also doch schon so weit? Eine Mode von gestern...? Das war ja nicht möglich. Ein Weib, das geliebt, begehrt wurde wie sie, konnte doch nicht plötzlich so abgedankt werden? Da mußte etwas anderes ... Der Schreck über Borsdorffs Schießerei... Die Nutzanwendung auf sich selbst... Gewissensbisse... Angst... Ein bißchen Angst vor Ewalds Pistole war sicher mit im Spiel. Aber deshalb brauchte er doch nicht so ohne Sang und Klang...? Ohne ein Wort des Abschieds...?

Nina warf den Kopf zurück. Neubauer steckte dahinter! Das war die Erklärung. Konnte sie sich wundern? Sie hatte Neubauer bis aufs Blut gereizt. Wie das eigentlich gekommen? Sie hatte doch wissen müssen, daß er es ihr nicht verzeihen würde. Ein Mensch von seiner Eitelkeit! Was gibt es Rachsüchtigeres als einen eitlen Mann, der von einer Frau zum Narren gehalten wird! Sie kannte den Größenwahn der Männer. Aber gerade das hatte sie gereizt. Sich von einem Neubauer erpressen lassen? Ehe es so weit käme...! Er hatte seine Ohrfeige weg. Die »Stunde Schwitzen am Tennisplatz«, auf die er in seinem heutigen Brief anspielte, war noch eine gelinde Strafe.

Jetzt hatte er das Gedrohte ausgeführt. Nicht, wie erwartet, bei Ewald, sondern bei Rudolf. So war es gestern gemeint gewesen, als er sie vor die Wahl stellte, sich entweder mit ihm einzulassen oder sich auf »Enthüllungen« gefaßt zumachen. Bei Ewald – das wußte Neubauer! – war es nur mit dem klaren Beweis getan. Bei Rudolf genügte ein Wort, eine Andeutung, der bloße Verdacht. Die Leidenschaft junger Leute! Im Grunde beruhte sie auch nur in der Eitelkeit, der Selbstbespiegelung. Ein Windhauch genügte, um mit dem eigenen Bild das des andern zu trüben. Reife Männer wie Ewald, wie Brandstädter, waren Felsen dagegen. Man konnte auf sie bauen.

Brandstädter hatte sich bis auf wenige Schritte genähert. Ein warmes Gefühl für den Freund, den Führer ihrer frühen Tage – ja, warum es sich nicht eingestehen? – für den einstmals Geliebten durchrann wie ein Trunk alten Weins die in Sinnen Stehengebliebene. Wenn alle von ihr abfielen, selbst Ewald seine Hand von ihr abzöge: Brandstädter hielte fest. Er kannte das Leben, die Liebe, das Frauenherz. Er wußte, daß manche Kammern in diesem Herzen sind, und daß man oft nur aus Schwäche, Mitleid, Nachgiebigkeit, nicht aus besonderer Passion, die Wünsche der Männer erfüllt.

»Was hast du in deinem Gesicht?« rief sie Brandstädter entgegen, indem sie ihn scharf ins Auge faßte. »Alle laufen herum, als ob sie vom Begräbnis kämen, und du siehst ordentlich verklärt aus! Um zehn Jahre verjüngt siehst du aus!«

»Also etwa wie damals, als sich unsere Wege zum erstenmal kreuzten,« entgegnete Brandstädter, der mit den Händen auf dem Rücken stehengeblieben war. »Bei Sorgius im Atelier.«

Nina war ein wenig errötet.

»Ich weiß nicht, wie du gerade damals ausgesehen hast. Ich glaube, ich habe dir kaum ins Gesicht geschaut.«

Brandstädter lachte kurz auf.

»Und doch hast du bemerken können, daß ich die Angewohnheit habe, manchmal das Weiße im Auge zu zeigen.«

»Unsinn! Wer sagt dir das?«

»Du selbst, mein Schatz. Am ersten Morgen meines Hierseins.«

Nina wußte nicht wie es kam. Dieses lästige Rotwerden plagte sie heute wieder besonders arg.

»Erzähle lieber, was dich so verändert hat,« sagte sie. »Setze dich hier zu mir auf die Bank, so daß wir den See vor Augen haben.«

»Mit dem Rücken gegen das Schloß,« bemerkte Brandstädter und folgte ihr zu der nahen Bank.

Sie nickte und setzte sich.

»Ja! Ich mag nicht in die Bäume sehen. Ich habe es drei Jahre lang gehabt. Man braucht mal eine Abwechslung. Es ist ja auch heute mein Geburtstag.«

»Ich hatte es beinahe vergessen. Was soll ich dir wünschen?«

»Es ist nicht so wichtig. Das Unglück mit Borsdorff hat einen Strich durch alles gemacht. Es sollte ja das große Waldfest sein. Mir ist es gleich. Ich glaube, von der einstigen Nina ist kein Stäubchen mehr übrig. Dietramsried hat seine Pflicht getan.«

»Deshalb kehrst du ihm den Rücken?«

»Wer das könnte!« murmelte Nina wie selbstvergessen. »Ich glaube, mir fehlt die Kraft dazu.«

»Du tust es ja in diesem Augenblick,« erwiderte Brandstädter mit anspielender Geste.

Nina sah ihn verwundert an. Plötzlich begriff sie und lächelte schwach:

»Ja so! Es ist leider nur äußerlich und nur für den Moment.«

Brandstädter, der ein wenig zusammengesunken dasaß, richtete sich auf.

»Es ist ein Gleichnis für das, was in deiner Seele vorgeht. Es ist der Anfang des neuen Weges, den du heute betrittst.«

Sein Ton klang heller als sonst und merkwürdig fest. Aber was er sagte, war dunkel. Nina sah ihn unsicher von der Seite an.

»Wie meinst du das?«

Brandstädter lehnte sich zurück und kreuzte die Arme.

»Du fragtest mich, was das ist, das du in meinem Gesicht zu sehen glaubst? Was mich so verändert habe?«

»Nun? Und?«

»Es ist das, was euch allen hier den Strich durch die Rechnung gemacht hat. Eben das hat mir Licht auf den Weg geworfen. Der Abglanz davon steht vielleicht in meinen Augen.«

»Doch nicht die Geschichte vor der Waldschenke?«

Nina blickte scheu auf ihren Nachbarn, der im Zwielicht der beginnenden Dämmerung wie ein grauer Schatten neben ihr zu sitzen schien.

Brandstädter nickte.

»Die Geschichte vor der Waldschenke! Borsdorffs Tat! Dieser Bankrotteur hat mir gezeigt, was ich zu tun und was ich zu lassen habe.«

»Du willst doch nicht etwa auch...?« rief Nina erschrocken.

»Und wenn ich es vorgehabt hätte...?« sagte Brandstädter halblaut, indem er seinen Kopf zu ihr beugte.

Sie fühlte seinen heißen Atem ganz nahe an ihren Wangen. Eine plötzliche Schwäche überkam sie, als müsse sie mit ihrem Kopf auf seine Schulter sinken.

»Es war meinetwegen...?« flüsterte sie.

»Vielleicht warst du mir nur ein Gleichnis,« murmelte er vor sich hin. »Vielleicht nahm alles, was ich litt, nur deinen Namen an.«

»Du sollst nicht mehr leiden,« flüsterte sie von neuem. »Meinetwegen nicht mehr.«

Brandstädter war taumelnd aufgesprungen.

»Nina!... Galathea!... Du Weib der Weiber!«

Er preßte ihre beiden Arme, daß sie beinahe aufgeschrien hätte. Aber es tat ihr wohl, wie etwas was sie vor sich selbst entschuldigte, wovor es kein Entrinnen gab. Mit einem schwachen Seufzer sank sie in seine Arme.

Nach einer Weile flüsterte Brandstädter:

»Gestern sagtest du, du liebst mich nicht?«

»Ich weiß nicht, ob ich dich liebe,« erwiderte Nina, noch immer in seinen Armen. »Was wissen wir denn von uns? Ich weiß nur, ich hätte es nicht ertragen, wenn du um meinetwillen...«

Ein leiser Schauer überlief sie. Sie drückte sich fester an ihn.

Brandstädter hatte den Kopf erhoben.

»Ich bin kein Abenteurer, wie Borsdorff,« sagte er. »Kein bankrotter Lebensspieler, der am Ende die Karten auf den Tisch wirft. Wenn ich es täte, müßte es wie ein Sieg wirken und nicht wie eine Flucht. Wie eine Fanfare und nicht wie ein Rückzugssignal. Ich bin noch nicht so weit. Vielleicht kommt es noch mal... Aber es einem Borsdorff gleichtun...?«

Er schüttelte abwehrend den Kopf

Nina hatte ihre Arme um seinen Hals geschlungen.

»Nein! Nicht wahr? Du bist zu groß für so etwas Kleines. Du mußt leben!«

Brandstädter sah überrascht auf.

»So ähnlich hat heute oder gestern schon jemand zu mir gesprochen.«

Nina senkte den Kopf.

»Sophie! Sie liebt dich. Ich weiß es.«

Brandstädter antwortete nicht darauf. Er schien mit etwas zu ringen. Nach einer Pause begann er von neuem:

»Nennst du es klein, wenn jemand sich selbst den Augenblick bestimmt? Es dürfte eben nicht klein sein. Es müßte groß sein. Es müßte um einer Idee willen geschehen. Die Sache, die einer vertreten hat, sein Werk müßte siegen, indem der Schöpfer zugrunde geht. Es müßte wie ein Opfer sein, das man seinem Werk bringt.«

Er stand einen Augenblick, noch immer wie ringend. Dann fuhr er fort:

»Aber auch Kleist ging nicht allein. Er brauchte eine, die mit ihm ging. Eine, die mit ihm in den Kahn stieg.«

Er schwieg von neuem. Plötzlich senkte er seinen Kopf zu Nina hinunter und flüsterte:

»Ich hätte es getan, wenn du mich begleitet hättest. Ich tue es noch jetzt.«

Nina zitterte leise.

»Also doch wie Borsdorff?«

Brandstädter neigte sich tiefer zu ihr hinunter.

»Freiwillig, meine kleine Nina! Freiwillig müßte es geschehen. Nicht wie der Metzger mit seinem Schlachttier. Darin läge der Unterschied zwischen Borsdorff und Friedrich Brandstädter.«

Nina fühlte seine dunklen Augen bis in ihre Seele dringen und schloß überwältigt die Lider.

»Was brauchst du noch zu sterben?« flüsterte sie. »Du sollst ja nicht mehr leiden. Du hast mich besiegt. Ich tue was du willst.«

»Und Ewald?«

Nina preßte die Lippen aufeinander.

»Vielleicht sucht er sich einen andern Farbenfleck.«

»Und Rudolf?«

Sie ließ die Arme sinken.

»Rudolf ist fort.«

»Fort?«

»Frage nicht! Das Leben ist närrisch. Jetzt hast du, was du haben willst.«

Brandtstädter sah sie lange an.

»Glaubst du nun, daß wir wieder dort stehen?«

Sie schaute fragend zu ihm auf.

»Bei Sorgius im Atelier, wie vor zehn Jahren. Der Ring hat sich geschlossen.«

Nina nickte vor sich hin und murmelte:

»Ob Sorgius mich wohl noch einmal als Jo malen würde?«

Die Dämmerung war tiefer hereingesunken. See und Ufer verschwammen im Grau. Es fing leise an zu tröpfeln. Brandstädter und Nina gingen langsam nebeneinander zum Herrenhause, in dessen Fenstern die Lichter des Abends zu brennen begannen.


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