Max Halbe
Jo
Max Halbe

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Schloß Dietramsried war um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert erbaut worden. Es bestand aus einem breiten Mitteltrakt und zwei schmaleren pavillonartigen Seitenflügeln, einem späteren Anbau und Abschluß des ursprünglich mehr landhausmäßigen Gebäudes. Bis tief ins achtzehnte Jahrhundert hinein hatte das Herrengeschlecht, das hier ansässig war, die aus der Vorzeit stammende Ritterburg dicht am See bewohnt. Erst nach dem Brand von 1773, der von der Burg nur die heute noch stehende Ruine übrig gelassen, hatte man, vielleicht weil die Ruine neu aufgebaut werden sollte, weiter oberhalb im Park einen Notbau in einfacheren Verhältnissen errichtet. Vermutlich aus Geldmangel hatten die Besitzer dann auf den Wiederaufbau der schon mit Efeu sich umspinnenden Ruine verzichtet, und man hatte angefangen, sich den Ersatzbau wohnlicher und herrenmäßiger herzurichten. So waren die beiden Flügel, die Freitreppe und der Vorbau mit den vier jonischen Säulen entstanden, die die breite ungedeckte Terrasse des oberen Stocks trugen. So der schloßartige Ausbau des Mitteltrakts mit seinen Rundbogenfenstern über der Terrasse und dem sie bekrönenden dreieckigen Giebelarchitrav. Die beiden das Schloß flankierenden Giebelstümpfe wurden überragt

von der dem Mitteltrakt aufgesetzten Dachhaube, aus der sich gegen Westen der niedrige Kuppelturm eines kleinen Observatoriums erhob. Der Anstrich des Gebäudes war ein helles Chamois. Das steile hohe Dach darüber mit seinem ruhigen tiefdunklen Ziegelrot wirkte wie eine ernste und nachdenkliche Stirn über einem weichen und genießerischen Gesicht.

So war das breithingestreckte zweistöckige Gebäude mit dem kleinen türkisblauen Fischteich vor seiner Front und der grünen Umrahmung bejahrter Tannen und Linden ein anmutiges Mittelding zwischen einem vornehmen alten Landhaus und einem burgartigen Schloß und versinnbildlichte damit auch äußerlich den ungefähren Verlauf seiner Geschichte.

Die Grafen von Serbelloni waren im siebzehnten Jahrhundert als ein Ableger des großen und berühmten Geschlechts mit der savoyischen Prinzessin Adelaide, der späteren Kurfürstin, über die Alpen gekommen und hatten zum Dank für besondere Hofdienste das gerade erledigte Ritterlehen Dietramsried erhalten. Ein Serbelloni war es, der bald nachher Burg Dietramsried zum Schauplatz seiner wilden und blutigen Liebesabenteuer gemacht hatte.

Die Erinnerung an sein kurz und tragisch verbraustes Don-Juan-Leben leuchtete wie mit fahlem Rot über dem Horizont der nachgekommenen Geschlechter und war bis zur heutigen Stunde in der Seegegend noch nicht ganz verblaßt. Allerlei Spukgespinste krochen aus seinen Tagen her um das alte Gemäuer der Burgruine, flatterten in der Dämmerung bleicher Herbstabende am Seegestade hin und zerflossen

mit den weißen Nebelschwaden über der verschlafen glucksenden Flut.

Später war die Lebenskraft der Familie rasch zur Neige gegangen, wie zur Strafe für das heiße besinnungslose Verschwenderdasein jenes dämonischen Wildlings, und zur Zeit des großen Brandes, der den Hauptteil der Burg in Asche legte, hatten hochansehnliche aber verarmte Würdenträger und fromme ältliche Damen ein musterhaftes und unantastbares Landleben in Dietramsried geführt, als wollten sie den ruhelosen Geist ihres wüsten Vorfahren, des Gasparo Serbelloni, durch ihre guten Werke nach Möglichkeit entsühnen. In ihren friedfertigen Lebenstag war nach dem Brand der Burg auch die Errichtung des Notbaues im Park und seine langsame Erweiterung gefallen, bis dann mit ihrem Nachkommen, dem Grafen Ferdinand Serbelloni, dem bekannten Staatsmann, durch Heirat, Erbschaft und glückliche Finanzgeschäfte eine glänzende Spätblüte des Geschlechts eintrat. Ihm verdankte das Herrenhaus seinen jetzigen Umfang und schloßartigen Ausbau, auch den italianisierenden Stil der Mittelfassade und die innere Einrichtung der Säle und Zimmer, in denen der prachtliebende Mann eine reiche Geselligkeit entfaltet hatte.

Graf Ferdinand war als Minister und geschichtliche Persönlichkeit in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gestorben. Mit ihm ging der deutsche Ableger des Geschlechts der Serbelloni ruhmvoll zu Ende. Schloß Dietramsried, dessen Eigenschaft als Kronlehen damals aufgehoben wurde, war durch Erbschaft an bürgerliche Verwandte weiblicherseits gelangt

und hatte in der Folge ziemlich rasch den Besitzer gewechselt. Bürgerliche und adlige Herren hatten sich aus der historischen Stätte abgelöst, die langsam wieder in den Schlaf des Alltags zurücksank. Ein Stück nach dem andern aus des Grafen Ferdinand kostbaren Sammlungen war in die weite Welt hinausgewandert.

Fast den letzten Rest alter Pracht und Herrlichkeit hatte der vorige Besitzer, ein junger Verschwender aus der Großfinanz, verschlendert, dem es die Erinnerung an jenen Gasparo Serbelloni angetan zu haben schien. Er war bei einem ziemlich alltäglichen Liebeshandel, wie man sagte, verunglückt. Aus dessen verschuldetem Nachlaß hatte Hans Lebrecht von Ewald, der von seinen Seehausener Sommertagen die Gegend kannte, das Schloß erworben, es mit aller Schonung des noch vorhandenen Empiregeschmacks neu ausgestattet und schließlich Nina Wagner von den Brettern der »Dionysien« hierher verpflanzt.

Die Wohnräume der Familie lagen zu ebener Erde in den beiden Seitenflügeln, die vorne nur eine schmale Front hatten, sich nach rückwärts aber in einiger Tiefe erstreckten. Den nördlichen Flügel bewohnten Nina und Ewald, den südlichen Frau Bartholdy mit ihrem Sohn. Im Mitteltrakt lagen das Bibliothekszimmer des Hausherrn und die gemeinsamen Räume der Hausbewohner, Speisezimmer, Diele und der durch beide Stockwerke reichende Wintergarten. Über der Diele befand sich im oberen Stock der große Empiresaal mit den hohen Rundbogenfenstern, von dem man vorne auf die geräumige, blumengeschmückte Terrasse hinaustrat, rückwärts über eine Galerie in den Wintergarten hinabsah.

Diese Galerie stellte zugleich den Verbindungsgang zwischen den beiden Flügeln des oberen Stocks her, die die zahlreichen Fremdenzimmer des Schlosses enthielten. Aus dem Wintergarten ging es über die rückwärtige Freitreppe in den hinter dem Schloß gelegenen Blumengarten und weiter hinauf zu den Tennisplätzen. Stallungen, Wirtschaftsgebäude, Obst- und Gemüsegarten waren seitwärts davon, ebenfalls oberhalb des Schlosses, angelegt und wurden in großem Bogen von dem reißenden Bach umflossen, der den Park seiner ganzen Lange nach durcheilte und jenseits des Schlosses sein graugrünes Wasser in den See ergoß.

Frau Sophie Bartholdy und Nina von Ewald saßen an einem der nächsten Spätnachmittage im Wintergarten des Schlosses, Nina mit einem Buch in der Hand, Frau Bartholdy mit einer Stickerei beschäftigt. Die Schiebetüren des Wintergartens waren weit geöffnet. Der kleine Springbrunnen inmitten des großen bis unter das Glasdach hinaufreichenden Raumes rischelte und plätscherte mit unermüdlicher Gleichförmigkeit, bald ein wenig höher aufsteigend, bald etwas tiefer sich senkend, jetzt wie ein Schleier sich breitend, jetzt von einem Luftzug zur Seite geweht. Fette Schlinggewächse spreizten sich über den Rand des rotgeäderten Marmorbeckens und griffen mit ihren jungen Ranken wie mit dünnen Fingerchen in die Luft. Feuchte Kühle prickelte vom Springbrunnen her durch den hohen Raum, in dem jetzt nur die älteren Palmbäume und Araukarien ihre fremdartigen Kronen fast bis unters Dach erhoben, während alle die Kübel und Töpfe mit dem jungen Pflanzenvolk, die Agaven, Oleander, Azaleen, Kamelien, Phönix, Magnolien draußen im Garten eingegraben waren. Eine feingliedrige Flora mit einem dünnen Schleier um die gutgewölbten Hüften stand in einer Nische von Blattpflanzen und hielt einen Korb im Arm, aus dem sie sich anschickte, mit schmalen spitzen Fingern Blumen zu streuen. Rechts und links von der Nische, hinter der sich die Flügeltür zur großen Vorderdiele erstreckte, trugen zwei hohe jonische Säulen aus rotem Untersberger Marmor die im oberen Stock entlanglaufende Verbindungsgalerie zwischen den beiden Seitenflügeln, die zugleich den rückwärtigen Abschluß des großen Empiresaals bildete. Treppenstufen führten von den beiden Enden der Galerie in den Wintergarten hinunter.

An den Spätnachmittagen im Sommer pflegte dieser Raum der Hauptsammelplatz der Familie zu sein – falls nicht Ausflüge gemacht wurden –, denn die Sonne hatte ihn um diese Zeit bereits verlassen und vom Garten her flossen mit der Kühlung des unfernen Waldes die Düfte der Rosen-, Nelken- und Levkoienbeete herein.

Die beiden Frauen hatten lange geschwiegen, indes das dünne Plätschern und Rieseln des Springbrunnens weiterschläferte. Jetzt ließ Sophie ihre Stickerei in den Schoß sinken und lehnte sich nachdenklich in den Korbsessel zurück. Sie war eine Frau in den Vierzigern, aber man hätte sie für eine junge Dreißigerin halten können, trotz einzelner grauer Fäden im rötlich kastanienbraunen Haar, die wie Nebelreif an einem leuchtenden Augustmorgen das erste Nahen des Herbstes ahnen ließen. Ihr Gesicht hatte ein edles Oval, die Farben waren sehr rein und zart, aber nichts weniger als kränklich, vielmehr von jenem weichen rosa Hauch, der die feinste Blüte der Gesundheit scheint. Ihre Augen waren tiefbraun und groß und mochten in der Jugend von bestrickendem Glanz gewesen sein. Zärtlichkeit und Güte wohnten noch heute dann. Die dunkeln Brauen waren schön geschwungen und ziemlich kräftig. Hier zeigte sich die Ähnlichkeit mit Rudolf besonders deutlich, während nichts in ihrem Gesicht an ihren Bruder erinnerte. Schon in ihrer Kindheit hatte man von den beiden Geschwistern gesagt, daß Hans Lebrecht der Sohn seines Vaters, Sophie die Tochter ihrer Mutter sei, und alle Teile hatten hierin eine sehr umsichtige Anordnung der Natur gefunden. Ja, es war, als habe das Fehlen jeder äußern Ähnlichkeit eben die innere Gemeinschaft verstärkt, die von Jugend an zwischen den beiden bestand, und es läge hier mehr eine Wahlverwandtschaft der Seelen als eine Zufallsbeziehung des Blutes vor. In einzelnen Zügen der Gesichter war sogar ein vollkommener Gegensatz festzustellen. Sophie hatte ein kräftiges und energisches, übrigens sehr schön geformtes Kinn, Hans Lebrecht besaß sozusagen gar kein Kinn. Seine Lippen waren voll, von sinnlich genießerischer Art. Sophiens Mund war nicht allzu klein und hatte etwas Entschlossenes. Die Nase des Bruders war lang und spitz, die Schwester hatte eine zierliche Stumpfnase, die von jeher als besonders hübsch gegolten hatte. Hans Lebrecht war blond und hager, Sophie brünett und, nach einer schlanken Jugend, jetzt in reiferen Jahren von ebenmäßiger, fraulicher Fülle bei einer mittelgroßen Figur.

Die beiden Frauen, die im kühlenden Atem des Springbrunnens einander gegenüber saßen, waren mit eleganter Einfachheit angezogen. Sophie trug ein weißes Linonkleid mit einem Stuartkragen aus Venezianer Spitzen und Teerosen im gleichfarbigen Gürtel. Ihr braunes Haar war an der Seite gescheitelt und fiel leicht gewellt in die reine heitere Stirn. Der spitze Ausschnitt zeigte den weißen und jugendlichen Hals.

Nina war in einem grünrosa schillernden Taftkleid, dessen spinnwebdünne Spitzenbluse den warmen Fleischton von Nacken und Armen gefällig preisgab. In dem tiefen Ausschnitt, der den Ansatz des vollen Busens sehr weit frei ließ, steckte ein Strauß blauer Kornblumen und wiegte sich verliebt in den beiden weißen Kissen, die sich rhythmisch hoben und senkten. Die Frisur war hoch aufgesteckt und gab dem schmalen Gesicht mit der griechisch geschnittenen Nase einen zeitfremden Rokokocharakter. Das Spätnachmittagslicht, das durch die breite Tür und die halboffenen Dachfenster hereinquoll, flocht einen hellen Schimmer gleich einem goldenen Reif in das aschblonde Haar und zeichnete wie mit einem Farbstift die Linien der dunklen Brauen und der roten Lippen in dem fast kränklich blassen Gesicht. Die graublauen Augen waren aufmerksam in das Buch geheftet, von dem sich Seite nach Seite abspulte, und schweiften nur manchmal, wie von einer geheimen Kraft abgelenkt, über den Buchrand hinweg ins Weite.

Sophie hatte, ihre Stickerei im Schoß, Nina schon eine Zeitlang beobachtet, ohne daß diese es zu merken schien. Jetzt beugte sie sich etwas vor und sagte mit einem Augenaufschlag, der ihre Züge aufs anmutigste belebte:

»Der Roman scheint interessant. Was ist es denn?«

»Die Leidenschaft eines reifen Mannes, eines Patriziers, für eine junge Schauspielerin oder Sängerin,« erwiderte Nina und suchte nach einer bequemeren Stellung in ihrem Liegestuhl. »Es kommen eigentlich nur die beiden Menschen vor, er und sie. Merkwürdig für einen so dicken Roman! Nicht?«

Sie hatte den beleibten Band neben sich auf die Mosaikfliesen gleiten lassen und verschränkte die Hände unter dem Kopf, so daß die schleierleichten Ärmel der Bluse hoch hinauf, fast bis zu den Achseln, zurückfielen und die nackten schlanken Arme freigaben.

»Heiratet er sie?« fragte Sophie mit einem leise mokanten Ton, der noch am ersten an ihren Bruder erinnern mochte.

Nina schüttelte versonnen den Kopf.

»Ich glaube nicht. Es nimmt einen tragischen Verlauf.«

Sophie nickte zustimmend.

»Das ist ja eigentlich bei dem Verfasser selbstverständlich. Fast alle seine Sachen enden tragisch. Außer den humoristischen natürlich. Aber mit denen geht es fast noch tragischer, wenigstens für den Dichter. Es will sie nämlich niemand humoristisch nehmen.«

Sie lächelte ein wenig und fuhr fort:

»Man sollte nicht so boshaft sein. Aber es liegt an den Dichtern. Warum machen sie solche Dinge, die sie nicht können!«

»Oder die das Publikum nicht versteht,« warf Nina ein.

»Ei wie spitz! Man erkennt ja unsere sanftmütige Nina gar nicht wieder.«

»Sanftmütig?« wiederholte Nina und lachte kurz auf. »Sage lieber: Phlegmatisch! So weit hat es Dietramsried schon gebracht.«

»Um so belebender scheint der Einfluß des Buches und des Dichters zu sein,« meinte Sophie mit einem schwachen Lächeln. »Also wie wird es mit der Geschichte? Will er sie nicht oder sie ihn nicht?«

»Es wird wohl so kommen, daß er ihr einen Heiratsantrag macht und daß sie ihn nicht will.«

»Und er ist Patrizier und reich?«

»Ja. Geld wie Heu. Ein Haus in der Stadt. Ein Landhaus an der See. In beiden spukt es.«

»Das gehört zum Komfort.«

»Pferde und Wagen. Die Geschichte spielt vor fünfzig Jahren. Sonst wären wohl auch Autos dabei.«

»Und sie eine junge Schauspielerin und lehnt seinen Antrag ab?... Kind! Kind! Das ist ja gegen alle Natur und gegen alle Wahrheit. Wir wissen doch, daß es anders im Leben geht.«

Ninas bleiches Gesicht überflog eine schwache Röte. Sie tastete mit ihren schmalen Fingern nach dem Romanband, der neben ihr auf den Mosaikfliesen lag, und blätterte nachlässig darin.

»Es sind noch über hundert Seiten. Ich vermute nur, daß es so kommt. Die Heldin ist ein fabelhaftes Talent. Sie wird ganz plötzlich entdeckt, hat eine großartige Laufbahn vor sich. Vielleicht ist das der Unterschied. Die Schicksale sind nicht immer gleich. Der eine endet so, der andere so.«

»Wohl eine ganz gefährliche Dame, deine Heldin?«

Nina wiegte ein wenig den Kopf.

»Ich weiß nicht, wer in dem Buch gefährlicher ist, er oder sie. Mir scheint, wenn zwei solche Menschen zusammenkommen...«

»Der reife Mann und das junge Weib, der Patrizier und die Schauspielerin?«

»Ja. Und dabei solche Naturen wie die beiden... dann muß es so ausgehen, ganz gleich, ob er ein Patrizier ist und sie eine Schauspielerin oder irgend etwas anderes.«

»Eine unverstandene Schloßfrau zum Beispiel.«

Sophie hatte ihre Bemerkung nur so hingeworfen. Ein flüchtiger Seitenblick streifte das Gesicht der Schwägerin, aber keine Miene zuckte darin. Nur eine leise Blutwelle schien von dem blonden Nacken aufzusteigen. Nina fühlte ihre Ohren heiß werden und warf den Kopf zurück.

»Das ist dann eben Schicksal. Es steht halt in den Sternen geschrieben. Von den beiden Menschen hier hat eigentlich keiner schuld. Der Heldin prophezeit es ja auch die Kartenlegerin, daß sie mit Einundzwanzig aus ist.«

»Und trifft es ein?«

Nina sann einen Augenblick nach.

»Eigentlich nicht. Wo ich jetzt bin, ist sie schon älter als Einundzwanzig. Es braucht ja nicht immer auf die Stunde zu stimmen.«

Sophie lächelte wieder.

»Ein Glück, daß wir beide über das kritische Alter deiner Heldin hinaus sind!«

Nina schwieg und betrachtete ihre geöffnete linke Hand. Dann sagte sie leichthin:

»Aus meinen Linien soll ja auch so etwas zu lesen sein.«

»Wer behauptet das?«

»Barbara Frantzius. Oh! die hat schon viel vorausgesagt. Ich glaube an ihre Prophezeiungen. Man hat Beweise.«

Sophies reine Stirn hatte sich verdüstert.

»Meine liebe Nina! Hüte dich vor solchen Grillen. Mir scheint, das dauernde Landleben bekommt dir nicht. Hans Lebrecht soll mal mit dir auf Reisen gehen. Vielleicht wäre das für alle Teile das beste.«

Sie griff unmutig nach ihrer Stickerei, machte zerstreut ein paar Stiche und ließ die Arbeit wieder sinken.

»Die gute Frantzius sollte lieber vor ihrer eigenen Tür fegen!... Ihre Geschichte mit Herrn von Borsdorff...! Neugierig bin ich auch auf das Experiment mit der ,Jo'. Darüber prophezeit sie wohl nichts?«

Nina zuckte mit den Achseln. »Doch! Sie ist überzeugt, daß es ein großer Erfolg wird.«

»Das sind mir schon die richtigen Propheten, die sich in die eigene Tasche lügen,« erwiderte Sophie, deren Unmut, einmal geweckt, wie ein aus dem Schlaf gestörtes Kind, sich nicht so schnell zu beruhigen pflegte.

Sie musterte Nina mit ihrem Lorgnon, das sie dann und wann gebrauchte, da sie ziemlich kurzsichtig war, und schüttelte den Kopf.

»Du siehst übernatürlich bleich aus in den letzten Tagen... Also in Gottes Namen, was hat sie in deiner Hand gefunden?«

Nina warf wieder einen Blick in ihre flache Hand und sagte:

»Eine sehr kurze Lebenslinie. Auch kein gutes Ende.«

Sophie schnappte ärgerlich die Gläser ihres Lorgnons auseinander.

»Du wirst am Ende noch jemanden umbringen?«

»Oder vielleicht umgebracht werden. Ich soll keines natürlichen Todes sterben, behauptet die Frantzius.«

»Die dumme Pute!«

Sophie ließ heftig ihr Lorgnon in den Schoß fallen und griff nach Ninas linker Hand.

»Zeig mal her!«

Sie versuchte, sich in dem dunklen Netz dieser Linien zurechtzufinden, deren jede etwas bedeuten sollte, und deren scheinbar planloses Gewirr wie ein mikroskopisches Abbild der rätselhaften Verschlungenheit unsres Schicksals war, aber es zerfloß ihr alles vor den Augen und sie gab den Versuch auf.

»Wehe, wenn mir die Frantzius unter die Augen kommt! Solche Menschen, die andern das Leben vergiften, sollte man an den Beinen aufhängen.«

Beide Frauen schwiegen ein paar Augenblicke. Dann sagte die jüngere, indem sie ihren Kopf ein wenig erhob und die ältere von der Seite her scharf ins Auge faßte:

»Ich habe dich schon lange etwas fragen wollen, aber finde es recht sonderbar.«

»Na, was denn, du merkwürdiges Geschöpf?«

»Fürchtest du dich vor dem Tode? Aber ganz aufrichtig! Hast du Angst davor?«

Frau Bartholdy ließ erstaunt ihre Hand sinken.

»Was soll ich dir antworten? Ich fürchte mich nicht vor dem Tode, weil ich nicht an ihn denke. Ich lasse den Gedanken gar nicht an mich herankommen.«

»Wenn man das nur könnte!« rief Nina wie aus tiefstem Herzensgründe. »Ich denke täglich an den Tod. Ich gehe mit ihm schlafen. Ich stehe mit ihm auf.«

Sophie brach in ein unwillkürliches Lachen aus.

»Nur nicht übertreiben, mein Schatz! Ich nehme an, du hast manchmal auch nettere Gesellschaft.«

Nina mußte mitlachen und fühlte unter Sophies Blicken wieder dieses Erröten, das ihr so lästig war.

»Na, stehst du, mein Kind!« sagte Frau Bartholdy mit einem etwas anzüglichen Ton. »Jetzt bekommst du doch wieder Farbe. Nein, der Tod ist nichts für den täglichen Verkehr. Gott bewahre mich! Für mich ist das Leben wie ein wundervolles Buch. Ich lese es langsam Seite für Seite durch. Das letzte Blatt, da wo Ende steht, das ist der Tod. Aber damit lasse ich mir Zeit. Es fällt mir nicht ein, vorher nachzublättern, wie es ausgeht. Wozu soll man sich die Spannung rauben lassen!«

»Ach, und ich,« fiel Nina mit einem halb komischen Seufzer ein, »ich kann kein Buch in die Hand bekommen, ohne zuerst das Ende aufzuschlagen!«

Sophie sann etwas nach, dann meinte sie:

»Der Tod wird ganz anders sein, als man ihn sich denkt, viel einfacher, viel menschlicher sozusagen. Nicht das Schreckgespenst, das unsere Angst daraus macht.«

Nina hatte mit lebhaften Gebärden zugestimmt.

»Ja, nicht wahr, nicht wahr?« rief sie jetzt aus. »Das Sterben kann nicht so furchtbar sein, wie es scheint. Denn es haben doch alle Menschen, die einmal waren, überstanden. Auch die schwächsten. Auch die am meisten verliebt waren in das Leben.«

»Woher kommst du eigentlich auf alle diese Gedanken?« fragte Frau Bartholdy nach einer Pause. »Das war doch nicht immer so?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Nein. Früher war ich anders. Aber das ist lange her. Es kommt doch auch vor, daß eine Uhr entzwei geht.«

Sophie warf einen langen Blick auf sie. Dann sagte sie:

»Wie findest du unseren Freund?«

Nina wandte fragend ihr Gesicht zu Sophie.

»Na ja, Brandstädter! Wer denn sonst! Er war doch dein Freund.«

Nina hatte wieder ihren Roman zur Hand genommen und sagte, indem sie den aufgeschlagenen Band wie schützend vor ihr Gesicht hielt und über den Buchrand hinweg ihre Blicke in die Ferne richtete:

»Doktor Brandstädter war mein Entdecker, wenn ich so sagen darf. Hätte er mich nicht am Walhalla-Theater gefunden, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Man braucht jemanden, der einem den Weg zeigt beim Theater. Es war ein reines Freundschaftsverhältnis zwischen Doktor Brandstädter und mir.«

Frau Bartholdy verzog ein wenig den Mund.

»Etwas anderes habe ich ja auch nicht behauptet. Einen Mann wie Friedrich Brandstädter zum Lehrer zu bekommen, ihn Freund zu nennen, das bedeutet schon was im Leben. Du bist ein Glückskind, meine kleine Nina.«

»Findest du?«

»Dein Leben hat entschieden etwas Märchenhaftes, wenn man sich vorstellt, wie du angefangen hast und wo du jetzt bist.«

Nina preßte die Lippen zusammen und schwieg. Frau Bartholdy sah versonnen vor sich hin. Das dünne Stimmchen des Springbrunnens näselte schlaftrunken weiter. Irgendwoher aus dem Garten flötete eines Amselmännchens verspätete Sehnsucht. Levkoien und Nelken begannen stärker zu duften.

Sophie schien aus ihren Gedanken zu erwachen und blickte zu Nina hinüber.

»Du bist nur eigentlich noch die Antwort schuldig!« »? ? ?«

»Ich bin gar nicht zufrieden mit Brandstädter. Er macht mir einen geradezu verfallenen Eindruck. Was ist deine Ansicht?«'

»Ich finde keinen großen Unterschied gegen früher,« antwortete Nina und spielte mit einem der Ringe an ihrer linken Hand. »Vielleicht etwas gealtert, aber wir werden ja alle nicht jünger.«

Sie sah ihre Schwägerin an und verbesserte sich lächelnd:

»Ausgenommen natürlich dich.«

Diese schüttelte den Kopf.

»Du hast recht. Ich denke nie daran, daß eigentlich ein Menschenleben zwischen unserer Jugend und heute liegt. Es kommt einem vor, als müßte man noch dieselbe sein, wie dazumal.«

»Du bist es ja auch,« bemerkte Nina. »Fabelhaft, wie du dich gehalten hast, wenn ich dich mit Brandstädter vergleiche und mir sage, daß ihr zusammen jung gewesen seid!«

Frau Sophie hatte ein feines Lächeln um die Mundwinkel.

»Man behauptet immer, Frauen können nicht mit demselben Mann befreundet sein, ohne daß sie sich in die Haare geraten. Und hier sitzen zwei ganz friedlich beisammen und tun sich nicht das geringste. Das Leben ist voller Wunder, würde Brandstädter orakeln.«

Nina hatte eine Frage auf den Lippen, aber sie schien zu zögern. Endlich sagte sie wie beiläufig, indem sie gerade vor sich hinsah:

»Du hast einmal sehr für ihn geschwärmt...?«

Sophie warf über ihre Stickerei hinweg der andern einen Blick zu.

»Tröste dich. Es war lange vor deiner Zeit.«

»Warum hast du ihn nicht geheiratet?« fragte Nina wieder nach einer Pause.

Frau Bartholdy schien an einem besonders schwierigen Punkt ihrer Arbeit angelangt. Sie stichelte eifrig in das Muster hinein und verglich die Farben miteinander.

»Ich könnte dich ja auch fragen: Warum nahmst du ihn nicht?«

»Friedrich Brandstädter war kein Mensch zum Heiraten,« antwortete Nina und kreuzte die Arme ineinander. »Außerdem war er ja damals verheiratet.«

Frau Bartholdy konnte sich trotz aller angeborenen Güte nicht enthalten, ihrer Schwägerin einen maliziösen Blick zuzuwerfen.

»Hätte dich das wirklich verhindern können, liebe Nina?«

Nina lachte kurz auf und fächelte sich mit ihrem Romanband Luft zu.

»Ich stehe ja in einem hübschen Licht da... Nein, nein, Brandstädter war kein Mann für die Ehe. Ich hätte mich schön dafür bedankt. Ein Mensch, der die Untreue geradezu zum Prinzip erhoben hat!«

Sophie ließ ihre Stickerei in den Schoß fallen und sah Nina mit großen Augen an.

»Entschuldige! Aber das gerade von dir zu hören...!«

»Warum denn?« erwiderte Nina sehr eifrig und ohne auf die Ironie in Blick und Ton ihrer Schwägerin zu achten. »Bin ich etwa kein Weib? Wir wollen doch alle, daß der Mann uns allein gehört. Ich bleibe dabei, Brandstädter hätte niemals heiraten dürfen. Niemals!«

»Aber mich fragst du, warum ich ihn nicht genommen habe!« warf Frau Bartholdy ein, die sich noch immer nicht von ihrem Erstaunen erholen konnte und die jetzt ganz in sich Versunkene mit einem Ausdruck musterte, als wäre sie soeben von einem fremden Stern heruntergeplatzt.

»Also ich hätte ihn nehmen dürfen, den Mann, der die Untreue zum Prinzip erhoben hatte?«

»Weil du vielleicht die einzige gewesen wärest, die für ihn gepaßt hätte, damals als er jung war,« erwiderte Nina. »Du hättest mit ihm leben können. Du ja! Du hättest das Höchste aus ihm machen können. Du wärest sein guter Genius geworden.« Nina hatte mit einem Ausdruck ehrlicher Bewunderung gesprochen. Ihr blasses Gesicht war wie von einem warmen Licht übergossen. Frau Sophie war sehr ernst geworden. Sie rollte ihre Stickerei zusammen und legte sie auf das niedrige Louis-seize-Tischchen, das links neben ihr stand. Dann wandte sie sich an ihre Nachbarin, indem sie ihre Augenbrauen hochzog:

»Weißt du auch, daß in deinen Worten ein schwerer Vorwurf für mich liegt?... Ich hätte das Höchste aus ihm machen können, sagst du, wenn er mich neben sich gehabt hätte...«

»Ja, davon bin ich überzeugt,« schaltete Nina sehr bestimmt ein.

»Und da er mich eben nicht neben sich gehabt hat, so muß ich nach deiner Vermutung doch schuld sein, wenn er nicht das Höchste erreicht hat.«

Nina zuckte mit den Achseln und schloß die Augen.

»Ach, was wissen wir, wer schuld hat oder nicht in dieser Welt! Das spricht sich alles so leicht... Aber wenn man es lebt, dann ist es schwer. Jeder glaubt, daß er das Richtige tut. Ich weiß ja nicht einmal, an wem es lag. Du wirst wohl deine Gründe gehabt haben...«

»Nein, nein, mein Kind,« fiel Frau Sophie ein, »wenn du recht hättest, dann wäre es schon so, daß ich die Welt um ein Genie gebracht hätte, aus Unverständnis oder Selbstsucht oder vielleicht aus Dummheit ...«

»Brandstädter ist ja nicht zugrunde gegangen,« entgegnete Nina. »Er hat schließlich das seine getan. Sein Name ist berühmt genug, und wenn einmal seine Lebensgeschichte geschrieben wird, dann wird sicher auch von dir darin die Rede sein.«

»Und du?« fragte Sophie mit einem bedeutsamen Blick. »Warum unterschlägst du dich aus seinem Leben mein Schatz?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Ich würde mir nie einbilden, daß ich mich mit einer Frau, wie du bist, messen könnte.«

Sophie hatte ein resigniertes Lächeln um die Lippen.

»Und ich bin überzeugt,« sagte sie, »daß du auf die Männer hundertmal mehr wirkst, als es mir je beschieden war ...«

»Unsinn! Es kann doch keine hübschere und begehrenswertere Frau geben als dich ...«

Flau Bartholdy stand aus ihrem Sessel auf und trat dicht an den Rand des Marmorbeckens, in dem die Melodie des Springbrunnens schläfrig weiterraunte.

»Brandstädter hat nie daran gedacht, mich haben zu wollen, auch wenn ich selbst es gewünscht hätte,« sagte, sie. »Aber daß er dich verloren hat, das kann er noch heute nicht verschmerzen. Das wird er vielleicht niemals verschmerzen. So wenig kannst du dich mit mir messen, meine kleine Nina!«

Nina zuckte mit den Achseln und schwieg. In ihren graublauen Augen hatte es für einen Moment aufleuchten wollen, aber sie beherrschte sich mit aller Kraft und heftete ihre Blicke in das Buch vor sich, wenn auch die Zeilen verschwammen und kein Bild des Gelesenen sich in ihrem Gehirn auftat.

Sophie stand vor ihr und betrachtete sie, indem sie die Hände vor sich gekreuzt hielt.

»Hast du nie davon gehört, daß es zwei ganz verschiedene Arten von Frauen geben soll?« fragte sie.

Nina verneinte schweigend.

»Die einen«, fuhr Sophie fort, »sollen dazu da sein, Gattin und Mutter zu sein. Die andern sollen zur... zur Geliebten geboren sein oder wie man es nennen will...«

»Zu welcher Sorte ich dann gehöre, kann man sich ja denken,« bemerkte Nina und warf mit leisem Spott ihre vollen roten Lippen auf.

Sophie verfolgte ihren Faden, ohne auf die andere zu achten.

»Und was das Merkwürdigste, jede Klasse ist eigentlich ein bißchen neidisch auf die andere und möchte gern so sein wie die und es auch so gut haben in der Welt...«

Über Ninas blonden Nacken ergoß sich plötzlich eine dunkle Röte und schoß hinauf bis in die blassen Wangen.

Frau Bartholdy bemerkte es und fragte verwundert:

»Was hast du? Was fehlt dir?«

»Nichts, nichts!« erwiderte die andere und suchte ihre Verwirrung zu verbergen. »Glaubst du wirklich, daß ich mich so sehr danach sehne... Mutter zu werden?«

»Jede von uns sehnt sich danach, Mutter zu werden,« erklärte Frau Bartholdy mit Entschiedenheit. »Ob es freilich ein Glück für jede ist, wenn sie es wird, das ist eine andere Frage. Da liegt vielleicht der Unterschied zwischen den beiden Klassen von Frauen.«

Nina hatte ihre schmalen Füße übereinander gelegt und sah angelegentlich auf die Spitzen ihrer mausgrauen Schuhe.

»Für mich wäre es demnach wohl kein Glück.«

Der Ton ihrer Stimme hatte etwas Fremdes. Das Blut war aus ihrem Nacken und Gesicht verebbt und hatte wieder jener durchsichtigen Blässe Platz gemacht. Frau Bartholdy stutzte und trat noch einen Schritt näher.

»Nina? Was willst du damit sagen?«

»Du rechnest mich doch zu der entgegengesetzten Art von Frauen wie dich selbst?«

»Ach, man schwatzt manches. Das sind so ausgeklügelte Sachen. Von Männern ausgeklügelt und ausgerechnet. Wie wir Frauen wirklich sind, das geht ja doch in kein männliches Gehirn.«

In ihrer Stimme klang aufrichtiges weibliches Empfinden für das Gefühl der andern.

»Nein, nein,« wehrte diese ab, »du hast vielleicht ganz recht. Du bist die Frau und Mutter, wie sie im Buch steht. So muß man sein, wenn man Kinder haben will. Also tauge ich wahrscheinlich sehr wenig dazu. Nur schade, daß die Natur sich nicht darum kümmert...«

»Nina...?!... Dummes Geschöpf...?!«

»Und auch diejenigen Mutter werden läßt, die es eigentlich nie werden dürften.«

Frau Sophie hatte die Schwägerin einen Augenblick angestarrt und breitete vom Gefühl überwältigt ihre Arme um die Schultern des jungen Weibes. »Nina!... Was erzählst du da?... Seit wann ist das?«...

Nina lehnte ihren Kopf an die Brust der älteren und sah vor sich hin.

»Seit kurzem!... Ich weiß nicht, ob es ist. Aber es scheint so.«

»Weiß es... weiß es Hans Lebrecht schon?« fragte Sophie nach einer Pause.

Nina fuhr wie von einem elektrischen Schlag getroffen auf.

»Sage deinem Bruder kein Wort davon!... Beim Leben deines Sohnes!«

Frau Bartholdy prallte erschrocken zurück.

»Nina?!... Um Gottes willen!... Ich habe es doch geahnt!«

»Mache mir keine Vorwürfe! Ich ertrage es nicht!« rief Nina und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, wie ein unartiges Kind, das sich vor der Schelte fürchtet.

Sophie starrte entgeistert auf die zusammengesunkene Gestalt hinab.

»Großer Gott! Was ist das für ein Unglück!... Wohin soll das führen!«

Plötzlich sprang Nina auf und kreuzte die Arme. Ihr Gesicht hatte einen trotzig kindlichen Ausdruck. So stand sie vor Sophie und sagte:

»Ihr habt leicht die Frauen in zwei Klassen einteilen. Ihr klugen Leute! Auf dem Papier! Aber wenn euch dann wirklich mal ein solches Exemplar begegnet, dann ringt ihr die Hände. Ich bin gerade so gut ein Weib wie ihr andern, die ihr von so was keine Ahnung habt. Ihr braucht euch nicht so sehr zu haben. Ihr seid auch nicht vom Heiligen Geist in die Welt gesetzt.«

Frau Bartholdy sah Nina mit einem langen Blick an. Ihr Zorn, der ihr einen Moment das Blut ins Gesicht getrieben hatte, war gewichen. Es war die Geliebte Rudolfs, die vor ihr stand. Wie eine weite Fernsicht, vor der soeben die Nebel gefallen sind, enthüllte sich ihr Punkt für Punkt dieses Weges, bis dorthin zurück, wo sich seine Anfänge im Dunst verloren. Wie hatte sie nur die Binde vor den Augen haben können, sie, die in der Seele ihres Sohnes zu lesen geglaubt hatte, selbst da, wo er sie verschlossen hielt!

»Du irrst dich, liebe Nina,« sagte sie endlich. »Es ist nicht meine Art, mich über jemanden zu erheben. Ich beklage dich nur. Und ich beklage vor allem meinen armen Bruder.«

»Warum beklagst du nicht auch deinen armen Jungen, daß er sich mit mir eingelassen hat?« rief Nina und krallte die Hände ineinander. »Eigentlich müßt ihr euch wundern, daß überhaupt die Sonne auf mich scheint, ihr Tugendhelden! Warum kommt nicht ein Blitz und erschlägt mich?«

Frau Sophie schüttelte den Kopf und unterdrückte ein schwaches Lächeln. Sie kannte diese Art von Schuldbewußtsein, die sich zu helfen sucht, indem sie die Anklage des andern übertreibt und sich dadurch zum Märtyrer macht. Es war Kinderart so. Und wie ein Kind, ein naiv verdorbenes und doch im Grunde gutartiges Kind, war dieses junge, bleiche, sinnliche Weib, um das die Leidenschaft des Bruders, des Sohnes, des Freundes loderte. Ja! Merkwürdig! Gerade die drei Männer, um die sich ihr Leben rankte, Freund, Bruder, Sohn: sie alle drei waren in den Dunstkreis dieser kleinen blonden Hexe geraten und taumelten, wie die trunkenen Nachtvögel an schwülen Sommerabenden um die weiße schwirrende Ampel droben. Jeder von ihnen gehörte ihr nach dem Recht der Natur oder des Schicksals zu und jeden stahl ihr diese andere, die so viel geringer war an Geist und Seele und dennoch so viel mehr Zauberkraft über die Männer besaß, sie verhexte und nach ihrer Pfeife tanzen ließ. Wie kam das nur? Was war das für eine Ungerechtigkeit? Mußte sie dieses Wesen nicht hassen, das in ihr stilles Fleckchen Erde einbrach und Unglück über sie alle brachte?

Sie sah von neuem auf das schöne blonde Geschöpf, dessen feine blasse Züge ihr nie so rein und mädchenhaft erschienen waren wie in diesem Augenblick, da das Bewußtsein der eigenen unentrinnbaren Anlage und Bestimmung daraus sprach. Wie ein tragischer Schatten schien sich die Erkenntnis dessen, was sie war und mit Notwendigkeit zu sein hatte, in der düstern trotzigen Linie abzuspiegeln, die auf der sonst so klaren Stirn steil zwischen den dunklen Brauen geschrieben stand. Nein, man konnte sie nicht hassen. Man konnte nur Mitleid mit ihr haben. Rudolfs Geliebte, die Mutter werden sollte! Es war fast wie ein Schein von Reinheit, was sie bei diesem Gedanken um Ninas blonden Scheitel leuchten sah.

»Mein Kind!« sagte sie und legte ihre mütterliche Hand auf das sündige Haupt der andern. »Rege dich jetzt nicht auf. Du dichtest mir Dinge an, die du selbst nicht glaubst. Es liegt mir ganz fern, Moral zu predigen. Ich weiß, daß die Menschen verschieden sind und verschiedene Wege zu gehen haben. Wenn ich du wäre und du ich, vielleicht stünde ich dann umgekehrt so vor dir. Unser wahres Gesicht kennt nur Gott allein.«

Ninas starrer und trotziger Ausdruck war verschwunden.

»Ich hätte nie nach Dietramsried kommen sollen,« murmelte sie vor sich hin. »Ich hätte bleiben sollen, wie ich war.«

»Geh' jetzt und leg' dich vor Tisch noch etwas hin,« drängte Sophie. »Unsere Herren müssen bald von Steinberg zurück sein. Du darfst dich nicht so sehen lassen. Wir werden noch Zeit genug haben zum Aussprechen. Es muß ein Weg gefunden werden.«

Nina hatte den Kopf gesenkt und ein wenig zur Seite gewandt. In dieser Haltung zeigte sich wieder die leise Andeutung eines Stumpfnäschens, die ihr sonst so regelmäßiges, griechisch geschnittenes Profil wie mit einem kleinen schalkhaften Schnörkel versah.

»Du bist gut zu mir,' sagte sie mit einem scheuen Augenaufschlag zu Sophie. »Nicht viele Mütter würden so sein. Ich habe von Anfang an das Gefühl für dich gehabt.«

Sie griff in einer plötzlichen Bewegung nach Sophies Hand und küßte sie, ehe Sophie es hindern konnte.

»Weil du Nachsicht hast, auch wenn eine anders ist als du! Und weil du Rudolfs Mutter bist!«

Sie stand einen Augenblick, als ob sie noch etwas auf dem Herzen hätte, wofür sich aber keine Worte finden ließen, und ging dann mit leicht gesenktem Kopf durch den weiten Raum zu der Tür, die nach ihren Zimmern führte.

Frau Bartholdy sah ihr nach, bis sie verschwunden war. Sollte man sie hassen, sie verachten, weil sie anders war, als das Gesetz der Menschen, dieser Buchstabenglaube, es befahl? Gab es nicht vielleicht noch tausend andere Gesetzessprachen in tausend andern Welten, wo eine wie sie Gerechtigkeit fand?...

Sie lauschte einen Augenblick dem Geriesel und Geplätscher des steigenden, sinkenden Wasserstrahls, der unerschöpflich, unermüdlich von den Geheimnissen der Tiefe zwitscherte, und nickte ihm zu, als ob sie beide sich verstünden.

Draußen schlurften schwerfällige Schritte über den Gartenkies. Die schöne mütterliche Frau trat unter die offene Glastüre und atmete mit Inbrunst den zärtlichen Duft der Levkoien, der mit der Würze der gemähten Wiesen und der Kühlung des Abends zu einer einzigen Woge verschmolz. An einem Beet schwarzer mannshoher Lebensbäume erkannte sie die lange, gebückte Gestalt Sebastians, die Sense über der Schulter, wie er mit der flachen Hand vor den Augen scharf gegen Westen hin spähte. Dort brannte über der finstern Waldmauer, hinter der die Sonne hinabgestiegen war, der Himmel in einem grellen, fast schwefeligen Orangegelb, das die Augen blendete und das wolkenlose Blau des übrigen Himmels zu einem toten Grau erbleichen ließ.

»Wie wird es mit dem Wetter, Sebastian? Wird es sich halten?« rief sie dem Alten über die dämmernden Blumenbeete zu. »Es gibt einen Umschlag,« kam es aus dem Garten. »Die Fliegen haben gestochen. Die Fledermaus fliegt ganz tief. Es kommt ein Umschlag.«

Frau Bartholdy fröstelte es. Ihr war mit einemmal, als sei die Gestalt des Alten zu einem von den schwarzen mannshohen Lebensbäumen in Pyramidenform geworden. Wenigstens unterschied sie keine menschlichen Umrisse mehr. Sie ging raschen Schritts, mit dem ausgreifenden Gang, der ihr eigen war, durch das Stückchen Garten zu ihrem Schloßflügel und rief in eines der offnen Fenster, zu ebener Erde, wo sie ihr Mädchen wußte:

»Tini!... Tini!«

»Hier, gnädige Frau!... Was wünschen gnädige Frau?«

Frau Bartholdy atmete tief auf. Gottlob! Es war eine junge, warme Menschenstimme, die sie antworten hörte. Sie fühlte ihr Herz klopfen. Dann trat sie in ihre dunkelnden Zimmer.


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