Max Halbe
Jo
Max Halbe

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15

Es regnete diese Nacht und den nächsten Tag und die andere Nacht und den folgenden Tag und abermals eine Nacht und einen Vormittag. Die graue Wolkendecke bauschte sich hinab wie ein ausgespanntes Laken, durch das von oben her ununterbrochen Wasser geseiht wurde. Es rauschte eintönig durch das dunkle Laubwerk der alten Baumkronen, die sich manchmal wie in plötzlichem Schüttelfrost krampften, und tränkte in hemmungsloser Verschwenderlust den durstigen Schoß der Parkwiesen. Weißliche Nebelfetzen flatterten an den Zweigen der Buchen und Silberpappeln wie an ausgesteckten Leimruten, bis ein Windstoß sie losriß und gleich taumelnden Vögeln durch die regenschwere Luft weitertrieb. Es war nach der Hitze der letzten Tage kalt wie im November.

Sophie hatte in ihren Zimmern heizen lassen. Sie liebte Wärme, Licht, Sonne. Der Umschlag war zu empfindlich. Ihr rosageblümter Lehnsessel stand vor dem bauchigen Kamin, in dem die Flamme um die feisten Buchenkloben züngelte wie die Katze um ihren Brocken. Es war am Vormittag des dritten Regentages. Sophie überlas noch einmal das Fragment von Brandstädters Lebenstrilogie: Weltverbesserer, Weltgestalter, Weltverneiner. So gliederte sich das Werk. Die Meilensteine von Brandstädters eigener Entwicklung. Der Träumer, der noch an die Menschheit und ihre Fähigkeit zur Umwandlung, zur Vervollkommnung glaubte. Der Dichter, der alles, was da war, das Erhabenste wie das Niedrigste, Himmel und Hölle, mit gleicher Inbrunst umfing und wiedergebar. Der Vernichter, der in furchtbarem Ekel Welt und Menschen in Stücke schlug, um am Ende... Nun was? Entweder sich selbst mit seiner Welt zu vernichten oder vielleicht doch noch erlöst zu werden und als Sieger dazustehen? Dann wären Ende und Anfang verknüpft und der Vernichter wieder zum Träumer geworden.

Sophie senkte den Kopf. Es gab noch keine Antwort darauf. Das Schlußdrama der Trilogie war unvollendet. Auch im ersten und zweiten Teil fehlten Szenen. Aber man konnte sie sich ergänzen. Jene Endlösung lag ganz im Dunkeln. Vielleicht weil der Dichter selbst sie noch nicht kannte? Weil sie erst gelebt werden mußte? Und wenn sie nun nicht gelebt würde, wie so manche Andeutung Brandstädters argwöhnen ließ? Wenn jenes Schlußwort ungesprochen, das Fragment Fragment bliebe? Wenn alles, was Friedrich Brandstädter geheißen, nur als Torso auf die Nachwelt käme?

Sophie schrak zusammen. So groß begonnen und so fragwürdig abgebrochen? Das durfte nicht sein! Brandstädter mußte sein Werk zu Ende leben. So wie das Leben der Mutter heilig ist wegen des Kindes in ihrem Schoß, so mußte auch er sich heilig sein. Er durfte das Instrument, durch das die Gottheit aus ihm sprach, nicht selbst zertrümmern. Es lag eine Verantwortung auf ihm. Man mußte ihn immer von neuem daran erinnern, wenn er so schwach war, es zu vergessen.

Sophie stand auf und begann zwischen den alten Kirschbaummöbeln der Biedermeierstube hin und her zu wandeln. Jene Sommernacht neulich im Park – am Vorabend von Ninas Geburtstag – fiel ihr ein. Sie hatte Brandstädtern noch spät aus dem Hause gehen sehen. Ihr war der Gedanke gekommen, ihm nachzugehen und mit ihm zu sprechen. Die Bilder seines Werkes, das sie am Tage zu Ende gelesen, füllten ihre Seele mit einem seltsam bangen und rätselvollen Zwielicht gleich dem Dämmerschein des Mondes auf den Parkwiesen draußen. Sie mußte ins klare darüber kommen. So manches gemeinsame Jugenderlebnis, allerlei vertraute Gestalten tauchten auf. Da war jene berühmte Galathea wieder aus Brandstädters »Dionysien«-Zeit... Sie lockte den Helden, entglitt ihm, wurde zum Dämon seines Lebens... Man wußte ja, wer hinter dem Phantom steckte. Und die andere Frau, die dem Helden immer wieder begegnete, ihn als sein guter Genius geleitete? War nicht viel von ihr selbst in dieser Erika? Wie merkwürdig, sich so in der Seele des Jugendfreundes widergespiegelt zu sehen! Größer, reiner, vollkommener, als sie in Wirklichkeit war (Ach! Er hatte sie von Jugend an überschätzt, idealisiert. Wie anders wäre sonst manches gekommen!), und dennoch in aller Erhöhung, Verklärung immer noch ein gutes Stück ihrer selbst.

Ein unendlich wehes und süßes Gefühl zugleich hatte sie hinausgetrieben, ihm nach in die weiche Mondnacht des Parks.

Aber als sie dann neben ihm ging in der dunkeln Kastanienallee, durch deren dichte Wipfel nur dann und wann das Mondlicht silberte, da waren mit einemmal wieder Herz und Mund meilenfern voneinander und auch er blieb verschlossen nach alter Weise. Nur ein paarmal war es wie Wetterleuchten der Seelen gewesen. Ein traumhaft kurzes Einander-Erkennen im Blitzlicht des Augenblicks und Dunkelheit wie vorher... Mehr hatte die Stunde im Park nicht gebracht.

Und doch war es viel. Sophie atmete tief auf. Wenn nichts anderes geschehen war, so hatte sie dem Freunde Mut gemacht, es noch einmal mit sich selbst und mit seinem Werk zu versuchen. Er hatte ihr sein Wort darauf geben müssen. Wollte sie das anzweifeln? War nicht eine sichtliche Veränderung seitdem mit ihm vorgegangen? Seine Haltung, die schon etwas Verfallenes gehabt hatte, schien wieder straffer geworden, der Schritt fester, der Blick freier, zuversichtlicher. Die maskenhafte Starrheit der Züge hatte sich gemildert. Es war ein leiser Schimmer darüber, wie wenn eine Eisfläche zu tauen beginnt im Vorfrühling. Ja, wenn man die Augen halb zumachte und die Phantasie ein wenig zu Hilfe nahm, so konnte man an sein Jugendgesicht denken, das wiedergekehrt sei.

Ein plötzlicher Seufzer hob Sophies Brust. Sie mußte über sich selbst lächeln. Woher kam er? Wohin ging er? Waren es gestorbene Wünsche, die sich meldeten, wie geliebte Tote wohl noch manchmal anzuklopfen pflegen? War ihre Jugend ungesehen durchs Zimmer gewandelt?

Die reife Frau mit dem leise ergrauenden braunen Haar trat an ihre Kirschbaumkommode – ein Güldenauer Erbstück, wie alles andere, was im Zimmer stand – und schloß die oberste Schublade auf. Hier befanden sich die Reliquien der Vergangenheit, alle die kleinen Heiligtümer, zu denen es sie manchmal, nicht gar zu oft, wallfahrten trieb, wenn es ihr schwer ums Herz war. Da lag es fein säuberlich beieinander, was ihr Leben gewesen war, hübsch mit Bändchen umbunden, das eine oder andere mit kleinen Zetteln versehen, auf denen Tag und Jahr ordnungsgemäß vermerkt waren.

Sophie kramte unter den alten Briefen, zwischen denen welke Rosenblätter raschelten, und zog zwei noch wohlerhaltene Photographien hervor. Die eine war sie selbst als junges Mädchen, die andere war Brandstädter. Beide stammten aus jener Berliner Zeit, die Brandstädter das »Idyll vom Augusta-Ufer« zu nennen pflegte. So hatten sie damals ausgesehen, als ihrer beider Leben sich entschied. Es war nur scheinbar ein Idyll, was Brandstädter so nannte. Mitten darin, gleichsam unter Flieder und Goldregen, hatte der Wegweiser gestanden, wo es für ewig auseinander ging.

Sophie hielt die beiden nur leicht verblaßten Bilder vergleichend nebeneinander und schüttelte den Kopf. Hätte das nicht gut zusammengepaßt? Hätte sich das nicht ergänzt und gefügt wie Hirn und Herz? Nun war jedes für sich geblieben. Unerfüllt! Unbefriedigt! Zwei Hälften und nichts Ganzes! Hätte man auf die Stimme da innen gehört! Sie raunte leise, doch verständlich genug. Statt dessen hatte man nur das laute Gepolter des andern vernommen, das die Ehe eine Zwangsanstalt nannte, volle Freiheit des Auslebens predigte, eine neue höhere Moral forderte. Große Worte, wenig Inhalt. Was war davon übrig geblieben? Alle die Stürmer hatten später Frieden gemacht. Auch Brandstädter. Seine Ehe mit der unglücklichen Gerda ... Wer ihnen beiden das vorausgesagt hätte ...! Es war kein guter Geist gekommen, der ihnen zuflüsterte: Ihr zwei, die ihr da an der Wegscheide steht, glaubt euren Herzen und nicht euren Worten. Freie Liebe? Nein! Das war nichts für das ehrsame Gutsfräulein gewesen. Was würden die Vettern und Basen dazu gesagt haben! Ach! Hätte man dem Schreckbild nur beherzt ins Gesicht geblickt! Wer weiß ...! Worte! Immer Worte, die uns betrügen!

Sie legte die beiden Bilder in die Schublade zurück und schloß sorgfältig wieder ab. Vorbei! Nichts brachte jenen Wendepunkt am Kreuzweg zurück. Man hatte sein Schicksal in der Hand gehabt. Soweit war man frei. Man hatte gewählt. Jetzt ging es seinen Gang. Vielleicht hatte Nina nicht so unrecht, neulich im Wintergarten: Sie hätte aus Brandstädter das Höchste machen können. Mit ihr zusammen wäre sein Leben groß und glücklich geworden. An ihr lag es, daß es Stückwerk geblieben. Warum hatte das sein müssen? Warum? Warum?

Sie stand am Fenster und drückte die heiße Stirn gegen die feuchtkalten Scheiben. Das tat wohl. Das beruhigte das noch immer allzu stürmische Blut. Achtundvierzig! Was wollte man da noch vom Leben? Was durfte man noch wollen? Lag es nicht hinter einem mit allen seinen törichten Wünschen, seinen übertriebenen Hoffnungen? Ein Boot im Hafen, vom stillen Wasser leicht geschaukelt: so war ihr Herz, um das die Schwermut sanfte Wellenkreise zog. Eine Frau mit Achtundvierzig! Rudolfs Mutter, der mit Nina ...! (Nein! Daran wollte sie jetzt nicht denken. Diese Stunde der Erinnerung sollte ihr allein gehören.) War es denn wirklich so ganz zu spät? Selbst für Freundschaft, die verzichtet hatte? Die nichts mehr wünschte und begehrte, als dem Freund leise die Hand auf die Stirn zu legen, ihm die finstern Gesichte wegzuwischen? War selbst das zuviel verlangt? Aber sie hatte es ja schon getan, ohne erst lange bei sich selbst um Erlaubnis zu fragen. Ihr Herz hatte schneller gehandelt als ihr Verstand. (Hätte es das nur einstmals auch getan!) Und war es nicht gut so? War Brandstädter nicht wie verwandelt seitdem? Schien nicht ein lichterer Geist in ihn eingezogen?

Ihre Stirn rutschte an der feuchten Scheibe hinab. Sophie erschrak ein wenig und erhob den Kopf. Draußen in dem nassen Garten, unweit ihrer Fenster, sah sie Brandstädtern mit hochgezogener Regenkapuze vor einem Blumenbeet stehen. Es waren Feuerlilien, die in der regenschweren Luft ihre schlanken Hälse neigten. Brandstädters Mantel und Kapuze tropften. Aber er achtete nicht darauf, schien ganz in die Betrachtung der halb geschlossenen rötlichen Kelche versunken. Konnte ihn das wirklich so sehr beschäftigen? Was hatte er da im Regen zu suchen? Vielleicht würde er in den Wintergarten kommen? Man konnte sich dort durch Zufall begegnen ...

Sophie warf rasch ihren weißen Kaschmirschal um, hieß die im Nebenzimmer stickende Tini nach dem Kaminfeuer sehen und begab sich durch den ziemlich dunklen und winkligen Verbindungsgang, der zwischen ihrem Schloßflügel und dem Mittelbau hinführte, nach dem Wintergarten.

Sie hatte richtig vermutet. Als sie eintrat, war Brandstädter bereits dort. Sie wollte sich erstaunt zeigen, aber sie vermochte es nicht. Es kam ihr unwürdig vor. Diese Stunde sollte nicht entweiht werden.

Brandstädter trat ihr entgegen und begrüßte sie. Er war noch im Mantel, hatte nur die Kapuze heruntergeschlagen.

»Suchten Sie jemand, lieber Freund?« fragte sie nach einem Augenblick, da er ihr etwas verlegen vorkam.

»Ist Nina ... ist Ihre Schwägerin nicht anwesend?« erwiderte er, und wieder war dieses Zögern in seinem Ton.

Frau Bartholdy hatte ein bitteres Gefühl. Wußte er nichts anderes zu fragen?

»Nina ist nicht ganz wohl heute,« sagte sie kühl. »Hans Lebrecht schickte nach dem Arzt.«

»Doch nichts Ernstliches?«

»Ich glaube nicht. Sie hat das ja öfters. Am besten, man überläßt sie dann möglichst sich selbst.«

»Wozu dann der Arzt?«

Sophie zuckte die Achseln.

»Wenn man einen so zärtlich besorgten Gatten hat ...!«

Ihr Ton klang ironischer, als sie selbst es wünschte, aber sie konnte nicht anders. Das überfließende Gefühl, das sie hergetrieben hatte, war wie geronnen von der Kälte des andern. Brandstädter runzelte die Stirn. Er schien Sophies Ironie zu verstehen.

»Der Doktor schon dagewesen?« fragte er kurz.

»Mir war, als hörte ich vorhin den Wagen,« antwortete sie.

Eine kleine Pause entstand. Sophie bereute bereits ihre Schärfe. Sie suchte nach irgendeinem Wort, um es gutzumachen.

»Sie sehen besser aus als seit langem,« sagte sie, indem sie ihm voll ins Gesicht blickte. »Sie haben ordentlich Farbe bekommen.«

»Finden Sie?«

»Es wäre ja auch kein Wunder,« fuhr sie lebhaft fort. »Die Landluft! Die Ruhe! So ein abgehetzter Großstädter! Es müßte ein Gesetz kommen, daß jeder alle paar Jahre soundso lange auf dem Lande zu sein hat.«

Brandstädter nickte spöttisch.

»Mit einem meilenweiten Park zum Privatgebrauch und erstklassiger Verpflegung! Fuhrwerk und Segelboot frei! Sie lösen die soziale Frage mit einem Federstrich, beste Sophie.«

»Und Sie könnten einem sogar das Paradies verleiden durch Ihren Hohn!« rief Sophie und wandte sich ab.

Brandstädters Miene verfinsterte sich.

»Es scheint, daß ich wieder einmal nicht Herr über meinen Tonfall war. Akustische Unzulänglichkeit! Mein alter Defekt! Ich wollte Sie nicht kränken.«

Er streckte ihr seine Hand hin.

Sie schmollte noch ein wenig, schlug aber ein. »Man verwöhnt Sie viel zu sehr. Das ist der ganze Fehler.«

»Das Leben hat es bisher umgekehrt mit mir gehalten,« erwiderte er. »Man ist auf den gegenwärtigen Glückszustand noch nicht eingestellt.«

»Sie geben ihn also wenigstens zu?«

»Ich leugne ihn wenigstens nicht. Er scheint ja auf meinem Gesicht geschrieben.«

Sophie begann zu lachen.

»Das klingt nun wieder so, als ob Sie sagen wollten: Ich habe die Lungenentzündung. Betet ein Vaterunser für mich.«

Brandstädter wiegte den Kopf.

»Ich stehe vor dem Problem, auf welche Weise ich es Ihnen recht machen kann.«

»Bleiben Sie wie Sie sind. Dann sind Sie recht. Es ist ja nicht seit gestern, daß wir uns miteinander abfinden müssen. Ich habe auch meine Mucken. Und keine kleinen.«

Brandstädters Augen ruhten nachdenklich auf Sophies Gesicht, das sich ganz leise färbte.

»Sie hatten immer die Eigenschaft, sich zu verkleinern, Sophie. Ich habe nie etwas von Ihren sogenannten Mucken wahrgenommen. Sie waren für mich stets das Weib, wie es sein soll.«

»Das war ja eben das Unglück,« rief Sophie. »Wäre ich lieber etwas anderes für Sie gewesen!«

Sie hatte das nur so herausgesprudelt und stockte jetzt plötzlich. Hatte sie sich verraten? Sie warf den Kopf zurück. Und wenn ...! Was lag jetzt noch daran! Brandstädter betrachtete sie, als suche er nach irgend etwas, was ihm einfallen müsse, wie sich uns manchmal ein Wort vollständig zu verkriechen scheint und auf keinen Anruf zum Vorschein kommen will.

»Was hätten Sie denn für mich sein wollen?« fragte er schließlich mit merkwürdig zerstreutem Ton.

»Vielleicht das Gegenteil,« erwiderte sie und sah ihm trotzig ins Gesicht. »Jedenfalls etwas anderes, etwas Richtigeres als das, wofür Sie mich gehalten haben und was ich in Wirklichkeit niemals war.«

Brandstädter schüttelte den Kopf. Sein Blick hatte noch immer dieses Abwesende.

»Wie Sie Ihrem eigenen Bild vor einem Menschenalter gleichen, Sophie! Es ist das, was ich stets behauptet habe. Unser Kern ist unzerstörbar und unveränderlich durch die Zeit. Der tiefste Beweis für die Unsterblichkeit des eingeborenen Ichs! Aber man muß ihn erleben. Auf den Tisch legen läßt es sich nicht.«

Sophie wehrte ärgerlich ab.

»Ach lassen wir doch jetzt die Philosophie! ... Ich komme gerade wieder von Ihrem Werk. Ich bin noch ganz warm davon. Da sind auch zwei Frauen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn es mit der andern nicht besser stimmt als mit der einen, dann sind Sie gerichtet als Frauenkenner. Ein so großer Dichter Sie auch sind.«

»Kann man das sein als so schlechter Frauenkenner?«

»Alle Männer sind schlechte Frauenkenner. Selbst Goethe mit seiner Adelheid von Waldorf.«

Brandstädter erhob den Finger.

»Wieder die Sophie vor einem Menschenalter! ... Mit der Erika ist es also nichts nach Ihrer Meinung?« »Nicht ein Haar stimmt! ... Wenigstens verglichen mit der Wirklichkeit.«

»Mit dem Urbild, das da vor mir steht ...?«

Sophie senkte unwillkürlich den Kopf vor seinem Blick. Ihr war, als stünde sie mit einemmal nackt vor ihm da.

»Ach, was soll ich sagen,« stotterte sie. »Es stimmt und stimmt nicht. Die Erika ist natürlich eine Idealfigur. Keine Frau ist in Wirklichkeit so.«

»Und Galathea?«

Sophie erhob den Kopf.

»Galathea ist vielleicht ebenso eine Idealfigur, nur nach der andern Seite. So wie der Dichter sie sich wünscht. Aber nicht, wie sie jemals war.«

Brandstädter sah sie mit seinem merkwürdig zerstreuten Blick an, der doch durch und durch ging.

»Erika, die gern Galathea wäre. Oder Iphigenie, die sich in Adelheid verwandeln möchte ... O, Sophie Von einst! Was sind das für Sprünge?«

Sophie lachte kurz auf.

»Man bleibt sich also doch nicht gleich! ... Eben behaupteten Sie es noch. Die Sophie von einst und die heutige, das sind zwei ganz verschiedene Menschen. Damals spuckte man aus vor einer Adelheid oder einer Galathea.«

»Und heute?«

»Heute weiß man, daß die Galatheen geliebt, begehrt werden von den Männern.«

»Die Erikas nicht?«

»Die achtet man und stellt sie in die Ecke, wie das Weihwasser in frommen Häusern. Man macht ein Kreuz und geht vorbei. Muß man sich da nicht fragen: Warum warst du nicht auch so wie jene, um die euch das Herz bricht? Und würdest du's nicht ebenso machen, wie die, wenn du noch einmal zu leben und zu wählen hättest?«

Brandstädter neigte den Kopf zu ihr. Seine Stimme klang tief und eindringlich.

»Und doch, Sophie: Jeder von den dreien, die Erika und die Galathea und der Mann, der zwischen ihnen steht, jeder würde genau wieder so wählen wie das erstemal.«

Ein Schatten glitt über Sophies sonst so klare und jugendliche Stirn.

»Wozu lebt man dann überhaupt?« sagte sie. »Wenn doch alles umsonst ist. Wenn man nicht zulernen kann auf der Schulbank, zu der man verurteilt ist.«

Sie hatte ihre Augen zu Brandstädter erhoben. Die Blicke der beiden Menschen kreuzten sich und ruhten ineinander. Es war Stille in dem hohen, dämmrigen Raum, in den die dunklen Wipfel der runzligen Araukarienstämme nachdenklich hinabschauten. Nur das Ticken der Regentropfen auf dem Glasdach war zu vernehmen und das leise Rischeln des Springbrunnens, der sein altes Ammenliedchen von den Geheimnissen des Erdenschoßes murmelte.

Brandstädter löste zuerst das Schweigen.

»Sophie! Lassen Sie mich ohne Gleichnisse, ohne Bilder und Umschreibungen ein klares und offenes Wort zu Ihnen sagen, wie es sich zwei Menschen von unserem Wuchs und zwei Jugendfreunde schuldig sind.« Frau Bartholdy sah mit großen schweren Augen zu ihm auf.

Brandstädter strich sich über die Stirn und fuhr fort:

»Ich hätte niemals gewagt, Ihr Schicksal und meines zu verbinden, Sophie. Es wäre mir wie ein Frevel an Ihnen vorgekommen.«

»Wahrscheinlich, weil ich mich nicht geeignet hätte, nach Ihrer Ansicht, für die freie Ehe, von der Sie damals predigten und die nachher so schön auf dem Standesamt endigte. Wer weiß! Was andere konnten, hätte ich vielleicht auch gekonnt. Ein Mädchen, das einen Mann gern hat, läßt sich zu allem bringen, wenn sie richtig erzogen wird. Es liegt immer am Mann.«

»Ihre Pillen sind bitter, Sophie.«

»Haben Sie das Recht, sich zu beschweren? War das vielleicht Honig, was Sie den Menschen gegeben haben?«

Brandstädter räusperte sich ein wenig, ehe er erwiderte:

»Mein Leben war Kampf, Sophie, und wird Kampf bleiben, solang es noch dauert. Sie waren umhegt und gepflegt. Ist Ihre Ehe denn nicht glücklich gewesen?«

Sophie richtete sich auf. Es war wieder der leise Trotz in ihrem Gesicht, der Brandstädtern so lebhaft an ihre Mädchenzeit erinnerte.

»Ich bin ganz glücklich geworden in meiner Ehe,« sagte sie. »Ich habe viele Jahre nur wenig an Sie gedacht. An das, was vielleicht hätte sein können.«

»Ich bin es nicht geworden in der meinen,« entgegnete er, und sein Ton klang schärfer als vorher. »Mir scheint, wir sind quitt.« »Ich habe den besten Mann gehabt,« fuhr Sophie fort, »und ich kann ja auch als Mutter soweit ganz zufrieden sein. Und doch ist irgend etwas hier innen ...«

Sie unterbrach sich, als fühle sie in der Herzgegend einen plötzlichen Stich, hatte sich aber sofort wieder gefaßt.

»Warum«, fragte sie mit einem Ton von Entschiedenheit, »warum hätten Sie es nicht gewagt, unser beider Schicksal zu verbinden? Damals, als die Zeit dafür war? Das möchte ich noch wissen. Dann ist es gut.«

»Weil ich Sie zu sehr achtete, zu sehr verehrte, Sophie, um Sie in mein Chaos hineinzuzerren. Das war der Grund.«

Sophie lachte bitter auf.

»Achtete! ... Verehrte! ... Da haben wir's wieder! ... Hätten Sie mich lieber verachtet, aber geliebt!«

Es schien plötzlich wie aus einem bis zum Rande gefüllten Gefäß bei ihr überzuquellen. Sie wandte sich ab. Die Tränen liefen ihr unaufhaltsam über die Backen.

Brandstädter stand einen Augenblick mit geschlossenen Lidern. Ihm war, als sei die, die ihm da den Rücken zukehrte, die vierzehnjährige Sophie und er der sechzehnjährige Gymnasiast, der sie gekränkt hätte und sich entschuldigen käme. Schon damals hatte er kein Weib weinen sehen können. Tränen hatten seinen ganzen Jungensstolz hinweggeschmolzen.

Er trat näher und legte ihr leise die Hand auf die Schulter.

»Sophie! Das liegt alles hinter uns. Wollen Sie mir wenigstens Ihre Freundschaft bewahren?« Sie wischte hastig über ihr Gesicht und nickte wortlos vor sich hin.

»Ich werde Sie vielleicht bald sehr nötig haben,« murmelte Brandstädter wie im Selbstgespräch.

Sophie erschrak. Was war das wieder? Hatte er ihr nicht versprochen ...?

Sie drehte sich um und blickte ihn fragend an. In ihren Augen waren noch die Tränenspuren. Ihre Backen waren leise gerötet.

Sieht sie nicht wirklich aus wie ein Schulmädchen, das Schelte bekommen hat? dachte Brandstädter. Er strich sich über die Stirn. Was waren Zeit und Raum!

»Ich kann Ihnen das jetzt nicht erklären,« sagte er, und sein Ton hatte von neuem etwas Abwesendes. »Vielleicht kommt der Zeitpunkt sehr bald.«

Sophie hatte ihre Fassung wieder. »Sie dürfen Ihr Werk nicht im Stich lassen,« sagte sie und nestelte an einer widerspenstigen Haarlocke. »Sie haben mir neulich Ihr Wort darauf gegeben. Ich dachte, es wäre alles gut. Sie gingen herum wie ein Mensch, der sich wiedergefunden hat. In dem es klar geworden ist, obwohl es draußen in Strömen regnete.«

Brandstädter nickte. In seinen Augen schien es heimlich zu leuchten.

»Vielleicht steht wirklich ein Klargewordener vor Ihnen, Sophie. Wenigstens auf Zeit. Aber es handelt sich dabei nicht um mein Werk.«

»Um was denn sonst?«

»Erst leben, leben, und nochmals leben! Und dann vielleicht noch einmal dichten! ... Ich habe grau werden müssen, Sophie, um diese Lehre ganz zu begreifen. Jetzt sitzt sie fest für den Rest des Nachmittags.«

Sophie trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Eine bleierne Schwäche war plötzlich in ihren Beinen. Was sprach er da? Bezog sich das auf die ... andere?

Brandstädter sah sie besorgt an. »Sie machen einen angegriffenen Eindruck, Sophie, und ich plage Sie mit meinen Schmerzen. Ganz die alte Zeit. Der Kreis hat sich geschlossen.«

»Was geht vor?« fragte Sophie mühsam.

»Es sind Veränderungen im Wege. Ihr Glaube an mich könnte bald auf die Probe gestellt werden.«

Kaspar, der ältliche Diener Ewalds, war zur Tür hereingeglitten.

»Die Bücher vom Herrn Doktor sind gepackt,« sagte er in seiner milden und geräuschlosen Art. »Sollen die andern Sachen auch gleich ...?«

Sophie faßte die Lehne des Korbsessels, der neben ihr stand.

»Sie wollen abreisen?«

Brandstädter nickte bedeutungsvoll.

»Vielleicht schon heute abend.«

Dann wandte er sich zu Kaspar.

»Ich gehe gleich mit Ihnen, Kaspar.«

Sein Blick ruhte noch einmal auf Sophie.

»Bewahren Sie mir Ihre Freundschaft, Sophie. Was auch kommen möge!«

Die beiden Männer waren hinter der blumenspendenden Flora verschwunden. Frau Bartholdy war allein. Sie legte mechanisch die Hand an die Stirn, dann an die Brust und horchte. Was war das für eine hoffnungslose Leere da innen? Schlug noch ihr Herz? Dachte sie noch? War das eine Träne, was ihr so heiß über die Backe lief?

Sie setzte sich in den Sessel und faltete die Hände zwischen den Knien. Ihr Kopf sank tief und tiefer. Eine Träne nach der andern kullerte ihr auf die Hand. Sie achtete es nicht. Es war gut, so zusammengekauert zu sitzen und nichts zu denken.

Nach einer Weile sah sie auf. Was war geschehen? Sie mußte sich anstrengen, es zu finden. Erst allmählich kamen die Gedanken wieder. Eigentlich war es nur ein einziger Gedanke. Sie hatte ihn verloren! Für immer! Die andere hatte ihn ihr weggenommen!

Sie krampfte die Hände, um sich auf alles zu besinnen. Was war denn das? Hatte die nicht ihren Mann? Nein, mehr...? Hatte sie nicht auch mit Rudolf...? Das war...! Das war...! Aber Rudolf war ja fort...? Das schien ja wohl aus? Ganz richtig!... Und kaum daß er fort war, hatte sie sich an ihn herangemacht ... ? An den, der doch ihr selbst gehörte, von Jugend an... ? Oh! Das war... Das war eine Hölle von Schlechtigkeit! Ja! Jetzt wußte sie es. Das war das Weib in seiner tiefsten Verworfenheit! Es fraß die Männer. Und die Männer wollten nichts Besseres, als von ihr gefressen werden. Sie drängten sich um diesen Abgrund von Niedrigkeit. Auch er! Er allen voran! Sie hatte geglaubt, um ihretwillen sei es, daß diese Erhebung, dieses jugendliche Licht um ihn sei. Ihr Wort, ihr Händedruck habe ihn erweckt, ihn von neuem aufgerichtet, hatte sie sich eingeredet. Jetzt wußte sie ja, um wessentwillen es war. Närrin! Sie schämte sich! Schämte sich ...!

Plötzlich schrak sie zusammen. Waren das nicht Schritte ...? Sie erhob den Kopf und fuhr in die Höhe. Nina stand wenige Schritte von ihr jenseits des Wasserbeckens.

»Du bist's?!« schrie Sophie und machte eine Bewegung, als ob sie auf sie zuspringen wolle. Aber es war nur ein Augenblick des Selbstvergessens.

»Was willst du? Woher kommst du?« fragte sie mit wiedergefundener Beherrschung. »Ich habe dich nicht kommen hören.«

Nina war totenblaß. Sie hatte noch ihr blaues Morgenkleid an, war aber mit peinlicher Sorgfalt frisiert. Ihr Gesicht hatte einen merkwürdig flackernden, irren Ausdruck.

»Ich komme aus meinem Zimmer,« sagte sie mit tonloser Stimme, ohne sich vom Platz zu rühren. »Ich suchte dich. Es ist alles aus.«

Sophie erschrak.

»Was heißt das? Was fehlt dir? Wie siehst du aus?«

Nina langte mit der Hand in das Wasserbecken und netzte sich die Stirn. Es schien ganz automatisch zu geschehen.

»Doktor Laturner aus Steinberg ist dagewesen,« sagte sie. »Hans Lebrecht hat ihn wegen meines Anfalls holen lassen, weil er der nächste war. Laturner hat festgestellt, was ich dir schon damals sagte. Ich habe mit meiner Ahnung recht gehabt.«

Frau Bartholdy schaute sie an, ohne gleich zu begreifen. Ihr eigener Kopf war ihr so voll ... Jetzt sollte sie sich um die dort kümmern! Gerade um die ...! Warum spuckte sie ihr nicht ins Gesicht?

Nina merkte nichts von dem, was in der andern vorging. Sie stand und sprach, als ob sie etwas Gelerntes aufsage.

»Laturner war ganz selig über seine Entdeckung. Nach dreijähriger Ehe Aussicht auf Nachwuchs! Ein junger Ewald und der Vater wußte noch nichts! Er ist sofort zu Hans Lebrecht gestürzt. Ich konnte ihn nicht aufhalten. Es wird eine schöne Überraschung gewesen sein. Jetzt ist alles aus.«

Sophien stockte das Blut. Das ging ja Rudolf an! Jetzt würden Sohn und Bruder wegen der dort ...? Und Brandstädter ... ? Die Gedanken rangen miteinander. Sie brachte kein Wort hervor.

Nina fuhr fort, herzusagen. »Wenn noch jemand helfen kann, dann bist du es! ... Du ganz allein!«

Sophie machte eine jähe Bewegung nach vorwärts.

»Ich? ... Niemals! ... Hilf dir selbst aus deinem Sumpf! ... Wenn du kannst!«

Sie atmete tief auf. Der Bann war gelöst. Gott sei Dank! Es war heraus.

Nina stand noch am Marmorbecken und tauchte ab und zu, wie mechanisch, die Hand ins Wasser.

»Denke an deinen Sohn,« sagte sie, »wenn auch nicht an mich. Es wird sicher zum Duell kommen. Hans Lebrecht wird Rudolf erschießen. Er trifft ihn unfehlbar ins Herz. Er hat sich auf seiner Scheibe oben im Atelier eingeschossen. Ich glaube, er hat es seit langem vorausgesehen. Du allein kannst helfen.« Sophie fühlte wieder diese furchtbare Bangigkeit, aber sie bezwang sich.

»Mein Sohn ist erwachsen. Ich kann ihn nicht am Schürzenband halten. Ich habe ihn ja auch nicht vor dir bewahren können. Rudolf und mein Bruder müssen wissen, was sie zu tun haben. Was geschehen soll, geschieht doch!«

Ihre Worte klangen kalt und fremd, wie Nina es nie von ihr gehört hatte. War wirklich alles verloren? Nina faßte sich an den Kopf. Es wirbelte. Plötzlich machte sie ein paar Schritte und fiel vor Sophie auf die Knie.

»Sei doch menschlich!«

Sophie wandte sich ab.

»Spiele keine Komödie!«

Nina griff nach ihrer Hand, als ob sie sie küssen wolle.

»Rühre mich nicht an!« rief Sophie mit einer Gebärde des Abscheues. »Das ist so die richtige Art, die Menschlichkeit bei den andern anfangen zu lassen!... Wärst du selbst so gewesen, wie du sein solltest! Aber du darfst tun, was du willst! Die Männer gehören ja alle dir.«

»Sei menschlich!« stammelte Nina von neuem. »Du warst es doch bis jetzt!... Was ist denn mit dir geschehen?«

»Was mir geschehen ist?« wiederholte Sophie und krampfte die Hände zusammen. »Nichts!... Steh' auf. Ich kann dir nicht helfen.«

Nina erhob sich.

»Alles ist aus. Ich wußte es,« sagte sie und strich mit einer mechanischen Bewegung ihr Kleid über den Knien glatt.

Sophies erster Zorn war verraucht. Irgendwo ganz tief regte es sich schon wie Mitleid mit dem Jammer der andern. Aber plötzlich schoß die Stichflamme wieder auf.

»Wende dich doch an Brandstädter,« sagte sie mit hartem Ton. »Du stehst ja so gut mit ihm. Er und mein Bruder sind alte Freunde. Vielleicht verteidigt er dich bei ihm. Er war ja immer der Anwalt der Verfolgten.«

Nina war zusammengefahren. Tiefe Röte floß über ihren blonden Nacken.

»Was ist das mit Brandstädter?« stotterte sie. »Was willst du damit sagen? Ich habe mit Brandstädter kein Wort darüber gesprochen. Wie käme ich denn dazu?«

Sophies Mitleid war ganz verflogen. Sie log also noch ... Zu allem übrigen!

»Dann weiß ich nicht, wer dir helfen kann,« erwiderte sie kalt. »Ich jedenfalls nicht.«

Sie kehrte ihr den Rücken und ging hinaus.

Nina war allein. Sie faßte sich an den Kopf. Was bedeutete dieses letzte? Diese Anspielung auf Brandstädter? Ahnte Sophie, was gestern und vorgestern zwischen ihr und Brandstädter vorgegangen? Hatte Brandstädter sich verraten? Oder hatte sie selbst mit irgendeinem Wort ... ? Sie konnte sich nicht erinnern. Es war so schwer, seine paar Gedanken zusammenzuhalten. Ganz hinten, dort wo alle Wege zusammenliefen, gleichsam am letzten Ende der Allee, durch die ihr Wagen dahinbrauste, da stand der große Bretterzaun, der alles abschnitt, über den hinaus es kein Weiterkommen mehr gab. Sie sah ihn auf sich zufliegen. Pferde, Wagen, sie selbst mußten daran zerschellen. Was dahinterlag, war das große Nichts. Nur noch wenige Augenblicke... Stunden höchstens, dann war es entschieden.

Also war ja doch alles gleich. Brandstädter... Rudolf... Ewald... Neubauer... Keiner half! Alle diese Männer... Waren es verschiedene? War es ein einziger? Gleichsam das ganze Männergeschlecht, das sich auf sie stürzte und sie zerbrach?

Sie nickte gedankenlos vor sich hin. Ja, das war die Rache! Das Kind! So rächte sich das ganze Geschlecht an ihr. Auf keine andere Weise wären sie mit ihr fertig geworden. Da kamen sie mit dem Kind. Daran zerbrach sie. Es war wie ein Gift, das man jemandem in der Torte eingab oder in den Champagner schüttete. Wie war das doch, was Sophie damals dozierte? Frauen, die zur Mutter bestimmt sind... Frauen, die zur Geliebten geboren werden... Aber wenn die Natur eine zur Geliebten geboren werden ließ, warum blieb sie dann nicht dabei? Warum hielt sie die Scheidung nicht aufrecht? Wozu die Klassen dann doch wieder durcheinanderwerfen, wie ein unordentliches Schulkind seine Schreibhefte verwechselt? Im Kloster hatte man dafür auf die Finger bekommen. Das war lange her. Wie lange eigentlich?

Sie begann an den Fingern nachzurechnen. Aber sie brachte es nicht zusammen. Die Jahre rieselten durcheinander. Damals war sie selbst noch fast ein Kind. Jetzt trug sie ein Kind im Leibe. Sonderbar, daß das nicht längst geschehen war! Alle ihres Alters waren Mütter, hatten Kinder, die in die Schule gingen. Ihr war es bis heute aufgespart. Sehr witzig von der Natur, der Einfall! Konnte man auf so etwas gefaßt sein? Der Witz kostete ihr Glück, Stellung, Namen. Alles, was das Leben schön machte. Warum nicht gleich das Leben selbst? Dann ging es in einem. Es war ihr ja prophezeit. Barbara Frantzius hatte es ihr aus der Hand vorausgesagt. Die lag nun auch auf den Tod... Für sich selbst prophezeit niemand.

Es überlief sie. Nein! Nicht so wie die! Nicht mit so einem lauten Knall. Und obendrein lange leiden. Etwas Schnelles, Sanftes, Unfehlbares. Sie wußte schon, was das sein könnte. Es gab Gelegenheiten hier im Hause, Beförderungsmittel... Eine kleine kurze Hantierung und vorbei! Das Leichteste, Schmerzloseste, was zu haben war. Sie fürchtete sich gar nicht davor. Merkwürdig! Und bis heute diese Angst vor dem Tod... ? Wenn das nur nicht im letzten Augenblick wiederkam! Vielleicht fürchtete sie sich nur jetzt noch nicht, weil sie noch nicht daran glaubte? Aber sie glaubte ja daran. Es würde sich schon zeigen, wie ernst es ihr war.

Sie blickte scheu an sich selbst herunter. Da lebte, atmete es jetzt schon, irgendwie. Man sah noch nichts, gottlob! Und doch atmete, lebte es, war da, war mit ihr, in ihr! War nicht auszulöschen, außer mit ihr selbst!... Nun ja! Es gab Mittel... Ob sie wirkten? ... Vielleicht, wenn Ewald nichts erfahren hätte ... Jetzt war es zu spät. Man konnte gehen... Man konnte bleiben... Es geschah immer zu zweien. Mutter und Kind!... Was für ein neues Gefühl! Es hieß, daß es schön sein solle, wie nichts auf der Welt. War es schön? Sie empfand noch nicht viel davon. Man mußte wohl dazu geboren sein, Sophie hatte recht. Die zwei Arten von Frauen!... Zu welcher Art wohl ihr Kind gehören würde? Und wenn es ein Sohn würde? ...Nein! Das durfte es nicht. Sie wollte nur eine Tochter. Nichts mehr von den Männern! Sie waren roh und handgreiflich, eitel, selbstsüchtig, treulos... Sie war satt an den Männern! Es mußte eine Tochter werden. Schön und sein und blond wie sie selbst. Mit dunklen Augen und Wimpern. Nur glücklicher als sie.

Nina schrak auf und sah sich um. Es war niemand da. Nur sie beide, das Kind und sie. Und der Springbrunnen, der leise sein Liedchen plapperte. Sie faßte sich an den Kopf. Was war das für ein Unsinn da drinnen! Konnte ihr Kind glücklicher werden als sie selbst, wenn sie es heute mit sich nahm? Gab es denn gar keine Rettung? Auch nicht mit Brandstädter?

Sie schüttelte den Kopf und begann auf und ab zu gehen. Nein! Brandstädter brauchte eine Frau, die Geliebte war. So eine wie sie selbst es bis heute gewesen. Darum hatte sich sein Feuer auch immer wieder an ihr entzündet. Vielleicht gehörte das zu seiner Kunst, Zu seinem Dichten... Die ewige Selbstsucht der Männer! Eine Mutter mit ihrem Anhängsel mitschleppen? Undenkbar für Brandstädter! Man hatte ja seine Ehe als warnendes Exempel. Aus Mitleid hätte er sie mit sich genommen. Es war Edelmut in ihm trotz aller Selbstsucht. Aber sie wollte nicht bemitleidet sein. Sie war zu verwöhnt dazu. Lieber einen stolzen Abgang! Sie trat ans Fenster und sah in den Garten hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen. Nur von den Bäumen tropfte es noch. Der Himmel schien lichter zu werden. Gab es denn gar keine Rettung? Merkwürdig, daß sie gar nicht an den dachte, den es am nächsten anging! Da war doch Rudolf... Sie hatte ihn geliebt... hatte sie das wirklich...? Es schien ihr, als sei es lange her, wenn es je gewesen. Er hatte es verwirkt, daß sie noch an ihm hing. Fortgegangen! Reißaus genommen! Kein Wort! Kein Zeichen! War sie so wenig? Wer so mit ihr umsprang, war tot für sie. Und wenn sie zehnmal ein Kind von ihm trug.

Alles aus? Auch Sophie half nicht? Die war eifersüchtig aus sie. Nur sie selbst konnte sich helfen aus dem Sumpf? Sophies Worte...! Und wenn sie es versuchte...? Bei einem war noch Rettung. Bei ihm allein. Ewald konnte verzeihen. Er war ein Edelmann. Er konnte sie niederknallen, hinauspeitschen. Dann war es gleich. Er konnte verstehen, Nachsicht haben... Er war auch ein Sonderling, ging in allem seinen eigenen Weg.

Welche von den beiden Karten zog man, die rote oder die schwarze? Wer konnte es vorauswissen? Es war ein letztes Fünkchen von Hoffnung, was da glomm. Ganz schwach. Fast am Erlöschen. Aber es glomm doch. Alle ihre Gedanken richteten sich auf das Pünktchen.

Sie raffte ihr Morgenkleid zusammen und begab sich auf den Weg nach ihren Zimmern. In dem engen Gang, der auch auf dieser Seite des Schlosses Flügel und Mittelbau verband, traf sie Brandstädtern. Er kam gerade die Treppe aus dem Obergeschoß herunter, wo die Fremdenzimmer lagen.

»Endlich treffe ich dich, Nina,« sagte er. »Ich habe meine Sachen gepackt.«

»Willst du reisen?« fragte sie mit einem merkwürdig leeren Ton.

Brandstädter trat einen Schritt näher.

»Und du nicht?«

»Ja so!« nickte sie.

Brandstädters Gesicht hatte sich verfinstert.

»Bist du eine Glasscheibe, an der kein Hauch haftenbleibt? Habe ich meine Seele in einen Eisblock ergossen?«

Er faßte heftig ihre Hand.

»Du tust mir weh!« klagte sie mit einer Miene wie ein verzogenes Kind, das nicht parieren will.

»Ich erwarte deine Antwort,« sagte Brandstädter mit rauher Stimme. »Ich sollte sie heute bekommen.«

Sie nickte wieder.

»Ja. Heute ganz gewiß.«

»Braucht es denn noch eine Antwort?« fuhr Brandstädter fort. »Ist das Gestrige, das Vorgestrige nicht Antwort genug? Kannst du noch länger die Luft hier atmen?«

»Natürlich. Du hast ganz recht,« erwiderte sie und lächelte schwach.

»Betrachte diese Jahre hier als eine Episode, die hinter dir liegt. Das sind alles fremde Flitter für dich. Wirf sie weg!«

»Das will ich tun,« antwortete Nina und lächelte wie vorher. »Was ist Ariel ohne Prospero, Galathea ohne ihren Herrn und Meister? Beide gehören zusammen wie Geist und Materie, wie Leib und Seele.«

Er trat dicht an sie heran.

»Galathea!... Weib, das ich geschaffen!... Kunstwerk meiner geheimsten Träume!... Willst du mir folgen, wohin ich dir vorangehe?«

Er hatte sich zu ihrem Ohr gebeugt und seine Worte in sie hineingeflüstert. Es war wie das Ergießen von Seele zu Seele. Keine Schleuse des Verstandes hemmte mehr. Konnte sie noch zögern? Hatte er sie nicht in diesen Tagen wieder ganz zu der Seinen gemacht? Die Dionysienzeit war zurückgekommen... Ja schöner noch! Vom langen Entbehren geweiht, durchglüht. Nachzitternd vom überstandenen Schmerz. (Wie ein Kind, das geweint hat und noch manchmal aufschluckt.) Der brennende Durst durchzogener Wüsteneien, der so lange aufgesparte Durst, gesättigt aus dem Brunnen seiner Jugend, über den man sich hingeworfen mit Mund und Brust und Leib ...

Er faßte von neuem ihre Hand. Mit inbrünstigem Druck. Sie lag wie tot in der seinen.

»Deine Hand ist kalt, Nina,« murmelte er und strich mit der Linken über ihr blondes Haar. »Sie soll wieder warm werden. Ich befreie dich aus deiner Totengruft hier. Du bist lebendig begraben gewesen. Daher deine Leichenfarbe. Daher dein ganzes Leiden.«

»Meinst du? Glaubst du?« fragte Nina lebhafter.

Brandstädter nickte.

»Alles kommt daher. Auch dein heutiger Anfall wieder. Es war hohe Zeit, daß ich kam und dich erlöste. Mache deine Rechnung mit Ewald. Wir reisen heute abend. Bleibt es dabei?«

Nina hatte ihm ihre Hand entzogen. Sie stand in sichtlicher Unruhe da.

»Was weißt du von meinem Anfall? Wer hat dir was gesagt?«

»Frau Bartholdy,« erwiderte Brandstädter verwundert. »Der Arzt war doch da. Ist es ein Geheimnis?«

Nina schüttelte nervös den Kopf.

»Ein Geheimnis ist es nicht... Was hat dir Sophie gesagt?«

»Nichts weiter als das. Du bist so wunderlich.«

Nina schien aufzuatmen.

»Dann ist es gut. Ich gehe jetzt und mache mich fertig. Für die Reise.«

Sie schwieg einen Augenblick, als ob sie über etwas nachsinne. Und dann, als ob es ihr einfiele:

»Gib mir noch die Hand zum Abschied.«

Sie streckte ihm ihre schmale Hand hin, ohne die Augen aufzuschlagen.

Brandstädter runzelte die Stirn.

»Du tust, als ob wir nicht zusammen gehen wollten? Willst du denn erst nachkommen?... Nina! Nina!«

»Ich könnte ja auch vorangehen,« meinte sie und verzog ein wenig die Lippen. »Also lebe wohl für jetzt!« fügte sie rasch hinzu. »Und Dank für alles von Galathea!«

Ihre dunkelgrauen Augen waren noch einmal zu ihm aufgeschlagen. Dann wandte sie sich ab und ging mit schnellen Schritten den engen dämmerigen Gang hinunter, zwischen den rechts und links hängenden Ahnenbildern der Serbelloni, die aus ihren verblichenen Goldrahmen dem jungen blonden Weib nachzublicken schienen.

Brandstädter sah sie hinter einer Ecke des langen winkligen Ganges verschwinden. Er schüttelte den Kopf und stieg, ohne recht zu wissen, was er wollte, wieder die Treppe zu seinem Obergeschoß hinauf.


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