Max Halbe
Jo
Max Halbe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7

Sophie hatte neulich nicht grundlos über Brandstädters unstetes und verfallenes Wesen geklagt, über sein tagelanges Verschwinden, sein geistiges Abwesendsein. Er selbst fühlte, daß die Wellen seines Lebens jählings dem großen Katarakt zutrieben, jenseits dessen das unerforschte Land lag. Oder sollte man es das unentdeckte Meer nennen? Welcher Name war der richtigere für das, was hinter den Stromschnellen kam? Und ob auch die Vorstellungskraft sich Flügel lieh und in das Dunkel vorzustoßen versuchte: gewisse Kunde brachte sie nie zurück. Würde nach dem ungeheuren, sinnbetäubenden Absturz durch die Wirbel und Schnellen der Strom gleichsam als ein wiedergeborner im neuen Bett und dennoch als die Fortsetzung des alten weiterfließen, oder würde er in dem unermeßlichen Ozean des Alls verschwinden? Verjüngung oder Vernichtung? Aufstieg auf der Himmelsleiter des Einzel-Ichs mit immer höherer Bewußtheit, immer feinerer Ausmeißelung, oder aufgelöstes Verfließen in der gleichgültigen Schöpfungsflut ewigen Werdens und Vergehens? Fortdauer zu einem höchsten Ziel und Zweck hin, oder ewige chaotische Bewegung nur um der Bewegung willen? Dies war die Frage, auf die es keine Antwort gab.

Wenigstens keine Antwort des Wissens. Nur eine Antwort des Glaubens. Hierüber täuschte sich Brandstädter nicht. In allen Zerfleischungen und Betäubungen der letzten Jahre hatte sein messerscharfer Verstand diese Grenze festzuhalten gesucht, mochten auch Phantasie und Wunsch weit darüber hinausfliegen. Gewißheit des Wissens konnte es nicht geben, nur Überzeugtheit des Glaubens. So lautete die Formel, die er schließlich gefunden hatte und die er sich täglich wiederholte, mit der krampfhaften Todesangst eines über dem Abgrund Schwebenden, der das tragende Seil langsam nachgeben fühlt und alle Augenblicke mit tastenden Fingern sich zu vergewissern sucht, wie lange es noch halten wird.

Und doch war eigentlich alles schon entschieden, ohne daß er selbst es merkte oder es sich eingestand. Der Glaube hatte das Wissen verdrängt und sich selbst an dessen Stelle gesetzt. Ganz still und geheim war diese Wandlung eingetreten gleich einem fremdexotischen Rausch, dem man widerstandslos verfällt, während man doch nüchtern und aller seiner Sinne mächtig zu sein glaubt. So war auch jene Formel, durch die Brandstädter sich vor dem Sturz ins Bodenlose bewahrt meinte, nur mehr eine Weisheit seiner Lippen, nicht seines Herzens, und was in Wirklichkeit ihn lenkte und bewegte, das war eben doch der zum Wissen gewordene Glaube. Der Glaube – mit einem Wort – an die Unzerstörbarkeit seines Ichs und dessen immer höheres Emporsteigen in der Unermeßlichkeit der Zeiten und Welten.

Wann und wie der erste Keim dieses Gedankens in ihn hineingekommen? Er wußte es heute selbst nicht mehr. Er erinnerte sich, daß er bis zur Höhe seines Lebens, bis in seine vierziger Jahre hinein, ein unerbittlicher Verneiner jedes Anspruchs auf persönliche Fortdauer und Unsterblichkeit gewesen war. Nur Kranke, Schwache, vom Leben Zermürbte, so urteilte er damals, klammerten sich im Schiffbruch an den Strohhalm des Jenseits. Nur wer an sich selbst litt, suchte Betäubung im Becher des Glaubens. War nun auch er so weit? War es wirklich Schwäche, Krankheit, Verfall, was jetzt alle seine Sinne besaß und ihn sein ganzes früheres Denken als einen Irrweg empfinden ließ? Gingen in den Unter- und Hintergründen seiner Seele vielleicht auch die Geister seiner Vorväter um, der frommgläubigen Pfarrherren von Deutsch-Güldenau, die den abtrünnig gewordenen Enkel zu sich zurückwinkten?

Und wenn es nun so wäre, was änderte das? Spuken doch um jeden von uns Gespenster der Vorfahren und strecken geheimnisvoll die Arme nach ihm aus, um ihn auf dem Pfade ihres eigenen Lebens festzuhalten und ihr blutloses Schattendasein wie mit einem Hauch warmen Menschenlebens zu beseelen! Und wenn es ein Zeichen von Krankheit, Schwäche, Verfall sein soll, an Fortdauer auf immer höherer Stufe zu glauben: sind nicht Krankheit, Verfall, Schwäche schließlich ebenso natürliche und darum berechtigte Erscheinungen des Lebens wie Gesundheit und pausbäckige Kraft, die lachend über alle Abgründe hinwegsetzen? Muß denn Gesundheit unter allen Umständen schärfer blicken, treffender urteilen, als Krankheit, selbst da, wo es sich um Fragen hinter dem Leben, jenseits aller Erfahrung handelt? Gesundheit... Krankheit... Worte! Worte! Nichts als verschiedenfarbige Strahlungen eines und desselben Kristalls! Weshalb soll das Rot hier mehr über die Natur des Kristalls aussagen als das Violett da oder umgekehrt? Sie alle, diese Schwingungen und Brechungen, das ganze Farbenspiel des Lebens, sie stammen aus der gleichen Kraftquelle, sind Äußerungen, Erscheinungsformen des gleichen Urbegriffs; aber wie dieser Begriff, diese Kraft selbst im Innersten beschaffen ist, darüber schweigen sie. Es läuft immer wieder auf den unüberbrückbaren Zwiespalt hinaus: Erkennen oder Glauben. Im Erkennenwollen erfahren, daß man niemals erkennen kann, wenigstens nicht mit menschlichen Verstandesmitteln, oder im Glauben, Ahnen, Schauen sich zu einer Art von höherem, jenseitigem Wissen hindurchringen.

Im Dunkel dieser Jahre war Brandstädter von der einen Straße auf die andere hinübergekommen, ohne die entscheidende Wandlung selbst gewahr zu werden. Wie fern lag es nun schon, daß er sich seines robusten Erdentums und Diesseitswesens mit Stolz bewußt gewesen war. Flach, spießbürgerlich, gemeinplätzlich, herdenmäßig erschienen ihm jetzt jene Gedanken von der Gleichordnung des Menschen mit der Käsemilbe, jene Kraft- und Stofftheorien, die ihm einst der Gipfel aller Kühnheit gewesen waren. Heute dünkten sie ihm Weisheit von Volksversammlungspredigen und Sonntagnachmittagsaufklärern. Krank nannten ihn seine ehemaligen Weggenossen? Verfallen? Abtrünnig? Untergangsreif? Nur noch die Mine seiner selbst? Die große Scham und Enttäuschung seiner Freunde, seiner Anhänger? Der Kritik, des Publikums? Aller derer, die auf ihn gehofft hatten? Die den Fortschritt der Menschheit mit seinem Namen verknüpft hatten? Gut! So wollte er krank, abtrünnig, untergangsreif sein. Wollte sich die Scham seiner Freunde, die Ruine seiner selbst nennen lassen. Sie sollten ihn verketzern, beschimpfen, anklagen, zum Schandfleck, zum Auswurf der Menschheit machen. Rechtfertigte das nicht gerade seinen neuen Glauben, sein junges Wissen von sich selbst? Nur was vollkommen ist, ist fertig, ist ein Ende, dem keine Fortsetzung mehr folgt. Vollkommenheit heißt Rückkehr in den Schoß des Einen, Ewigseienden, zum Ausgangspunkt aller Dinge, heißt Stillstand und Ende ohne Ende. In ihm aber, dem Kranken, mit sich Zerfallenen, Enttäuschten, Gescheiterten, Besiegten war die Sehnsucht nach Bessermachen, der heiße Drang, von vorne anzufangen, die Karten von neuem zu mischen, wie der bankerotte Spieler abermals und immer wieder sein Glück zu versuchen.

Mit einer Art von Wollust hatte er sich in diese Rechtfertigung seines neuen Jenseitsglaubens hineingewühlt: Sein Leben war verfehlt, sein Spiel verloren, also durfte es nicht nur dieses eine Leben, dieses einzige Spiel geben, es mußte die Aussicht, die Hoffnung, ja, einen Schritt weiter, die Gewißheit bestehen, daß noch andere, noch viele Leben und immer neue Spielmöglichkeiten kommen würden, um es das nächstemal besser zu machen, den Kampf mit sich selbst und mit dem Schicksal glücklicher zu führen und nach und nach zu immer höheren Formen seines Ichs aufzusteigen.

Es war also nicht Hochmut und Pharisäertum – so viel durfte er sich selbst eingestehen –, was ihn die Unbilden und Schmähungen der Welt durch eine Art von selbstgefälliger Verklärung des eigenen Lebensbankerotts beantworten ließ. Es war das wahrhaftige, inbrünstige Gefühl der Unzulänglichkeit, die innerste Durchdrungenheit von seiner Niederlage, was ihn mit einer Sehnsucht ohnegleichen erfüllte nach jenem neuen Licht hinter dem Todesdunkel, nach einer ausdrucksvolleren, umfassenderen und glücklicheren Gestaltung des Problems Friedrich Brandstädter.

Aus dem Bewußtsein der Nichtigkeit des Vollbrachten und Gelebten war der Alternde zu der Notwendigkeit einer Wiederkehr in neuer, verjüngter Form, einer Fortsetzung und Vervollkommnung des abgebrochenen und hingeworfenen Lebensfragments gelangt: ein kleiner Gedankensprung, eine Wendung um die Ecke, und er stand vor jener ernsten Seitenpforte des Todes, die sich auf das Zauberwort freiwilligen Entschlusses öffnet.

Warum das Ersehnte, das Erlösende noch lange hinausschieben? Wozu dem eigenen Untergangsprozeß bis zum letzten jämmerlichen Ende beiwohnen? Ein kurzer, entschlossener Ruck der Seele, ein schneller, selbstvergessener Anlauf, und der Sprung in den dunklen Schlund des Verjüngungsbrunnens war getan.

Und doch hatte er solange gezögert! Zögerte noch weiter! Wie kam das? War es Feigheit? Das geheime Grauen der Kreatur vor dem Unbekannten, Ungewissen, das es allem Ahnen, Fühlen zum Trotz doch immer blieb? Geizte er wie der zum Tode Verurteilte um jeden Tag armseligen Lebens, der die Qual nur verlängert und doch als ein bekanntes, übersehbares Übel der zagenden Seele immer noch erträglicher erscheint, als das tausendmal Erwogene, Bedachte und doch Unfaßbare und Irreparable jenes Zustandes nach dem Tode?

Gleichgültig, wie es damit stand – und er wollte sich nicht besser machen, als er war, wollte keine Feigheit, keine Schwäche, die in ihm waren, ableugnen, sein Leben lang hatte er die Art eitler Menschen, sich selbst zu betrügen, gehaßt und hatte fast seinen Stolz darein gesetzt, sich vor aller Öffentlichkeit anzuklagen, zu erniedrigen, zu entblößen – ganz gleich also, ob es ihm wirklich an dem nötigen Mut fehlte oder nicht: aber es war noch zweierlei zu tun für ihn in dieser Welt, ehe er daran denken durfte, an jene Pforte zu klopfen, durch die es kein Zurück gibt...

Das eine Geschäft war die Beendigung seines Werkes, seiner großen Bekenntnistrilogie, deren erste Anfänge bis in seine Jugend zurückreichten, um die er ernstlicher und heißer aber erst in den letzten Jahren gerungen hatte. Das andere war das Wiedersehen und die Auseinandersetzung für immer mit Nina von Ewald.

Auf seinen langen, einsamen Wanderungen bis in die entlegensten Fernen des Parks und durch das Dickicht von Wald und Schlucht, das den Park wie eine Tarnkappe umschloß, hatte Brandstädter sich diesen Stand seines Lebensprozesses wie mit dem Seziermesser zerlegt.

Große Stücke seines Werkes, eigentlich die beiden ersten Dramen der Trilogie, waren so gut wie fertig. Die Schlußtragödie war noch Fragment. Sollte sie zu Ende geführt werden? Sollte sie Fragment bleiben? Seine Stimmung wechselte. Was lag an der ganzen Arbeit! Ob sie bestand, verging, wuchs, fertig wurde, blieb, wie sie war, wer nahm Anteil daran! Das Zeitalter hatte wichtigere Sorgen. Jüngere waren aufgetreten, sprachen mit anderen Zungen zu anderen Ohren, als es die seiner Jugend gewesen waren. Sie hielten sich für größer und wurden von den ihrigen für größer gehalten, als alles was es vorher gegeben hatte. Sie waren die Erfüller, er und seinesgleichen bestenfalls Vorläufer. So wollte es die herrschende Formel. Auf wie lange? Dann kamen wieder Neue, die noch größer waren als die jetzigen und wiederum diese in den Schatten rückten, sie zu Vorläufern machten, sich selbst aber als die großen Vollender hinstellten? Und so ging das fort. Konnte man nicht beinahe lächeln über die blutige Ironie dieser Gesetzmäßigkeit, der zufolge jedesmal das neue Geschlecht das vorhergehende auffraß, um über ein kurzes seinerseits von dem hinterherkommenden aufgefressen zu werden?

Lächeln! Aber schmerzte es darum weniger? War man nicht ein Geschöpf von Fleisch und Blut, welches das alles zu leben, zu fühlen, zu leiden hatte? Warum wurde man alt, um dies zu erfahren? Hatte er nicht, da er jung war, ebenso gedacht, wie die, die es jetzt waren? Hatte er nicht ganz genau so das Absolute zu besitzen geglaubt, und spät erst begriffen, daß auch dies nur relativ war? Gab es in dem reißenden Fluß der Dinge nirgends einen festen Punkt, um seinen Fuß darauf zu stemmen, sich und sein Werk auch gegen die Strömung aufrechtzuhalten? Warum hatte es die Vergangenheit gekonnt? War man soviel schwächer als sie? Vielleicht kam alles nur darauf an, daß man aushielt, wie sie, ja noch mehr – daß man sich für sein Werk zu opfern verstand? Lag hier vielleicht der Kernpunkt des Problems? Und wuchsen die Enden des Ringes, in dem sein Leben sich beschloß, vielleicht gerade hier ineinander?

Rudolf und seine »Jo« beschäftigten ihn jetzt oft. Der junge Mann war in der letzten Zeit der »Dionysien« sein Adjutant, sein Schüler gewesen, hatte zu ihm als dem Führer, dem Meister aufgesehen. Heute – wenige Jahre später – probierte man hier auf der Waldbühne neben »Tasso« und »Sommernachtstraum« als einziges Werk eines Lebenden das Drama ebendieses seines einstigen Adepten, diese »Jo«, als handle es sich um die Entdeckung eines neuen Weltgenies, und eine große, einflußreiche Gesellschaft von Kennern, Mitläufern und Snobs, Thomas Neubauers »Funkenturm«, wurde zur Patenschaft aufgeboten, wie wenn Goethe in Person aus der Taufe gehoben werden solle. Warum war keiner auf die Idee verfallen, sein neues Werk vor einem so erlesenen Kreise aufzuführen? Wieviel Mißachtung lag darin! Welch höhnisches Hinwegsehen über einen, der doch ebensogut noch da war, der doch atmete, kämpfte, glühte, gleich dem Jüngsten, in dem die Leidenschaft der Arbeit, des Ehrgeizes, der Menschenverachtung noch wühlte und brauste wie die Triebräder und Kolbenstangen in einem Eisenwerk.

Ja, sich selbst durfte er es sagen: er war noch der alte Waffenschmied und Hammerschwinger wie nur je, aller Geheimkünste und Urkräfte Bändiger, Beschwörer und Hexenmeister.

Sein letztes Werk, sein großes Fragment, das doch weit mehr war als nur ein Fragment, verlieh ihm den starken Glauben, die ruhige Kraft seiner selbst wieder. Was tat es, daß niemand in dieser Welt wußte, wer Friedrich Brandstädter wirklich war! Daß er unerkannt und unbegriffen seine Straße hinieden wandelte, ein Fremdling selbst denen, die seinem Herzen am nächsten standen! Gehörte es sich nicht so für Leute seines Schlages? Er hatte sein Geheimnis gut bewahrt, wie jemand einen unscheinbaren Ring am Finger führt, in dem doch alle Wunderkraft der Erde steckt. Jede Wonne und jede Qual dieses Sterns hatte ihm der Ring erschlossen, hatte ihn durch alle Himmel und alle Höllen getragen, über Abgründe, Meere, Bergesspitzen und zu feinsten Morgenröten hin. Die Geister der Kunst hatte er ihm Untertan gemacht bis zu diesem Augenblick.

Jetzt war der Ring ihm noch das Letzte, Höchste schuldig, ehe man ihn den Elementen zurückgab: Nina mußte wieder in seine Gewalt. Er hatte versucht, ohne sie zu leben, diese Jahre hindurch. Er hatte gekämpft, gerungen, gegen sich selbst gewütet... Umsonst! Sie war in seinem Blut wie ein erlesenes, langsames aber tödliches Gift. Vielleicht war alles andere, was ihn bedrängte, ihm das Leben zur Last, den Tod zur Hoffnung machte, nur eine Umschreibung für dieses tiefste Leiden, das wie ein feiner, spitzer Bohrer gerade an seinem Mark angesetzt war. In hellen Augenblicken erkannte er das. So war allmählich der Entschluß in ihm aufgewachsen, Nina noch einmal wiederzusehen und seine Sache mit ihr zum Austrag zu bringen.

Sie mußte in seine Gewalt zurück. Um mit ihm zu leben? Mit ihm – wann hatte er sich das zum erstenmal gefragt? – mit ihm zu sterben? Er wollte sich noch keine Rechenschaft darüber ablegen. Er wollte sich von den Umständen tragen lassen, wie der Schwimmer von den Wellen. Sie würden ihn ja wohl stromab führen und irgendwo, irgendwann, vielleicht nicht allzu weit, kam das Meer. Was lag an diesem kurzen Aufschub, nachdem er solange gewartet hatte! Vielleicht würde es ein letztes großes heiliges Fest des Lebens werden, gleichsam ein Dankopfer an diese sonn- und mondbeglänzte, traumumsponnene Kugel, ehe er sein und Ninas Boot mit eigenen Händen von ihr abstieß.

Wie stand es um sie beide? Ahnte Nina, was die stummen Gedanken in ihm sprachen? An jenem Morgen nach seiner Ankunft in Dietramsried, vor bald vierzehn Tagen, die kleine Probe aufs Exempel... Alle seine Kraft war auf das eine Ziel gesammelt gewesen, wie die Sonnenstrahlen im Brennglas: Nina sollte tun, was er ihr im stillen befahl. Sie sollte von Rudolf fort, zurück über die Brücke und her zu ihm, der unten am Bach stand und die graugrünen Wellen vorüberhüpfen sah, als wären es die Stunden seiner Jugend. Und das Experiment war geglückt. Prospero hatte den Zauberstab seines Willens geschwungen, und Ariel war zur Stelle. Galathea war vor ihrem Meister erschienen, seines Winkes gewärtig, wie nur je in den Blütetagen seiner Kraft und Herrlichkeit, jenes großen »dionysischen« Zeitalters, wohin jetzt, da dessen Siegeswimpel immer ferner entglitten, die Sehnsucht um so zärtlicher die Arme breitete.

Nur wenige Augenblicke hatte damals am Bach der geheime Bann angehalten, der traumhafte Zwang seines Willens über sie, aber es war genug, um ihm zu beweisen, daß noch die alte Macht bei ihm war, sobald er sie rufen wollte. Nina schien sich ihm seit jener denkwürdigen, wortlos verbissenen Szene zu entziehen. Fürchtete sie ihn? Hatte Rudolf die Zügel fester gestrafft? Er hatte sie immer nur in Gesellschaft getroffen. Neulich waren sie sich mitten im Wald begegnet, aber Barbara Frantzius war bei Nina gewesen. Man hatte ein paar gleichgültige Worte gewechselt (in denen doch irgendein geheimer Unterton mitklang?) und hatte sich getrennt. Die beiden Frauen waren hinter einem Erdbeerhang verschwunden. Er hatte auf seinem Baumstumpf weitergegrübelt wie ein Säulenheiliger. Vermochte sein Wille nicht einmal so viel, daß er Nina zwingen konnte, sich ihm von Angesicht zu Angesicht zu stellen?

Die alten Zweifel an sich selbst, an der Trag- und Spannweite seines Kraftfluidums, hatten sich wieder gemeldet. Das war wie mit einer Horde von Wegelagerern, die den einsamen Wandersmann mitten im Wald überfällt. In Schweiß gebadet, schachmatt und an allen Gliedern wie gelähmt war er heimgetaumelt und hatte sich wie ein Geschändeter in seiner kühldämmrigen Schloßstube vor den Augen der Neugierde vergraben.

Aber der Gedanke, Nina durch nichts als durch seinen Willen, gleichsam durch seine eigene magnetische Schwerkraft auf seine Bahn zu ziehen, wie der Planet den Meteorstein, dieser trunkene Gedanke ließ ihn nicht los. Eines Spätnachmittags befand er sich irgendwo im fernsten Teil des Parks. Er war lange, vielleicht seit Stunden, so vor sich hingegangen, die Hände auf dem Rücken, den Kopf auf der Brust, manchmal mit dem Stock Figuren in die Luft oder in den Staub des Weges zeichnend. Bilder und Szenen aus seinem Roman mit Nina waren wie so oft vor ihm aufgetaucht, in regellosem Durcheinander, wie wenn von einem überschwemmten Landstrich die ablaufenden Wasser hier, da, dort ein Stückchen Wiese, eine Sandbank, ein Weidengebüsch oder eine blühende Rosenhecke dem Blick freigeben, dies alles jedoch sogleich von neuem überstrudeln und begraben.

Was für ein Kirchhof war man doch! Da schliefen die Erinnerungen von Zehntausenden von Lebensstunden; die sich bekriegt und zerfleischt hatten gleich lebendigen Menschen, schliefen friedlich nebeneinander den letzten Schlaf, ein unendliches Gräberfeld, nur wenige Kreuze und Steine sichtbar über der Menge, weitaus die allermeisten namenlos, von ewiger Vergessenheit bedeckt. Aber es kamen Augenblicke in totenstiller Nacht oder im rätseldunkeln Rauschen uralter Bäume, wenn die Sonne sank, wie jetzt: da stiegen diese Zehntausende von Lebensstunden aus ihren Grüften und begannen ein gespenstisches Wiegen und Neigen und Drehen.

Was war der Sinn dieses Geistertanzes? Wollten sie uns aus ihrem Jenseits die späte Erklärung ihres einstigen Diesseits übermitteln? Aber wer verstand ihre Zeichensprache? Wer las in ihrer Bilderschrift? Was war es, das Menschen so aneinanderband, so unzerreißbar verkettete, daß nur Vernichtung (und wer weiß ob diese) sie trennen konnte? Waren es chemische, physische, transzendente, tellurische, siderische Kräfte? Was zog den Mann zum Weib? Und gerade zu diesem unter den Millionen, die es gab? Und dann doch wieder nicht zu diesem allein? Auch zu so vielen andern? Und von diesen andern wieder zurück zu jenem einen, einzigen? Was liebte, begehrte man an diesem einen, einzigen, das man nicht auch bei den andern vielen gefunden hätte? Wonach hungerte man gerade bei ihm, womit einen nicht ebensogut die andern hätten sättigen können?

Was war das für ein tückischer, sich einkrallender, markaussaugender Alp, den man nur mit dem Leben zugleich abwerfen konnte? Und warum mußte dieser Alp, dieser Vampir gerade diejenige sein, die ihm durch die kupplerische Gefälligkeit des Lebens zugefallen war wie eine reife Birne vom Ast? Warum dieser geschmeidige, sündhafte Leib gerade ihr gehören, die ihm nun doch so viel mehr geworden war als eine reife Birne und als ein sündhafter Leib?

Ja, da lag es! Daß über die dumpfen, schwülen Sinne hinaus so etwas wie eine Seele angefangen hatte, mitzusprechen. Weshalb hatte sich das vereinigen müssen, um ihn zu foltern? Wäre ihm jedes für sich begegnet, Seele oder Leib, keines von beiden hätte ihn so niedergeworfen. Aber daß es in einem Menschengeschöpf beisammen war und daß dieses Menschengeschöpf ihm, gerade ihm hatte in den Weg treten müssen, darin lag der frevelhafte Unsinn des Schicksals, gegen den man hilflos war.

Er hämmerte sich mit den Fäusten vor die Stirnhöhle, als solle dem Verstand da drinnen Generalmarsch getrommelt werden, und ächzte laut auf. Was faselte man da von einer Seele! Es war nichts als das Fleisch, das seelenlose, geistverlassene, mit einer glatten weißen Epidermis tapezierte Fleisch, in das er sich verliebt hatte. Die Rache des Stoffs war es, der Materie, an ihm, ihrem lebenslangen Verächter. Der Triumph des Fleisches über den Geist, der sein Götze gewesen war von Jugend an. Jetzt, da er mit grauen Haaren umherging, kam die Vergeltung. Alle die ungenossenen Genüsse, die ungehabten Räusche, all das ungelebte Glück: sie standen schlaftrunken gegen ihn auf, umschlangen ihn wie mit nackten Armen, drängten sich an ihn mit weichen Brüsten.

Wie nannte man denn so eine, wie Nina war? Konnte sie nicht jeder haben, der nur den Finger um sie rührte? Und hatte sie nicht ein jeder so gehabt? Seit damals, wo er sie aus den Händen von Sorgius übernahm? Von jenen früheren ganz zu schweigen, die vielleicht vor Sorgius gewesen waren? Hatte dieses Weib wohl einen von ihnen allen geliebt? Ihn selbst? Oder Sorgius? Oder Neubauer, denn Neubauer mußte ja wohl auch darunter gewesen sein? Oder Rudolf jetzt? Oder Ewald, als er ihr das Glück von Dietramsried brachte? Hatte sie einen einzigen von ihnen allen geliebt? Konnte sie überhaupt jemanden lieben? War es nicht eben das, daß sie keine Seele besaß und jeder nur seine eigene Seele in sie hineinzauberte, nach der Art jener Undinen, jener Nixen und Elfen, die als Zwischengeister in den Elementen hausen, aber manchmal von einer dunkeln Sehnsucht getrieben sich in Menschengestalt verirren und ringsum Verderben stiften? War sie von dieser Klasse? Oder was war sie sonst? Wie hieß das Schlüsselwort, mit dem man sie bezwang?

Sie sollte ihm Rede und Antwort stehen. Auf der Stelle sollte sie vor ihm erscheinen. Jetzt, in diesem Augenblick! Er befahl es ihr. Wenn sie aus den Elementen stammte (und wohl auch dahin zurückkehrte, seelenlos wie sie war), so hatte sie ihm, der Elemente Herrn und Meister, zu gehorchen.

Er stand mit geschlossenen Augen, die Fäuste nach innen gekrampft, wie ein Ringer, bevor er sich auf den Gegner stürzt, und bannte alle Ströme seines Willens in den einen Blitzstrahl, der schneller, als der Pulsschlag braucht, in die Ferne zünden sollte. Die Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn und feuchteten sein Zwickerglas. Das brachte ihn zu sich selbst zurück. Seine Lider öffneten sich. Seine Brust ging in kurzen Stößen. Wo befand er sich? Das Glas auf der Nase war wie eine beschlagene Fensterscheibe. Er nahm es herunter und wischte daran. Jeder Nerv an ihm knisterte, wie bis zum äußersten mit Kraft geladen, gleich einer elektrischen Batterie, deren Berührung Lebensgefahr bringt. War das nicht ein Gefühl, Gott gleich zu sein, im Zentrum der Kraft zu stehen und Ströme auszusenden, die töten konnten?

Er sah mit trüben Augen um sich. Die Gegend des Parkes war ihm fremd. Die runzligen Eschen und Ulmen standen dichter beieinander als in andern Teilen des Parkes. Verwildertes Unterholz verwehrte den Durchblick. Ein schmales, schmutziggrünes Gewässer schlich zwischen den Holunderbüschen dahin und bildete hier und da breite Lachen und Tümpel, die wie Seifenblasen schillerten. Der sumpfige Moorboden federte bei jedem Schritt wie ein Gummiteppich. Die Sonne, die solange als große reife Zitrone auf dem goldenen Wolkenteller drüben am Waldrand gelegen hatte, war verschwunden. Es war, als habe der himmlische Tafeldecker sie mitsamt ihrem Golduntersatz vor den aufsteigenden Geistern der Nacht in Sicherheit bringen wollen. Und doch war es wohl noch gut eine Stunde bis zum späten Sonnenuntergang des Juliabends. Ein eigentümlich graues und bleiernes, sozusagen lichtloses Licht hing über den Wipfeln der uralten Bäume, obgleich der Himmel weithin fast unbedeckt schien und nur gegen Abend ein blasses gelbliches Wolkengemäuer sich erhob.

Brandstädter hatte plötzlich das Gefühl, als befände er sich am Rande der Welt oder als sei ihm, während er durch ein Stereoskop blickte, an Stelle der bekannten und gewohnten Bilder eine gänzlich fremde Landschaft wie von einem andern Stern oder aus einer weit zurückliegenden Erdepoche in das Gesichtsfeld geschoben, nur mit dem Unterschied, daß dies kein Bild, sondern Wirklichkeit war. Ein leiser Friesel, aus seiner eigenen Zeit entrückt und in ein fremdes Jahrtausend verschlagen zu sein, lief ihm über den Rücken. Das war, wie wenn ein Vogel plötzlich durch Kiemen atmen sollte oder ein Wurm durch Lungen. Man starb an dem Experiment. Mußte es nicht ebenso dem Menschen ergehen, der aus der Luft seiner Zeit und Welt hinweggerissen plötzlich ein fremdes Fluidum atmen soll?

Brandstädter lachte ingrimmig auf. War das der Geist, der sich vermaß, Gott gleich im Mittelpunkt der Kraft zu sein und Ströme auszusenden, die Menschen herbeirufen, Menschen töten konnten? Der Raum, Zeit, Kausalität gebieten wollte und zitternd in die Knie brach, wenn Zeit und Raum plötzlich wie auf ein Zauberwort ins Riesenhafte wuchsen und Fangball mit ihm zu spielen begannen? Wurm, der er war! Armselige Schnecke, die ihr Gehäuse für das Weltall nahm! Er blies die Backen auf und stieß heftig die Luft aus, als müsse ihm das helfen, zu sich selbst zurückzufinden. Seine Brust ging ruhiger. Er fühlte, daß die unnatürliche Spannung seiner Nerven nachließ. Der Pfad, auf dem er sich befand, führte jetzt dichter an dem schleichenden grünlichen Parkwasser entlang. Schlingpflanzen bedeckten die gleißenden, moorigen Lachen, zu denen es sich hier und da erweiterte. An einer Stelle nickten ein paar blühende Seerosen über dem Sumpf. Brandstädter langte mit dem Griff seines Stocks nach den Stengeln, die wie Gummischläuche ineinander verschlungen waren, aber er reichte nicht hinüber.

Mitten im Gehölz schwang sich, ganz unerwartet, ein schlankes Brücklein mit einem zierlichen schmiedeeisernen Gitter über das giftgrüne Gewässer, das wohl ein toter Arm des den Park durchströmenden Baches sein mochte. Jenseits des Brückleins schimmerte aus dem Dickicht eine Marmorfigur neben einer verwitterten Steinbank. Das erinnerte ihn – er wußte selbst nicht warum – wiederum an Nina. Ob sie wohl kommen würde? Ob die Reichweite seines Willens stark genug war, sie herzuziehen?

Er ging wie in Erwartung von etwas, das erscheinen, das geschehen mußte, über das hübsch geschwungene Gitterbrückchen und hielt nachdenklich vor dem nackten Marmorbild, durch dessen rechten Oberschenkel ein breiter Sprung klaffte, so daß das dazugehörige kokett vorgestreckte Bein gleichsam für sich auf dem Sockel zu stehen schien. Die etwa lebensgroße Figur gemahnte ihn in dem gefälligen Ausmaß ihrer Glieder, in der schlanken Fülle des Wuchses an irgend etwas, worauf er sich nicht gleich besinnen konnte. Aber als er den Blick erhob und die Gesichtszüge des Marmorbildes näher ins Auge faßte, durchzuckte es ihn plötzlich, daß dies ja Nina, niemand anders als Nina sei. Welch eine unerwartete Erfüllung seines Befehls! Hier also stand sie und wartete auf ihn!

Er mußte lächeln. War das die Absicht? Hatte er sich die Wirkung seines Willens so gedacht? Er versenkte sich in den weichen Fluß dieser Glieder, zeichnete mit dem Finger die wohlbekannten Züge des Gesichts in der Luft nach: die Linie der Augenbrauen, die so charakteristisch war, die schmale griechische Nase, die auch hier wie bei dem Urbild ein ganz klein wenig, kaum merkbar, abgestumpft schien, die vollen sinnlichen Lippen mit dem leisen Spott um die Mundwinkel. (Worüber wohl? Über sich selbst? Das eigene Geheimnis? Über die andern, die ihm nicht auf den Grund kamen?) Dies alles war einmal sein gewesen, diese Schultern und Arme von vollkommenem Ebenmaß, die schön gebildeten Brüste, das göttliche Dreieck des schlanken Leibes... Er hatte es besessen. Er besaß es nicht mehr, würde es in Ewigkeit nicht mehr besitzen.

Ein wütender Schmerz fiel ihn an wie ein böser Hund.

Nach einer Weile öffnete er die Augen und sah von neuem auf das Marmorbild. Sonderbar! War das noch die gleiche Figur, die vorher dort gestanden hatte? Eine Ähnlichkeit mit Nina war ja vorhanden. Und doch erschien ihm mit einemmal alles anders. Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, daß dies verwitterte, moosbegrünte Steinbild mit dem abgebrochenen, kokett vorgestreckten Bein die heute lebende Nina sein solle! Das wirkliche Modell dieser Marmornymphe war gewiß schon vor Jahrhunderten zu Staub zerfallen. Ein paar undeutliche Schriftzeichen auf dem Sockel zogen seinen Blick auf sich. Er beugte sich hinab. Galathee A D 1697 lautete die Inschrift. Also Barock – dachte er bei sich. Auch die Maße der Figur, die Stilneigung ins Längliche, Gestreckte, wiesen darauf hin. Und merkwürdig! Galathee! Das war nun wieder die Verbindung mit ihm selbst und der eigenen Geschichte. Mit seiner Galathea aus der Dionysienzeit, dem großen Bühnenerfolg seines Lebens. Was für geheime Zusammenhänge, gleich unterirdischen Gängen, das alles!

Er starrte vor sich hin und schüttelte den Kopf. Wer den Faden fände durch dies unterirdische Labyrinth unseres Schicksals, mit dem verglichen der äußere Bau unseres Lebens ein griechischer Tempel an Klarheit und Übersicht schien!

Schritte raschelten hinter seinem Rücken. Er schrak zusammen. Also doch Nina? Aber diesmal die wirkliche aus Fleisch und Blut, keine marmorne auf dem Steinpostament? Als er sich umdrehte, stand Sophie Bartholdy vor ihm.

»Hier muß man Sie suchen!« rief sie ihm entgegen. Auf seinem Gesicht mußte wohl eine leise Enttäuschung antworten, denn sie setzte nach einem Augenblick mit etwas fremdem Ton hinzu:

»Auf mich waren Sie wohl nicht gefaßt? Wer dachten Sie denn, daß da käme?«

Brandstädter murmelte ein paar unverständliche Worte. Merkwürdig! An Stelle der augenblicklichen Enttäuschung empfand er schon so etwas wie Erleichterung, daß es nicht Nina war und daß der ersehnte, gefürchtete Augenblick der Entscheidung noch um ein kurzes hinausgeschoben. Sein Blick ruhte auf Sophie, die heute in ihrem elfenbeinseidenen Jackenkleid besonders rosig und jugendlich aussah. Sie merkte seinen Eindruck und errötete ein wenig, was ihr nun erst recht einen mädchenhaften Anschein gab und Brandstädtern plötzlich wie mit dem Strahl einer Blendlaterne ihre gemeinsame Jugendzeit aus dem Zwielicht der Erinnerung aufleuchten ließ.

Sie fragte ihn, ob er sie zum Schloß zurückbegleiten wolle. Es sei ein ziemlich entlegener Teil des Parks, von etwas beängstigender Verwilderung, zumal jetzt, wo bald die Dämmerung hereinbreche. Er nickte und fühlte sich mit einemmal merkwürdig frei und leicht, wie seit langem nicht. Ehe sie den düsteren Platz verließen, glitt sein Blick noch über die marmorne Galathee und die Steinbank daneben, die, wie er jetzt erst bemerkte, auf der Lehne ebenfalls Schriftzeichen trug.

»Es ist dieselbe Jahrzahl wie auf dem Sockel der Figur,« erklärte Sophie, als ob sie seine Gedanken erriete, »Anno Domini 1697. Man sagt, der Gasparo Serbelloni, unser Blaubart hier, habe die Figur und die Bank aufgestellt. Wahrscheinlich zur Erinnerung an irgend etwas oder an irgend jemand.«

Sie gingen nebeneinander her. Beiden schien der Mund verschlossen. Nur dann und wann fiel ein Wort. Sophie wußte einen abkürzenden Weg zum Schloß zurück, auf dem es nun doch näher war, als Brandstädter angenommen hatte.

Nach einer Weile – sie hatten das Gehölz hinter sich und gingen auf einem sich dahinschlängelnden Pfad über die Wiesen – fragte Sophie wie beiläufig:

»Sagte Ihnen die Figur irgend etwas?«

Brandstädter sah sie verwundert an.

»Die Figur der Galathee,« erklärte Sophie. »Ob sie Ihnen etwas Besonderes sagte?«

»Kaum. Warum?«

»Sie waren so tief in Betrachtung versunken. Ich stand schon eine Zeitlang hinter Ihnen. Sie sahen und hörten nichts.«

Brandstädter zuckte mit den Achseln.

»Irgendeine Ideenverbindung. Vielleicht bin ich ihr einmal begegnet.«

»Wie merkwürdig!« lachte Sophie. »Anno 1697! Dann könnten Sie es ja mit den ältesten Karpfen hier in unserer Bucht oder im Schloßteich aufnehmen.«

Sie hatte von neuem ein Lachen, aber es kam Brandstädter gequält vor.

»Wir können es alle mit den ältesten Karpfen aufnehmen,« entgegnete Brandstädter. »Wir sind ja soviel länger unterwegs.«

»Ja so! Die Seelenwanderung!«

Sie sah ihn etwas scheu von der Seite an, ob es ihm wohl mit dem allen ernst sei oder nicht.

Er hatte den Kopf zurückgeworfen. Seine dunkeln brennenden Augen schienen in weite Fernen zu tauchen.

»Man wird wohl schon einmal hier gewesen sein,« murmelte er. »Daher die Erinnerung ... Daher auch vielleicht alles andere.«

Sophie antwortete nicht gleich. In den Worten des Jugendfreundes, von dem das Leben sie getrennt hatte, sprach etwas Fremdes, Geheimes mit, das sie zu ihrer Zeit so nie von ihm kannte und das dann doch wieder durch irgendeinen Unterton die Melodie ihrer Mädchenjahre erklingen machte. Endlich sagte sie:

»Es heißt, daß Ihre Galathee da, oder vielmehr die, die es einmal im Leben war, die letzte Geliebte des Gasparo Serbelloni gewesen sei. Er soll sie, wie alle vorher, in den See gestürzt haben. Aber dann hat sie sich und ihre Mitschwestern gerächt und hat ihn nachgezogen in den See.«

Sie schwieg. Dann setzte sie mit verändertem Ton hinzu:

»Aber was erzähle ich Ihnen da! Wenn Sie sie kannten, so wissen Sie es ja.«

Er nickte, ohne eine Miene zu verziehen.

»Blaubarts letztes Abenteuer! ... Ich erinnere mich.«

Die Sonne, die schon lange hinter den Wäldern gen Abend verschwunden war, mußte jetzt am Untergehen sein. Ihre letzten Strahlen fielen auf die Höhen am östlichen Ufer des Sees, strichen wie liebkosend über die dunkelrot aufblühenden Waldkämme dort drüben und bemalten die Kuppeln der hochgelegenen Dorfkirche mit grellem Glanzgold. Es war, wie wenn die große Mutter für immer von ihren Kindern Abschied nehmen wolle und vor dem Lebewohl noch einmal ihres unendlichen Segens ganze inbrünstige Fülle über ihre Geschöpfe ausgieße.

Sophie und Brandstädter waren unwillkürlich stehengeblieben, ergriffen von der erhabenen Feierlichkeit des Augenblicks. Denn jetzt begann auch im Westen das Firmament in immer tieferem, satterem Rot und Goldorange zu flammen, als ginge dort jenseits des Horizonts eine Welt voll Gluten und Farben in Brand auf und überschütte die Zurückgebliebenen wie mit einem ungeheuren Feuerwerk von Leuchtraketen und Lichtgarben.

»Erinnert Sie das nicht auch?« fragte Sophie nach einer Weile, als sie schon weitergingen.

»Woran?«

»An die Abendröten in Deutsch Güldenau und dann später am Weichseldamm? Überhaupt in unserer Heimat und in unserer Schulzeit?«

»Jene Abendröten waren düsterer, phantastischer, nordischer,« entgegnete Brandstädter. »Diese hier ist gleichsam ein südliches Spektakel. Italienische Farben und Stil. Ariost, Tizian, Giorgione. Dort war es Edda, Rembrandt, Ibsen. Im übrigen sind die Farben der Jugend ganz außer Vergleich mit irgendwelchen, die nachher kommen, gleichzeitig überirdischer und unterweltlicher als jedes spätere Erlebnis.«

Am dunkelnden Osthimmel erschien über den versunkenen Wäldern die breite, trächtige Riesenmelone des fast vollen Mondes.

Brandstädter hatte etwas auf der Zunge, das sich nicht lösen wollte.

»Wie kam es, daß wir uns gerade jetzt und gerade dort trafen?« forschte er endlich. »Sind Sie oft dort an dem Platz? ... Bei der Galathee des Gasparo Serbelloni?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ganz und gar nicht. Eigentlich ist mir die Gegend eher ein bißchen graulich. Ich gehe dem Blaubart am liebsten aus dem Wege. Aber heute zog es mich geradezu hin.«

»Es zog Sie hin?«

Sophie zögerte einen Augenblick. Dann fuhr sie fort: »Soll ich Ihnen sagen, daß ich Sie dort treffen wollte?«

Brandstädter blieb gebannt stehen.

»Ich war ja zum erstenmal dort!«

»Ganz gleich! Das Gefühl sagte es mir. Bei uns Frauen muß eben das Gefühl den Verstand ersetzen.«

Sie schwieg wieder, als kämpfe sie mit sich. Dann begann sie in raschem Fluß von neuem:

»Bleiben wir dabei, ich wollte, daß wir uns treffen. Sie sind mir so viel schuldig. Ich meine, von Ihrem Lebensbericht. Warum entziehen Sie sich uns? Warum verstecken Sie sich? Hier sind doch Freunde. Was hätten Sie mir nicht alles zu erzählen! Und ich... was hätte ich nicht alles zu fragen! Es ist ja ein kl eines Menschenalter her, seit dem Augusta-Ufer.«

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Auf ihren leise geröteten Wangen, soweit es die dichter sickernde Dämmerung erkennen ließ, schien ein halb schalkhaftes, halb verlegenes Lächeln zu irren.

»Und dann noch eins, was ich Ihnen sagen mußte, weshalb ich Sie treffen mußte: Sie haben ein großes neues Werk geschrieben. Aber niemand kennt es. Niemand weiß ein Wort davon. Zu keinem Menschen haben Sie Vertrauen. Haben wir das verdient? Wollen Sie es mir zu lesen geben? Mir allein vorläufig? Wollen Sie es ein bißchen mit mir halten, wie damals, als wir jung waren, die Iphigenie zusammen lasen und Sie mir Ihre ersten Verse zeigten?«

Sie sah ihn von neuem an und streckte ihm ihre wohlgeformte, nicht allzu kleine Hand hin.

»Wollen wir versuchen, so zu tun, als ob das alles nicht gewesen wäre, was uns ein bißchen grau gemacht hat an den Schläfen, und als stünden wir wieder da, wo wir uns zum letztenmal die Hand gaben, am Augusta-Ufer?«

Brandstädter wiegte den Kopf und legte zögernd seine Hand in die ihre.

»Es wird nicht ganz leicht sein,« sagte er langsam, »das alles wegzuwischen, womit das Leben uns angestaubt hat ... Vielmehr nur mich, nicht Sie...«

»Doch! Doch!« schaltete sie ein und deutete mit einer Art von drolliger Zerknirschtheit auf Schläfe und Scheitel. »Etwas schon! Hier und hier...«

»Die ganze Kruste von Dreck und Gift und Gemeinheit um uns herum, die man Schicksal nennt,« fuhr Brandstädter fort. »Es wird nicht ganz leicht sein, das alles wegzuwischen...«

Sie hielt seine widerstrebende Hand noch mit der ihren gefaßt und drückte sie leise.

»Versuchen Sie es ... Haben Sie Vertrauen. Nur ein ganz klein wenig Vertrauen.«

Er antwortete nicht. Er erwiderte nur den Druck ihrer Hand. Ihm war, als fühle er unter jener Kruste, mit der das Leben ihn gepanzert hatte, den warmen Hauch einer Schwesterseele, die wie die seine einsam und angstvoll auf ihrem dunklen Fluge durch die Unendlichkeit dahinzog.


 << zurück weiter >>