Max Halbe
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Max Halbe

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4

Als er sich Brandstädter und Nina bis auf wenige Schritte genähert hatte, merkte Rudolf, wie Bangigkeit, Befangenheit, Verstimmung – wer wollte unterscheiden, was es war! – plötzlich wie weggeblasen verschwanden. War es der lachende Sommertag, der sich von neuem in seine Seele schmeichelte, war es Ninas Anblick, was ihn fröhlich machte: ihm war mit einem Male zumute, als sei das Leben nun doch wieder wert, gelebt zu werden.

Er schwenkte seinen Strohhut lustig in die Luft und rief über den Bach hinüber, der sie noch von ihm trennte, den beiden zu:

»Guten Morgen, Nina! Wie haben Sie zu ruhen geruht, Meister?«

Brandstädter runzelte die Stirne. Sein Blick fiel von der Seite her auf Nina. Diese spürte es, ohne zu ihm hinzusehen, und fühlte eine schwache Blutwelle aufsteigen.

Diese närrische Angewohnheit! dachte sie und nahm sich vor, künftig immer noch mehr gegen sich selbst auf der Hut zu sein. In ihrem Ärger schüttelte sie unwillkürlich den Kopf und machte einige Schritte gegen die Bachbrücke zu, wie um Brandstädters Bannkreis zu entkommen. An der Holzplanke, die zwischen zwei etwas schiefen Geländern die beiden Ufer verband, blieb sie stehen. Rudolf hatte von seiner Seite her ebenfalls den Fuß auf die Planke gesetzt und hielt in seinem Gang inne. So standen sich die beiden, jeder an seinem Stegende, unschlüssig und, wie es schien, beide ein wenig befangen, gegenüber. Zwischen ihnen schossen die graugrünen Wellen des ziemlich breiten Baches, der irgendwo im Oberland am Fuß der Vorberge entsprang, gurgelnd und eilfertig dem unfernen Seebecken entgegen, als könnten sie nicht schnell genug das Ziel ihres Daseins erreichen.

Brandstädter hielt sich etwas zurück an der Wiesenböschung des Wassers und beobachtete mit halbgeschlossenen Augen wie hinter einem Schleier das Schauspiel der beiden sich Gegenüberstehenden, von denen die eine einst seine Geliebte, der andere sein Schüler gewesen war.

Wer von den beiden würde den ersten Schritt tun? Wer würde den andern zu sich hinüber ziehen?

Und als ob der geheimen Frage die Antwort auf dem Fuß folgen müsse, rief Nina in diesem Augenblick:

»Was ist das für ein dummes Anstarren gegenseitig? Warum kommst du denn nicht herüber? Wir stehen ja wie die Bildsäulen.«

Damit nahm sie ihr Kleid über den Knien etwas zusammen und ging rasch die paar Schritte über die schwanken Bretter zu Rudolf hinüber.

»Guten Morgen, Rudi.«

Sie streckte ihm ihre schmale Hand hin und setzte halblaut hinzu: »Du tust ja, als ob du dich fürchtest?«

»Vielleicht fürchte ich mich manchmal auch,« antwortete er, ebenfalls halblaut. »Du... Du...«

Er preßte leidenschaftlich ihre Hand und brach ab.

»Ist etwas geschehen?« flüsterte sie hastig und wurde um einen Ton blasser. »Hat uns vielleicht jemand gesehen, heute nacht?«

Auf ihrer Stirn erschien die dunkle Falte des Unmuts, verschwand aber sogleich wieder.

»Unsinn!« wehrte sie ab. »Es schlief ja alles.«

Er schüttelte nur den Kopf. Seine Augen hingen an ihr, an diesen holden, reinen Zügen, über die es einen Moment wie ein Schatten hinflog, an dem weichen Fluß dieser Glieder, in dem man besinnungslos versank.

Konnte das Lüge, konnte das Verbrechen sein?

»Ninerl! Es war einzig ... einzig schön ... diese Nacht!« stammelte er und preßte von neuem ihre weiche kleine Hand, die so unendliche Wonnen geben konnte.

»Pst!« machte sie. »Kein Wort! Er beobachtet uns!«

Sie wandte den Kopf ein wenig nach rückwärts und rief zu Brandstädter hinüber, der noch auf der gleichen Stelle an der Bachböschung stand und seinen Stock von den hastig eilenden Wassern bespülen ließ.

»Was machen Sie denn da? Sie angeln wohl?«

»Ja!« gab er zurück. »Aber es beißen keine Fische mehr an. Die Jahreszeit scheint vorbei zu sein.«

Er starrte auf die kleinen graugrünen Wellen, die an dem schwarzen Ebenholzstock hinaufleckten und im nächsten Augenblick weiterschossen, dem nahen Ende – dem See – entgegen, das doch keine von ihnen ahnte noch kannte.

»Wollen Sie nicht herkommen?« fragte Nina von der anderen Stegseite.

»Danke! Ich bleibe auf meiner Seite des Wassers. Es lohnt sich nicht mehr, große Expeditionen zu unternehmen... Außer vielleicht die eine ... die allergrößte ...«

Er hatte die letzten Worte nur für sich gesprochen, so daß die beiden auf dem Steg sie schwerlich vernehmen konnten, und warf einen kurzen Blick nach rechts hinüber, dorthin, wo sich aus der nicht allzu fernen Bachmündung diese kleinen, eiligen, graugrünen Wellen unaufhörlich in den See ergossen.

Wie er seinen Kopf zurückwandte, sah er Rudolf und Nina noch immer beieinander auf dem Holzsteg, als ob sie sich etwas zuflüsterten. Ihm kam der Gedanke, ob er wohl noch Herr seiner alten Kraft über die Seelen der Menschen sei. Wie oft hatte er in vergangenen Tagen die Probe gemacht! Wenn er sich etwas ganz körperlich, ganz greifbar vor Augen gestellt hatte, das kommen, das geschehen solle, das Menschen tun müßten, so kam es, geschah es, so taten es Menschen. Aber es mußte mit der vollen Anschauungskaft des Lebens gedacht, vorgestellt sein. Nur wenn das innere Gesicht die höchste plastische Fähigkeit des Gestaltens aufbrachte, entstand auch für das äußere Auge Leben, Wirklichkeit, Tat daraus. Wurzelte nicht alles Schaffen des Künstlers, des Dichters in diesem geheimnisvollen Urgrund, in dem schöpferischen Vermögen, Phantasie in Wirklichkeit umzuwandeln? Er hatte es besessen. Besaß er es nicht mehr?

Die beiden Menschen dort auf dem Steg waren seine Geschöpfe. Er hatte sie zu dem gemacht, was sie jetzt waren. Sich selbst – nicht mehr und nicht weniger – verdankten sie ihm. Nina als Weib, Rudolf als Dichter.. sein Geist hatte sie gebildet. Woraus? Aus Dreck, aus Gewöhnlichkeit, aus dem Nichts! Sein Atem hatte ihnen erst Leben eingeblasen. Und jetzt drückten sie sich dort die Hände, als ob das so sein müsse, als ob sie frei über sich verfügen dürften. Das Gesetz der Jugend trieb sie zueinander mit Naturgewalt. Wie? Und er stand hier am Bach, ein Abseitiger, Überflüssiger, ein Altgewordener, und warf die Angel nach den kleinen graugrünen Wellen, die einen Augenblick wie Silberfischchen zu ihm heraufhüpften und sprudelnd strudelnd weiterschossen?

Das sollte nicht sein! Der Stock in seiner linken Hand pfiff schneidend hinab ins Wasser, daß der Gischt ihm ins Gesicht spritzte. Die da auf dem Steg sollte zu ihm zurück. Seinem Willen hatte sie Untertan zu sein. An seine Seite gehörte sie. Um ihretwegen war er hergekommen. Und mit ihr zusammen wollte er fortgehen, den Weg durch die große Dunkelheit bis jenseits der ehernen Tore, hinter denen der Frühglanz des neuen Tages, der Verjüngung, der Wiedergeburt sich ergoß.

»Komm!« sagte Nina mit gedämpfter Stimme zu Rudolf. »Wir dürfen ihn nicht länger stehen lassen. Er wendet kein Auge von uns.«

Sie hielt inne, eine sichtbare Unruhe hatte sie erfaßt. »Sieh nur, wie er nach uns hinschaut!... Schau nur! Schau!...«

»Närrchen! Er sieht überhaupt nicht her. Er starrt ins Wasser. Hast du nicht gehört? Er angelt ja doch... Nach den Fischen, die nicht anbeißen wollen.«

Er lächelte etwas gezwungen und streichelte beruhigend ihre Hand.

»Er ist mir unheimlich,« flüsterte Nina. »Er ist noch immer der alte Hexenmeister. Wir müssen zu ihm hin.«

Sie suchte ihn an der Hand mit sich fortzuziehen.

Rudolf runzelte die Stirn.

»Er ist ein Tyrann. Er war immer ein Tyrann. Er zertritt alles, was ihm im Weg steht... Aber seine Zeit ist vorbei. Du hörst ja. Die Fische beißen nicht mehr an. Er spricht sein eigenes Todesurteil. Bleib hier, Ninerl! Bleib bei mir, Liebling!«

Er hatte hastig und leidenschaftlich gesprochen, dabei mit seinen heißen Händen ihre kühle, weiche Hand umspannt. Nina sah in seine Augen, die so beredt, so überzeugend zu bitten wußten. Sie kannte diese Sprache. Sie war gefährlich für sie.

»Bleib bei mir, Schatz! Geh nicht zu ihm!« klang es von neuem bittend, schmeichelnd in ihr Ohr.

Sie zog mit einem plötzlichen Ruck ihre Hand aus der seinen.

»Es geht nicht. Sei vernünftig. Man darf euch nicht allen euern Willen tun. Man verwöhnt euch nur.«

»Nina!«

Er wollte von neuem ihre Hände fassen. Aber sie entzog sie ihm und hielt sie auf dem Rücken gekreuzt, während sie sich zu ihm vorbeugte und ihm mit einem ungewissen Lächeln ins Gesicht sah.

»Ja, ja, es ist schon so, mein Freund. Ich habe dich verwöhnt. Du bildest dir ein, man kann dir nichts abschlagen. Du machst es mit deinen Augen. Aber du sollst sehen, ich werde dir den Brotkorb höher hängen.«

Sie machte ihm eine kleine artige Verbeugung und wies mit dem Finger über den Steg zurück.

»So! Und jetzt gehen wir zu unserem Meister.«

Sie raffte ihr Kleid hastig wieder zusammen, kehrte ihm den Rücken und lief über den Steg zurück, den kleinen Abhang zum Wasser hinunter, bis sie vor Brandstädter stand und ein wenig zusammengekauert, fast unterwürfig, zu ihm hinaufsah.

Brandstädter hatte die Zähne zusammengebissen. Seine Augen schienen ins Leere zu starren. Man sah wieder das Weiße darin. Die Arme hingen senkrecht am Körper herunter. Die Fäuste waren zusammengekrampft.

»Bist du da?« murmelte er.

Über ihr Gesicht irrte wieder jenes ungewisse Lächeln, wie das Licht eines unsichtbaren Brennglases, das kommt und verschwindet und das sich nicht fassen, nicht festhalten läßt.

»Der Meister rief. Ariel ist zur Stelle.«

Ihr Ton klang weich, wie schwebend. Ihre roten Lippen waren ein wenig geöffnet. Ihr Gesicht hatte einen abwesenden Zug, als lausche sie irgend einer fernen Stimme.

»Bin ich noch dein Meister?« fragte Brandstädter kaum hörbar.

»Du bist und bleibst es,« antwortete sie ebenso.

»Bist du Galathea? Bist du Ariel? Was bist du?«

»Ich bin, was du aus mir machst. Ariel! Galathea! Was du willst! Bestimme über mich.«

Rudolf war unschlüssig auf dem Brückensteg stehengeblieben. Sollte er Nina folgen? Sollte er allein seinen Weg fortsetzen? Warum hatte sie seiner Bitte nicht nachgegeben? Warum hatte sie ihm den Rücken gekehrt und war zu Brandstädter gelaufen? Er haßte Brandstädter in diesem Augenblick. Ja, ihm war, als hätte er ihn stets gehaßt. Jener war der Ältere. Er hatte den Ruhm, den großen Namen. Er hatte gearbeitet, gerungen, gelebt. Gut! Er hatte das seine getan. Aber war es sein Verdienst, daß er früher gekommen war? Daß ihn soviel länger die Sonne, das Licht beglückt hatten? Durfte der alte Baum jetzt auch das Licht fortnehmen, das dem jungen Stamm gehörte?

Da standen die beiden unten am Bach, dessen Wasser leise gurgelten und glucksten, der ältere Mann, der alte Mann – ja, das war er mit seiner doppelten Zahl von Jahren! – da standen sie, der alte Mann und das junge Weib, und schienen miteinander zu flüstern. Was waren das für Heimlichkeiten, die sie da hatten? Gehörte Nina nicht ihm, nach allem Recht der Jugend und der Leidenschaft? War nicht gerade Brandstädter dafür eingetreten? Und hatte nicht eben dies ihn zu ihm hingezogen, ihn zu seinem Schüler gemacht? Freilich, damals war Brandstädter selbst noch jünger und jung gewesen. Heute las man's anders.

Erinnerungen aus der Zeit der Dionysien blitzten in Bartholdy auf. Was war nicht alles geklatscht worden über Beziehungen Brandstädters zu Nina! Er, Rudolf, hatte oft darüber gelächelt. Er war der Dramaturg, der Adjutant, der Vertraute Brandstädters gewesen. Hätte er es nicht zuerst wissen müssen, wenn irgend etwas Wahres daran gewesen wäre? Nun ja! Auf Brandstädters Seite vielleicht! Seine Galathea? Seine Bekenntnisse in der Galathea damals? Ja, ja!... Aber Nina? Er hätte sich die Hand dafür abhacken lassen, daß nichts Ernstliches zwischen ihr und Brandstädter bestand. Er selbst hatte doch Nina täglich gesehen, gesprochen. Nein! Er hatte nie an so etwas geglaubt. Das ganze Gerede über Nina war Klatsch. Nichts als Theaterklatsch.

Und jetzt standen die beiden da am Bachrand und hatten Heimlichkeiten miteinander. Ob die Klatschmäuler einst nicht doch recht gehabt hatten? Ob er nicht allzu leichtgläubig gewesen war? Freilich! Damals hatte es ihn im Grunde gleichgültig gelassen. Was war ihm Nina, was er ihr! Er hatte sie gekannt und doch nicht gekannt. Eigentlich begriff er ja nicht, wie das hatte sein können. Man war geboren und doch nicht auf der Welt. So etwa war es.

Rudolf fuhr zusammen. Bei Gott! Zwischen damals und heute lag eine Welt. Erst an dem Tage, an dem er vor wenigen Monaten zum erstenmal Nina im Arm gehalten, war ihm der Sinn des Lebens in seiner Beglückung, seiner Qual aufgegangen, und den Besitz wollte er verteidigen gegen jedermann. Auch gegen das einst geliebte Haupt seines Lehrers, seines Meisters dort.

Er ging mit festen Schritten über den Steg. Die Planken polterten unter seinen Füßen. Brandstädter richtete sich aus seiner angespannten Versunkenheit auf. Um seine Lippen glitt ein kaum merkbares Lächeln. Er machte eine Bewegung mit der Hand gegen Nina hin, wie um sie aufzuwecken. Sie sah ihn mit verwunderten Augen an.

»Sagtest du etwas?« fragte sie, verbesserte sich aber sogleich, da sie Rudolf in nächster Nähe auf sich zukommen sah: »Sagten Sie etwas, Meister?«

Bartholdy war herangetreten. Seine Blicke gingen fragend von Brandstädter zu Nina und wieder zu Brandstädter zurück.

»Guten Morgen, Herr Bartholdy,« sagte Brandstädter mit einem Ton, der ungewohnt leicht aus seinem Munde klang, und reichte dem jungen Mann seine Hand. Dieser legte die seine etwas zögernd hinein.

»Was hat es denn gegeben? Ist etwas geschehen?«

»Die Zeit stand ein paar Augenblicke still. Sonst ist nichts geschehen.«

Rudolf glaubte einen Unterton von Spott in Brandstädters Worten zu hören.

»Wie ist das, wenn die Zeit stillsteht?« fragte er und wollte den gleichen Spott in seine Stimme legen wie jener, aber er vermochte es nicht.

»Haben Sie gar nichts davon gemerkt, mein Freund?« antwortete Brandstädter sehr liebenswürdig. »Für Sie stand die Zeit doch auch still. Es ist keine Kleinigkeit, einen so komplizierten Apparat auch nur für ein paar Augenblicke zum Stillstand zu bringen.«

»Sie sind guter Laune heute, Herr Doktor,« sagte Bartholdy zerstreut. Seine Augen waren auf Nina gerichtet, die mit ungewissen Blicken um sich sah, wie jemand, der nicht weiß, ob er soeben gewacht oder geträumt hat.

»Fehlt dir etwas, Nina?« fragte er unruhig.

Sie schüttelte den Kopf. Auf ihrer Stirn zeichnete sich ein leichter Unmut als schwacher Schatten ab.

»Nein. Mir fehlt nichts. Weshalb schaut ihr mich beide so an? Als käme ich vom Mond! Habe ich irgend etwas an mir?«

Sie sah rechts und links eifrig an sich herunter, stemmte dabei die Arme in die Seite und drehte sich auf den Zehenspitzen um ihre eigene Achse, wie eine Tänzerin, die irgendeine schwierige Figur scheinbar spielend bewältigt.

»Ah, mein Morgenkleid? Ja, man wird bequem auf dem Lande. Man denkt gar nicht mehr daran, sich anzuziehen. Ich glaube, man wird auf dem Lande um zehn Jahre früher alt. Übrigens kann sich das Kleid überall sehen lassen. Sie sagten ja früher, daß Blau meine Farbe sei, Meister. Hat sich Ihr Geschmack geändert?«

Sie hielt in ihrer wiegenden Bewegung inne und sah ihm mit einer kokett graziösen Neigung des Kopfes von der Seite her ins Gesicht.

Brandstädter atmete tief auf. Sein Blick schien sich vor dem ihren nach innen hin zu verschließen.

»Ich finde noch immer, daß Blau Ihre Farbe ist, gnädige Frau. In meinen Jahren ändert sich der Geschmack nicht mehr. Man nimmt ihn mit sich ins Grab. Wie man seine Nase mitnimmt.«

Nina verzog ein wenig den Mund.

»Schon wieder tragisch gestimmt? Gibt's denn kein anderes Thema als vom Tod?«

Brandstädter zuckte mit den Achseln. »Ihr Herr Neffe fand, daß ich fröhlich gestimmt sei. Vielleicht habe ich auch Grund dazu.«

»Mein Herr Neffe!« Sie lachte kurz auf. »Wie geschraubt das klingt!... Bist du dir schon je als mein Neffe vorgekommen, Rudolf? Ich komme mir wenigstens nie als deine Tante vor. Das hab' ich mir gleich bei Hans Lebrecht ausbedungen. Das Wort Tante darf mir nicht über die Schwelle. Ein so ausgewachsener Neffe! Das ist ja geradezu kompromitierend. Wie alt müßte ich denn da sein!«

»Derartige Phänomene pflegen einzutreten, wenn ein älterer Mann eine viel jüngere Frau heiratet,« warf Brandstädter wie beiläufig ein. »Das sind notwendige Begleiterscheinungen, die man in Kauf nehmen muß. Die Ehe ist ein Artikel, wo die Emballage mitbezahlt wird.«

Bartholdy, dessen Blicke zwischen den beiden wie Aufschluß suchend hin und her gegangen waren, lachte gegen seinen Willen laut auf.

»Und auf diesem Wege kann es kommen, daß man sein eigener Großvater wird,« rief er. »Ist der Meister nicht köstlich, Nina?«

Nina runzelte die Stirn.

»Was gibt es da zu lachen? Wo ist der Witz? Ich sehe den Witz nicht.«

Sie blickte unmutig vom einen zum andern, was Rudolfs plötzliche Heiterkeit nur noch zu steigern schien. Er lachte aus vollem Halse weiter, während er zu Brandstädter sagte:

»Nina ist die Geschichte nicht recht geheuer. Sie sieht sich schon als ihre eigene Großmutter. O Nina! Nina! Arme kleine Nina!«

Er versuchte ernst zu bleiben, brach aber sofort in ein neues Gelächter aus, und steckte damit sogar Brandstädter an.

»Sie auch, Doktor?« rief Nina mit zunehmendem Ärger. »Wenn ich nur wüßte, worüber gelacht wird! Ihr scheint mir beide verrückt geworden.«

»Frauen haben kein Organ für Witz,« bemerkte Brandtstädter zu Bartholdy.

»Die Emballage wird mitbezahlt!« stieß dieser sich schüttelnd heraus. »Ein tiefsinniger Gedanke! Die Emballage wird mitbezahlt!«

Die Tränen liefen ihm über die Backen. Nur mit Mühe gewann er sein Gleichgewicht wieder.

Nina stampfte ärgerlich mit dem Fuß auf.

»Jetzt höre aber auf! Wir hätten längst unten am Schiff sein sollen. Hans Lebrecht liebt es abgeholt zu werden, wenn er von der Reise kommt. Wer geht mit?«

Brandstädter trat an ihre linke, Bartholdy auf die rechte Seite. So gingen sie den Weg, den Brandstädter und Nina vorhin heraufgekommen waren, zu dreien wieder hinab, der Landestelle entgegen.

»Nennt Ewald das eine Reise, wenn er auf einen Tag zur Stadt fährt?« fragte Brandstädter, indem er auf die langgestreckte Wasserfläche des Sees hinunterblickte, die jetzt im grellen Mittagslicht graublau gefärbt erschien.

»Das ist ihm gleich,« meinte Nina. »Ob er nach München fährt oder nach Jokohama, wenn er nach Hause kommt, wünscht er eine Eskorte, die ihn empfängt.«

Brandstädter nickte ernsthaft vor sich hin.

»Er war schon mit zehn Jahren ein Grandseigneur. Ich sehe ihn aus der Freitreppe von Güldenau stehen. Das sind vierzig Jahre her. Er hatte eine Art sich ans Geländer zu lehnen... Nun ja! Eben wie ein Grandseigneur!... Man kann es auch Hochmut nennen. Aber der Hochmut verletzt nicht, weil er angeboren ist, weil er sich von selbst versteht. Weil er ins Bild gehört wie etwa auf den Portraits von Van Dyck.«

Bartholdy hatte etwas ungeduldig zugehört.

»Ich kann nicht finden,« warf er jetzt ein, »daß Onkel Ewald auch nur eine Andeutung von Hochmut in seinem Wesen hat. Ich dächte, sein Leben wäre der beste Beweis dagegen.«

Brandstädter zog spöttisch die Stirne hoch.

»Sie gehören zu derselben sozialen Schicht, lieber Freund. Sie merken natürlich nichts davon. Dazu muß man von unten herauf gekommen sein. Was sagen Sie, gnädige Frau?«

Nina schüttelte den Kopf.

»Eine komische Frage! Er ist doch mein Mann.«

»Ja so!« sagte Brandstädter mit unverhohlenem Hohn in der Stimme. »Und Frauen nehmen den Stand des Mannes an. In Ihrem Fall war das kaum nötig... Die Tochter des Marchese...«

»Pfui!« rief Nina. »Wie häßlich! Sie brauchen mich nicht an meine Theaterzeit zu erinnern. Es geht niemanden etwas an. Mein Mann ist mit meinem Stammbaum zufrieden. Und das genügt mir.«

»Doktor Friedrich Brandstädter, Begründer des Landes der Verheißung, wie er die Ahnenprobe anstellt!«

bemerkte Bartholdy ziemlich scharf und lachte gezwungen. »Eine ganz neue Rolle in Ihrem Lebensdrama!«

Brandstädter schien Bartholdys Worte zu überhören.

»Sie haben also das Theater vollständig hinter sich geworfen?« sagte er zu Nina und hielt den Kopf auf die Brust gesenkt, während er bei jedem Schritt Linien vor sich her mit dem Stock in den Kies zu zeichnen versuchte.

Sie sah ihn verstohlen von der Seite an.

»Ja, mein Mann wünscht es so. Es ist auch das beste. Ich habe keinen Ehrgeiz mehr.«

»Mir war, als hörte ich es vorhin anders,« murmelte Brandstädter.

Sie waren an der Wegkreuzung unterhalb angelangt, wo es links zum Herrenhause und geradeaus an der Kastaniengruppe vorbei, unter der Brandstädter gefrühstückt hatte, zum Seegestade hinunterging, indes schräge rechts ein leicht geschlängelter Wiesenpfad zur Haltestelle der Dampfer lief. Nina bog eilig in diesen Weg ein, Brandstädter und Bartholdy folgten ihr auf dem Fuße.

»Nina hat der Bühne sogar so sehr abgesagt,« bemerkte Bartholdy, »daß sie nicht einmal in meiner ›Jo‹ mitspielt, obwohl das doch eigentlich sehr nahe läge.«

»Läge es nahe?« fragte Brandstädter wie nebenher. »Also wohl die Heldin des Dramas?«

Nina zuckte zusammen. Eine dunkle Röte stieg von ihrem weißen Nacken auf, den der Ausschnitt des hellblauen Kleides unter dem blonden Haargekräusel freiließ.

»Keine Spur!« rief sie und fühlte, wie das Blut ihr in die Wangen schoß. »Was ist das wieder für ein Unsinn! Rudolf! Sage doch dem Doktor, daß kein Wort davon wahr ist.«

»Natürlich ist kein Wort davon wahr,« beeilte sich dieser zu beteuern. »Es läge nur nahe, daß Nina als frühere Schauspielerin in meinem Stück mitspielte. Sie tut es aber nicht. Das wollte ich sagen. Bist du jetzt zufrieden?«

Nina wandte ihren Kopf zu den beiden Männern zurück.

»Ich tue es nicht, weil keine Rolle für mich darin ist. Das heißt, die Hauptrolle, die Jo, die vielleicht was für mich wäre, hat die Frantzius bekommen, und für eine andere Rolle bedanke ich mich. Die ganze Theaterspielerei kann mir gestohlen bleiben!«

»Aber Nina!« sagte Rudolf mit sichtlicher Verlegenheit. »Du weißt doch, wie die Dinge stehen. Es gibt nun mal gewisse Rücksichten... du wolltest ja selbst, daß die Frantzius statt deiner...«

Nina schien sehr geärgert.

»Schon gut! Schon gut!« unterbrach sie ihn. »Die Sache ist vollständig erledigt. Ich habe mir geschworen, ich setze keinen Fuß mehr auf die Bühne. Ich bin ein braves Haustier geworden und damit basta. Wozu heiratet man auch sonst! Mag Barbara Frantzius zehnmal die Jo spielen! Sie ist ja meine beste Freundin, Ich gönne ihr den Triumph.«

Brandstädter schien es Freude zu machen, in dem angefachten Feuer weiter zu schüren.

»Ist es eine Schande, die Heldin einer Tragödie, eines Dramas zu sein, gnädige Frau?« fragte er.

Sie wandte sich hastig um und blieb stehen.

»Wieso?«

»Es verknüpft sich dadurch doch ein Stückchen Ewigkeit mit Ihrer Person. Sie leben fort in Avalun, dem Land der Dichter, trotz Heine.«

Nina zuckte mit den Achseln. Auf ihrem Gesicht erschien wieder dieser Anflug eines unbestimmten Lächelns, von dem sich nicht sagen ließ, woher es kam und ob es tiefsinnig oder oberflächlich war.

»Sehr schmeichelhaft, Meister! Aber weshalb muß gerade mich unbedeutende Person das Los treffen, daß sich meinetwegen die Dichter in Unkosten stürzen und mich um jeden Preis unsterblich machen wollen? Ich bin weder so schön noch so geistreich, noch sonst etwas Großes oder Bedeutendes. Also frage ich Sie: Warum?«

Brandstädter zog die Stirne hoch.

»Die Frage rüttelt an den Pforten der Erkenntnis, meine Gnädige. Sie beantworten heißt den Urgrund unseres Seins, unserer Existenz aufdecken. Warum wurde Jesus gekreuzigt, oder warum traf es gerade Judas, ihn zu verraten? Warum sind wir, was wir sind? Warum leiden wir an dem, was wir sind? Warum haben wir für das aufzukommen, was wir sind? Obwohl wir uns doch nicht zu dem gemacht haben, was wir sind. Warum? Warum?«

»Oder um im Bilde zu bleiben,« fiel Bartholdy jetzt ein, der mehrmals eifrig genickt hatte, »warum, wodurch waren gerade Friederike, Lotte, Christiane oder Beatrice oder Laura dazu vorbestimmt, dazu auserwählt, unsterblich zu werden? Wodurch? Warum? Es gab gewiß schönere, klügere, bedeutendere Frauen zu ihrer Zeit und doch kennt niemand ihre Namen. Niemand weiß, daß sie gelebt haben. Absolute Nacht deckt ihre Spuren zu. Und der Namenszug jener andern, jener Auserwählten, die längst nicht die klügsten, die schönsten, die bedeutendsten unter ihren Mitschwestern waren, der leuchtet durch die Zeiten. Ich weiß nicht, warum das ist. Ich weiß nur, daß es schön so ist. Ja, schön, diese göttliche Ungerechtigkeit des Schicksals!«

Er hatte sich in Feuer gesprochen. Der Klang seiner eigenen Worte berauschte ihn. Er fühlte sich von einer leichten Trunkenheit umfangen. Um seine hohe, freie Stirn, die kein Hut bedeckte, glomm ein geheimer Schimmer. Nina fand ihn in diesem Augenblick hinreißend.

»Danach wäre es also als eine Art von Gnade des Himmels zu betrachten,« sagte sie, »wenn es einem Dichter einfällt, sich in uns zu verlieben. Man wird unsterblich dadurch.«

»Es kommt auf den Dichter an,« erwiderte Brandstädter und verzog den Mund. »Um unsterblich zu machen, muß man es zuerst selber sein. Unter hundert, die so tun, kommt noch nicht einer auf die Nachwelt.«

Ninas Blicke gingen von Brandstädter zu Bartholdy und wieder zu Brandstädter. Welcher von den beiden war es nun, der die Kraft besaß, von der Brandstädter sprach? Wem von ihnen war der Schlüssel gegeben, der, die er liebte, die Unsterblichkeit aufzuschließen? War es der Ältere mit den zerwühlten Zügen, den brennenden Augen, der finsteren Ruhe, die wie ein Grabgewölbe allerlei Spuk und gespenstisches Nachtwesen zuzudecken schien? War es der Jüngere mit seinem Feuer, seinem Frohsinn, seiner Knabenhaftigkeit? Mit dem Schimmer der Jugend, der Zukunft, der Schönheit um die Stirn? Die Geschichte von den drei Freiern, die unter den Kästchen Porzias zu wählen hatten, fiel ihr plötzlich ein.

Die junge Frau mußte im stillen über sich selbst lächeln. Was für wunderliche Phantasien das alles! Wären ihr früher solche Grillen gekommen? Wie hatte sie einst in der Trunkenheit ihrer jungen Sinne, in jenen ersten wilden Theaterjahren, jede Stunde als sei es ihre letzte ausgekostet, jedes Glück in ihre Arme geschlossen, wie wenn es einzig wäre! Sich um Nachwelt, um Unsterblichkeit kümmern? Welche Überspanntheit! Vom Augenblick alles, aber auch alles nehmen, was er bot... das war die einzige Weisheit ihrer Jugend gewesen. Warum denn jetzt so ganz anders? War das das Alter, das leise an die Türe klopfte?

Eine heiße Welle stieg in ihr auf. Noch nicht! hörte sie eine Stimme rufen. Sie wußte nicht, war sie in ihr oder außer ihr. Sie warf mit einer starken Gebärde den Kopf zurück und hatte ein verschleiertes Lächeln auf ihren Zügen, während sie Brandstädter auf seine letzte Bemerkung antwortete:

»Demnach täte man gut, sich für alle Fälle vorzusehen und ein bißchen für Auswahl zu sorgen, wenn einem daran liegt, auf die Nachwelt zu kommen. Ist es der eine nicht, der den Schlüssel hat, so ist es vielleicht der andere.«

Das grelle Läuten einer Schiffsglocke schrillte den dreien aus nächster Nähe in die Ohren. Ein Stampfen, Schaufeln und Schnauben zeigte an, daß der Dampfer sich soeben an der noch unsichtbaren Landestelle wieder in Bewegung setzte. Sie bogen um ein dichtes Gebüsch von Goldregen, das der vollen Aussicht noch im Wege stand, und befanden sich angesichts der blauglitzernden Flut, des abfahrenden ziemlich großen und prunkhaften Dampfers und des weit hinauslaufenden Schiffsstegs, von dem sie Hans Lebrecht von Ewald und Thomas Neubauer langsam auf sich zukommen sahen.

Die beiden Männer waren sehr verschiedenen Aussehens. Ewald war lang, hager, schmalschultrig, engbrüstig, vornübergebeugt, so daß er in seinen zeichnerischen Umrissen etwas von der Gestalt einer Sichel hatte. Sein Haar war voll und wirr, von jener unbestimmten graublonden Farbe, die keinen Unterschied zwischen Jugend und Alter erkennen läßt. Aus dem merkwürdig zerknitterten Gesicht mit den kaum angedeuteten Brauen und dem kleinen blaßblonden Schnurrbart leuchteten zwei klare hellblaue Augen. Die Nase sprang scharf und schmal vor. Das Kinn war nur schwach entwickelt, ließ an aristokratisches Spätlingstum denken. Auch in den Bewegungen zitterte etwas Altes, Letztes, Ausklingendes, was aber verschwand, sowie man den hellen Ton der Stimme hörte und den durchdringenden Jägerblick der wasserklaren Augen sah.

Thomas Neubauer war breitschultrig, untersetzt, beleibt. Auf den zu kurzen, ungefügen Beinen wuchtete ein verhältnismäßig langer und gut entwickelter Rumpf, dem wieder der kurze stiernackige Hals und der klotzige viereckige Schädel nicht entsprachen. Man hätte meinen können, die Natur habe ihn aus ihrem Spielzeugkasten falsch zusammengesetzt. Eben diese Natur in ihrer unerschöpflichen Phantasie hatte aber zugleich für Abhilfe gesorgt, indem sie eine ansehnliche Fülle und Beleibtheit hinzufügte und so das Mißverhältnis zwischen Rumpf und Beinen auf eine witzige Art wenigstens scheinbar ausglich. Dabei hatte Neubauer die Gewohnheit, sich nach hinten zurückzulehnen und seinen Bauch gleichsam vor sich her zu schieben, wie ein Hausierer seinen Tragkasten. Sein ganzes Auftreten hatte etwas Massiges, Urweltliches, und doch zugleich Putziges. In dem fleischigen Gesicht saß eine steile Nase, die nach unten hin sich merklich verbreiterte und verlängerte, um in einer Art von Quetschnase zu enden. Ein ganz kleines schwarzes Schnurrbärtchen, im Stile Ludwigs XIV. aufgezwirbelt, klebte darunter wie ein zierliches Vogelnestchen unter einem schweren Dachbalken. Die grünlich weißen Augäpfel quollen ein wenig aus ihren Höhlen, waren aber meist durch einen blauen Zwicker mit großen runden Gläsern verdeckt. Auf dem würfelförmigen Schädel mit den schwarzen strähnigen Chinesenhaaren schaukelte wie ein Äffchen, das auf einem Bären reitet, ein weiches gelbes Hütchen, das etwas in die Stirn gerückt war. Gelb – offenbar die Lieblingsfarbe Neubauers – waren außer den Gamaschen auch der elegante joppenartige Paletot, den er trotz der sommerlichen Hitze trug, und die Modeweste zum schokoladebraunen karrierten Sommeranzug darunter.

Neubauer und Ewald schienen die einzigen Reisenden, die ausgestiegen waren. Außer ihnen waren nur Kaspar, der ältliche Diener Ewalds, und der junge flachshaarige Stegwärter zu sehen, der das Gepäck der beiden Ankömmlinge auf einen Handkarren lud. Von dem abfahrenden Schiff her, das eine breite grünliche Schaumschleppe wie einen Pfauenschweif hinter sich nachzog, verfolgte man mit sichtlicher Neugierde die Begegnung am Strande. Auf dem Oberdeck, dessen leinenes Sonnendach sich im Winde blähte, lehnten Herren mit weißen Marinemützen, Damen mit flatternden grünen und blauen Schleiern über die Brüstung. Auch unten drängte das Publikum nach dem Geländer der Strandseite, so daß das große Vergnügungsschiff, das einer vergoldeten Purpurgalerie ähnlich sah, ein wenig das Übergewicht bekam und sich nach Steuerbord neigte. Operngläser wurden gehandhabt, Bemerkungen ausgetauscht. Das einsame Gestade mit seinen uralten Baumgruppen, den weiten bunt überblühten Wiesenhängen, der Schloßruine hart am See, mittwegs zwischen Dampfersteg und Bachmündung, und dem vornehmen Herrenhause weiter zurück, in halber Höhe des Parkes – dieses Bild ruhevoller Märchenferne – mit der lichtblauen Frauengestalt im Vordergunde, mochte die Phantasie der vorüberhastenden Reisemenge mächtig in seine Sphäre ziehen.

Was für Menschen lebten da ihren Tag? Welcher Art Schicksale spielten sich ab? Wer war die blasse blonde Frauenerscheinung mit dem feingeschnittenen Gesicht, den roten Lippen, dem biegsamen Wuchs? Etwa die Schloßherrin selbst? Wer die beiden Männer in ihrer Begleitung? Künstler? Maler? Dichter? Wer die beiden andern, die man soeben hatte das Schiff verlassen sehen und die jetzt vom Steg ans Ufer traten?

Die Schraube des Dampfers begann schneller zu arbeiten. Eine Wendung des Steuers, und diese bunte Welt neugieriger, lästernder, lorgnettierender Menschen glitt auf ihrem Purpurschiff um die nächste Landspitze und verschwand lautlos wie eine Fata Morgana.

»Habe die Ehre, Baronin,« sagte Thomas Neubauer und küßte Nina mit einem bedeutsamen Blick die Fingerspitzen. Nina errötete ein wenig und wandte sich zu Ewald.

»Grüß Gott, Hans Lebrecht.«

»Grüß Gott, Liebling. Es ist nett, daß du dich trotz der Hitze herbemühst.«

Er beugte sich zu ihr herunter und küßte sie auf die Stirn. Nina hatte ein weiches Gefühl von Geborgenheit, wie er so ihren Kopf zwischen den Händen hielt. Er war doch ihr Mann. Man konnte sich auf ihn verlassen. Die andern alle wollten etwas von ihr, suchten ihr ihren Willen aufzudrängen, sie mit Gewalt zu sich hinzuzwingen. Er allein hatte sie genommen, wie sie war, schalt nicht, bestürmte nicht, ließ ihre Natur gewähren, wie es ihr gemäß war. Und sie? Wie dankte sie es ihm? Ihre Stirn sank unter seiner Berührung unwillkürlich ein wenig tiefer. Aber sie richtete sie sogleich wieder in die Höhe und sah frei und unbefangen zu ihm hinauf.

»Hast du eine gute Fahrt gehabt, Bester?... Daß Doktor Brandstädter hier ist, weißt du ja schon.«

»Ja, nun laß dich betrachten,« sagte Ewald, indem er sich zu Brandstädter wandte und ihm die Hand drückte. »Unsere beiden Schiffe kreuzten sich gestern, so daß man sich gerade nur Guten Tag sagen konnte. Ich ahnte nicht, daß du schon gestern kommen würdest. Sonst hätte ich mir das anders eingerichtet. In diesem Fall läßt es sich ja nachholen. Aber ein ähnlicher Fall ist mir mal mit meinem Freunde Felderhof passiert. Der war irreparabel. Felderhof war Generalkonsul in Hongkong. Ich fuhr nach Japan, hatte ihm meinen Besuch angemeldet. Unterwegs blieb ich in Singapore liegen. Wie ich endlich in Hongkong einlaufe, fährt Felderhof seinerseits auf der ›Hercynia‹ ab. Er war von Hongkong nach Valparaiso versetzt worden. Wir kreuzten uns im Hafen, ohne es zu wissen. Hatten uns zehn Jahre nicht gesehen. Im vorigen Jahre ist Felderhof gestorben. Wir sind uns nie wieder begegnet. Das ist das Leben!«

Brandstädter lächelte kaum merklich.

»Vielleicht ist die Begegnung nur hinausgeschoben. Auf ein paar Jahrhunderte kommt es nicht an. Die Unendlichkeit ist lang. Man begegnet sich immer wieder, im Guten wie im Bösen. Im Haß wie in der Liebe. Man kommt nie vom andern los, wo einmal zwei Seelen auf sich eingestellt sind.«

Sein Blick hatte bei den letzten Worten Nina flüchtig, wie zufällig gestreift. Sie bemerkte es und hatte plötzlich, ohne recht zu wissen warum, das Gefühl, als friere es sie irgendwo ganz tief im Innersten, wie wenn inmitten der sie umfließenden Mittagshitze eine kalte Blutwelle aus ihrem Mark aufstiege.

Ewald war überrascht stehen geblieben und musterte Brandstädter kopfschüttelnd.

»Das ist ja die absolute Seelenwanderung! Die Zeitungen scheinen also doch recht zu haben, daß du unter die Mystiker gegangen bist?«

»Haben Zeitungen schon jemals unrecht gehabt?« erwiderte Brandstädter und hatte ein maliziöses Lächeln um die Mundwinkel.

»Pst!« machte Ewald und deutete auf Neubauer. »Die siebente Großmacht ist persönlich zur Stelle. Wespen soll man nicht reizen.«

Neubauer strich sich wohlgefällig sein glattes, beinahe viereckiges Kinn, dessen fleischige Gedrungenheit zugleich auf Genußsucht und Willenskraft schließen ließ.

»Wespen, meine Herren, sind äußerst rührige und muntere Tierchen, die schon mit den größten Ochsen fertig geworden sind.«

»Sie scheinen neuerdings unter die Zeitungsleute gegangen?« fragte Brandstädter.

»Ja und nein,« erwiderte Neubauer. »Das Schreiben überlasse ich Berufeneren. Ich habe die Ideen. Ich gebe die Anregungen. Das Ausarbeiten können meine Leute machen. Man muß mit sich haushalten, wenn man über die Vierzig ist. Kraftersparnis. Konzentration. Sammlungspolitik. Das ist die Forderung der Stunde.«

»Neubauer hat das bessere Teil erwählt und läßt andere für sich schreiben,« bemerkte Ewald mit einem mokanten Lächeln. »Er ist Verleger geworden.«

Neubauer zuckte mit den Achseln.

»Wenn man es so nennen will ... Begriff und Sache dürften sich kaum decken.«

»Nun ja! Verleger. Kunstunternehmer. Impresario. Theatergründer. Ästhetischer und kultureller Drahtzieher. Sein Plan ist mit einem Wort, die ganze heutige Kulturbewegung in einem einzigen Punkt zu konzentrieren, nämlich in der Hand von Thomas Neubauer. Dazu hat er die Gesellschaft ›Der Funkenturm‹ gegründet. Die Welt soll durch Bild, Schrift, Film, Theater für seine Ideen reif gemacht werden.«

Neubauer lachte. Es klang wie ein Bocksmeckern in Baß.

»Äußerst schmeichelhaft, Baron! Eilt allerdings den Tatsachen ein bißl voraus. Genug ... der ›Funkenturm‹ besteht und funktioniert. Das Verhältnis zwischen Geber und Empfänger muß endlich mal von Grund aus reguliert werden. Der Begriff Zufall gehört nicht mehr in unser Jahrhundert. Bewußte Entwicklung. Die Kultur sozusagen im künstlichen Brutofen. Das ist die Losung!«

»Als wir uns zum letzten Male sahen, es dürfte sieben Jahre her sein,« bemerkte Brandstädter, »da waren Sie Maler und wollten das Theater durch das ›Pathos der Reliefbühne‹ reformieren. So hieß es ja wohl?«

Neubauer nickte, indem er den goldenen Knopf seines Spazierstockes unter die Nase führte.

»Jugendeseleien! Kinderkrankheiten! Wir haben das Theater überschätzt, Mylords. Das Theater ist nur eine Provinz auf dem allgemeinen Kulturglobus. Nur ein Glied, eine Masche in dem riesigen Netz, mit dem wir die Erde umspannen wollen.«

»Und womit der Fischzug gemacht werden soll unter den Armen im Geiste,« fiel Ewald ein. »Unser braver Neubauer ist nicht umsonst fünf Jahre drüben gewesen. Er hat was gelernt bei den Yankees. Er weiß, daß es vor allem auf das Etikett ankommt, auf die richtige Marke, die man der Firma gibt.«

»Hä! Hä!« meckerte Neubauer und wandte sich an Rudolf Bartholdy, der etwas abseits der Gruppe stand und ganz seinen Gedanken hingegeben in das flimmernde Blau des Wassers hinausstarrte.

»Nichts weismachen lassen, Bartholdy! Für wen verzapfen wir denn Ihre ›Jo‹? Etwa für die Armen im Geiste? Unsere Bonzen werden sich schön bedanken. Baron! Baron! Lassen Sie das ja nicht unter die Leute kommen.«

Er drohte Ewald halb schelmisch, halb ernsthaft mit dem Finger und faßte Rudolf unter den Arm.

»Erzählen Sie mir von den Proben. Wie macht die Frantzius ihre Sache? Sie wissen, die Frantzius ist nicht mein Fall. Aber tu l'as voulu, Dandin. Wehe, wenn's schief geht! Was wird dann aus unserm aufgehenden Stern, unserm Zukunftsgenie?«

Rudolf stieg eine leichte Röte ins Gesicht.

»Der aufgehende Stern geht einfach wieder unter,« sagte er, »und das Zukunftsgenie ist keines gewesen. Der Funkenturm hat ein falsches Signal gegeben.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und sagte zu Nina, die neben ihm stand:

»Wollen wir gehen?«

»Hö! Hö!« grunzte Neubauer. »Stolz lieb ich den Dichtersmann ... Schonen Sie Ihre Nerven, lieber Freund. Sie werden sie nötig haben. Die Messer der Kritik sind schon gewetzt. In vierzehn Tagen nimmt kein Hund ein Stück Brot von Ihnen an.«

Er faßte Bartholdy von neuem unter den Arm: und gackerte in sich hinein.

»Spaß beiseite! In der Kunst heißt es heute: Aller Anfang ist Durchfall. Wer nicht zuerst mal gründlich ausgepfiffen war, aus dem wird nichts. Es sind die besten Früchte nicht, woran keine Wespen nagen.«

Er blinzelte den Umstehenden der Reihe nach zu.

»Wer die Wespen sind, wissen wir ja. Macht nichts! Ein jeder blamiert sich wie er kann. Aber zur Sache!«

Er zog Rudolf ohne weiteres mit sich fort, auf den Weg zum Schloß hinauf. Ewald, Nina und Brandstädter folgten langsam.

»Neubauer denkt sein Hauptquartier hier aufzuschlagen?« fragte Brandstädter, indem er an seiner Oberlippe kaute.

Ewald zuckte mit den Achseln.

»Bis nach Rudolfs Premiere. Er ist sein Verleger. Seine Gesellschaft hat die Patenstelle bei dem Stück übernommen. Ich glaube, ich schrieb es dir in meinem Skriptum.«

»Neubauer wohnt auf dem andern Flügel,« bemerkte Nina, die zwischen den beiden Männern ging, zu Brandstädter. »Er wird Ihnen nicht ins Gehege kommen.«

»Mein Gehege liegt jenseits der Jagdgründe des Herrn Neubauer,« erwiderte Brandstädter stirnrunzelnd. »Übrigens beiße ich nicht.«

Ewald lächelte ein wenig spitz.

»Ob du dich da nicht täuschst, mein lieber Fridericus? Ich würde dem Landfrieden doch nicht so ganz trauen. Auf Grund unserer intimen Bekanntschaft von beinahe fünfzig Jahren darf ich mir vielleicht einen kleinen Zweifel erlauben?«

»Ausgesehen haben Sie wirklich, als ob Sie Neubauer fressen wollten,« fiel Nina ein und streifte ihren Nachbar zur Rechten mit einem unsicheren Seitenblick. »Wenn Sie wüßten, was Sie für ein Gesicht machen können! Zum Fürchten!«

»Gott hat es geschaffen, Frau Baronin,« erwiderte Brandstädter. »Ich habe es mir nicht ausgesucht. Hätte ich zu wählen gehabt, so hätte ich vielleicht auch eine andere Larve für die Lebensmaskerade vorgezogen, etwa einen Apollokopf wie unser junger Dichtersmann da vorne, um mit dem Kulturpapst Neubauer zu reden.«

Ewald lächelte wieder in seiner dünnen Art.

»Er beißt nicht! Bei Gott! Er beißt nicht!«

Er klopfte Brandstädter über Nina hinweg wohlwollend auf die Schulter.

»Gut pariert! Mit einer Doppelterz. Noch der alte sichere Fechter.« Nina warf spöttisch die Lippen auf.

»Es klingt beinahe, als ob Sie ein bißchen neidisch auf die Jugend wären, lieber Meister?«

»Auf die, die jünger, schöner und talentvoller sind, als ich!« bestätigte Brandstädter. »Ja. Der Neid war immer meine schwächste Seite. Ihr Gatte kann es mir aus fünfzigjährigem, intimem Umgang bestätigen. Schon mit zehn Jahren habe ich Gift gespuckt, weil ein anderer einen Tisch mit einer Lampe auf seinem Kopf balancieren konnte und ich nicht. Denken Sie nur an Ihre Theaterzeit mit mir. Ich habe nie einen andern Gott gekannt als mich selbst, und nie, niemals ist ein junges Talent von mir gefördert worden!«

Er hatte mit einer verbissenen Leidenschaft gesprochen. Seine Stimme klang noch dunkler und heißer als sonst. Woran erinnert sie dich doch? fragte sich Ewald im stillen. An irgend ein ganz fernes Erlebnis mit Brandstädter. Aber wie? Wo? Wann? Er mußte unwillkürlich darüber nachdenken, während sie zu dreien nebeneinander fortgingen. Auch Nina schwieg. Wie auf ein Klingelzeichen war, durch Brandstädters letzte Worte

beschworen, der Vorhang vor jener holdesten, buntesten, hingegebensten Zeit ihres Lebens auseinandergeflogen und Bilder des Glücks, des Rauschs, besinnungslosen Vergessens, die nie wiederkehren würden, gaukelten trügerisch vor ihren halbgeschlossenen Augen.

Brandstädter strich sich über die Stirn. Er atmete tief auf und sagte mit ruhigem Ton, in dem doch die vorige Bewegung noch nachzitterte:

»Die Herrschaften sehen, man leugnet nicht einmal. Der alte Sünder gehört in den Löffel des Knopfgießers zurück zum Umgießen. Der letzte Guß war verunglückt.«

Neubauer und Rudolf waren inzwischen bereits ein gutes Stück voraus und sahen, als sie in halber Parkhöhe unweit der Kastaniengruppe und des Herrenhauses zurückblickten, die drei andern noch ziemlich weit unterhalb im ersten Abschnitt des von der Landestelle sich heraufwindenden Wiesenpfades. Zwischen den Buchen und Eichen, den Eschen und Weiden, die in Gruppen auf dem absteigenden Wiesenplan verstreut standen, leuchtete und funkelte allenthalben das tiefe Marineblau des in die Weite ausgegossenen Sees zum seidenen Junihimmel empor. Am südlichen Horizont zickzackte die zerrissene, zerklüftete Linie des Hochgebirges, in blassen silbernen Tönen wie hingehaucht auf den blau grundierten Hintergrund. Ein großer runder Wolkenballen hatte sich als weißer Knäuel um eine der höchsten Spitzen gewickelt und ließ seine Fäden und Schleier zu den Nachbarhäuptern hinüberflattern. Alle andern Zinnen und Hörner, viele noch mit heruntergezogenen Schneekappen, türmten sich wolkenlos, immer ferner und ferner hintereinander aufsteigend, ins wolkenlose Blau.

Rudolf, der seinem Begleiter mit raschen Strichen ein Bild dieser ersten Probentage entworfen hatte und vom schnellen Sprechen und Bergansteigen etwas erhitzt war, ließ den leisen Windhauch, der sich vom See über die blühenden Wiesen zu ihm heraufschmeichelte, seine glühende Stirn kühlen und sog entzückt die unendliche Schönheit aller dieser Nähen und Fernen in sich ein.

»So denk' ich mir den ersten Tag vom Paradies!«, sagte er nach einem Weilchen mehr zu sich, als zu seinem Nachbarn, der sein Hütchen abgenommen hatte und schnaufend sich die dicken Schweißperlen von der Stirn wischte.

»Gehen Sie mir ab!« knurrte dieser. »Die Natur ist Kitsch. Ich predige es seit zehn Jahren. Erst hat man mich ausgelacht. Jetzt fängt die Welt allmählich an, zu begreifen, daß ich recht habe. Für ein Malerauge ist das doch alles ganz unmöglich, diese sechserlei, siebenerlei Blau, vom Wasser, vom Himmel, vom Gebirge. Gott behüte mich! Das auch noch! Sehen Sie denn nicht diese verschiedenen Blau, da und da und da, eins immer süßer und zuckeriger als das andere, Waschblau mit Vanillenschaum? Pfui Teufel! Mir wird flau von all dem faden Zeug!«

Er hatte mit seinem fetten Zeigefinger, an dem ein goldener Siegelring mit einem großen Chrysopras steckte, heftig hierhin, dahin, dorthin gefuchtelt, als wolle er Löcher in eine gänzlich verkleckste Leinwand hineinstoßen, und wandte sich verächtlich um.

»Kommen Sie! Kommen Sie! Ein Vers aus Ihrer ›Jo‹ ist mir lieber als die ganze sogenannte Natur da.

Wenn wir uns beeilen, können wir noch ein Stück von Ihrer Probe mitmachen ... Hopla!«

Er war unversehens über eine struppige Baumwurzel gestolpert, die gleichsam plötzlich aus dem Boden gewachsen und zwischen seine Füße geraten war, und wäre der Länge nach hingeschlagen, hätte nicht Rudolf ihn mit einem kräftigen Griff aufgehalten und wieder auf die Beine gestellt.

»Hopla!« wiederholte Neubauer sehr geärgert. »Da haben wir's! Das ist das wahre Gesicht Ihrer benedeiten Natur. Vorne schmalzig und limonadenhaft bis dort hinaus! Und hinterrücks tückisch wie ein Affe!«

»Mann Gottes!« rief Bartholdy höchst belustigt und packte den seines Gleichgewichts noch immer nicht ganz Mächtigen am Arm. »Mann Gottes! Wie kommen Sie mit solchen Ansichten dazu, meine ›Jo‹ und ausgerechnet auf einer Waldbühne zu spielen?«

»Blöde Frage!« knurrte Neubauer. »Die Waldbühne ist eine Konzession an den nun einmal herrschenden Geschmack. Mit Honig fängt man Fliegen. Das Publikum ist ein Kind. Man gibt ihm sein Spielzeug und kann es nachher um den Finger wickeln. So erzieht man sich seine Leute. Im übrigen war die Waldbühne Ihr oder Ihres Onkels Einfall und nicht meiner. Und was Ihre ›Jo‹ anbetrifft, so sehe ich darin den Versuch eines Stildramas, das mit der Natur so viel oder so wenig zu tun hat, wie der Entwurf eines kostbaren Tafelbestecks von einem ersten Kunstgewerbler mit einer Heugabel.«

»Hoher Gönner!« sagte Bartholdy und mußte im stillen noch immer über den Zusammenstoß Neubauers

mit der Baumwurzel lachen. »Soll ich Ihnen ein tiefes Geheimnis verraten?«

Er zog Neubauers Arm dicht an sich heran und tat, als wolle er dem andern ins Ohr sprechen.

»Ich habe manchmal das dringende Bedürfnis, alle Kostbarkeiten der Welt von den ersten Kunstgewerblern in die Ecke zu weisen und statt dessen Ihre verachtete Heugabel in die Hand zu nehmen ... So! Jetzt sprechen Sie mein Todesurteil.«

Er hatte Neubauers Arm losgelassen und machte mit seiner reuigen Sündermiene einen knabenhaft ergötzlichen Eindruck. Aber Neubauer war nicht in der Laune, auf Scherze einzugehen. Sein Selbstbewußtsein schien die Schlappe, die ihm die hinterlistige Wurzel zugefügt hatte, nicht so schnell verwinden zu können. Er warf im Weitergehen einen bösen Blick nach rückwärts, wo das tückische Ding jetzt ganz artig und unschuldig dalag, wie ein Hund, der alle viere von sich streckt, und knurrte mit einem Anflug von Dialekt, der manchmal in seine Rede hineinklang:

»Ah! Lassen's mich aus mit Ihren naturalistischen Anwandlungen! Das sind solche Atavismen. Rückfälle ins Barbarentum. Ich hab' mir schon manchmal gedacht, wenn ich bei der Hoftafel gesessen bin: Wie wär's, wenn du dir jetzt in die Finger schneuzen tatst?«

»Na, und haben Sie's getan?« fragte Rudolf mit einem Augenzwinkern.

»Einen Dreck hab' ich!« schnauzte Neubauer. »Steigen Sie mir den Buckel hinauf! Sie ... Sie Schlange, die ich an meinem Busen genährt habe! Ich bitte mir etwas mehr Respekt aus. Sonst ziehe ich meine Hand von

Ihnen ab. Der Funkenturm stellt seinen Betrieb für Sie ein.«

Bartholdy lachte kurz auf.

»Bravo! Ich wäre ganz in der Stimmung, damit einverstanden zu sein.«

»So! Und Ihre ›Jo‹ spielen Sie wohl unter Ausschluß der Öffentlichkeit? Meinen Sie, es kommt Ihnen ein Zuschauer in diese gottverlassene Einöde heraus, wenn ich die Mitglieder des Funkenturms zurückpfeife? Heutzutage können Sie ein Goethe sein und locken keinen Hund hinter dem Ofen hervor, wenn nicht für die äußere Aufmachung gesorgt wird. Für die Schaufensterdekoration.«

Bartholdys Miene hatte sich verfinstert.

»Pfui Teufel! Warum setzt man sich dann nicht lieber gleich auf den Markt und verrichtet seine Notdurft vor dem Publikum?«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr mit einen: humoristisch gefärbten Seufzer fort:

»Ach ja, mein erhabener Wohltäter! Ein trauriges Handwerk mit der Dichterei! Ich greif' nächstens in allem Ernst zur Heugabel. Ich will auch mal zu was nutze sein auf der Welt. Noch dazu bei diesem Überfluß an Heu hier.«

Er breitete seine Arme weit in die Runde aus und schlürfte mit Inbrunst den Duft der blühenden Wiesen ein.

Neubauer stieß heftig mit seinem Stock auf den Boden.

»Wer sich mir verschreibt, der hat Ordre zu parieren. Was ist das zum Beispiel für eine vorschriftswidrige Planlosigkeit, daß Sie die ›Jo‹ von der Frantzius spielen lassen?«

»Wer hätte sie sonst spielen sollen?« fragte Rudolf mit einer etwas gemachten Gleichgültigkeit.

Neubauer stemmte die Arme in die Seite und musterte Bartholdy von oben bis unten.

»Herr! Es gibt nur eine Jo auf dieser Welt, und wer das ist, das wissen Sie so gut wie ich. Vielleicht sogar viel besser als ich!... Also warum spielt sie sie dann nicht?«

Rudolf hatte die Arme gekreuzt und den Kopf gesenkt, als ob er über irgend etwas nachsinne, was ihm einfallen solle und nicht gleich könne.

»Weil... weil... weil...,« wiederholte er mehrmals.

»Nun? Weil?« drängte Neubauer mit einiger Neugierde.

Der junge Mann hatte plötzlich die Hand an die Ohren gelegt. Aus der Ferne des Parks klang das helle Gehämmer und Gedengel einer Sense.

»Da! Horchen Sie!« rief Rudolf. »Der alte Sebastian, der hundertundzwei Jahre alt ist und noch den ewigen Juden gesehen hat, macht Heu ... Glauben Sie, daß einer von uns noch Heu machen wird, wenn er hundertundzwei Jahre alt ist? Nun also! Dann hole der Teufel alle Schaufensterdekorateure und Versemacher!«

Damit nahm er einen Anlauf, sprang über den Graben, der neben dem Wege herlief, und warf sich der Länge nach in das hohe blühende Gras, das ihn wie ein weiches Daunenbett umfing.

Neubauer starrte ihm ganz verdutzt nach.

»Sind Sie ganz von Gott verlassen? Unsere Probe! Haben Sie denn gar kein Verantwortungsgefühl?«

»Ich bin ein Dichter und habe das Recht auf Blödsinn,« gab Rudolf von seinem duftigen Lager zurück. »Wenn Sie etwas von mir wollen, springen Sie über den Graben und werfen Sie sich neben mich ins Gras.«

»Ich werde den Teufel tun! Grasflecke bekommen!« schrie Neubauer. »Ich gehe allein zur Probe. Ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Wenn die Frantzius mir die ›Jo‹ schmeißt, tritt der Funkenturm vom Vertrag zurück. Damit Gott befohlen, Herr!«

Er setzte seinen Stock vor sich her und begann die Anhöhe hinanzuklimmen. Nach einigen Minuten sah Bartholdy von seinem Heublumenpfühl her den schokoladebraunen Anzug und das gelbe Hütchen hinter dem schwarzen Waldrand verschwinden.


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