Max Halbe
Jo
Max Halbe

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10

Auf dringendes Bitten Benvoglios hatte Brandstädter zugesagt, einer Probe von Rudolfs ›Jo‹ beizuwohnen. Nicht nur, was der Dichter über das Werk seines jüngeren Kollegen äußern werde, sei bedeutungsvoll. Fast noch mehr werde die Ansicht des Theaterfachmanns, des berühmten Begründers der unvergeßlichen ›Dionysien‹, ins Gewicht fallen. Die leidige Besetzungsfrage der ›Jo‹ könne gleich mit entschieden werden. Er, Benvoglio, der ja auch etwas vom Theater verstehe, – »dreißig Jahre Schminke, meine Herren!« – er sei durchaus bereit, Brandstädters Urteil hierüber anzunehmen. Brandstädter werde kaum etwas anderes sagen können, als er selbst oder als irgend jemand sonst, der auf den Brettern Bescheid wisse und noch nicht gänzlich vernagelt sei.

Bei der letzteren Wendung hatte auf dem breiten Rotweingesichte Benvoglios ein faunisches Lächeln gezwinkert. Er liebte es, obwohl mit Leib und Seele Theatermensch, doch von seinem Stande gelegentlich in Wendungen zu sprechen, die der Selbstironie nicht entbehrten und so dem Hörer auf seine Weise das Bewußtsein von der Überlegenheit des Sprechenden vermittelten.

Heute hatte die wichtige Probe stattgefunden, und zwar infolge einer besonderen Liebhaberei Benvoglios, der für Frühaufsteher, Gewaltmärsche, Licht und Luft schwärmte, als Frühprobe morgens um sechs Uhr. Ein Teil des Theatervolkes war gar nicht erst schlafen gegangen. Die kurze, mondhelle Sommernacht hatte man vor der Waldschenke und am Rande der Bischofswiese, einer weiten, nebelumsponnenen Lichtung, trinkend, liebelnd, debattierend verbraust.

Auch Barbara Frantzius war bis spät in die Nacht dabei gewesen. Sehr gegen den Rat älterer Kollegen, die vor einer so entscheidenden Probe Ruhe, Sammlung, Schlaf empfahlen. Aber sie behauptete, eben diese Ruhe nicht finden zu können und vor dem Sturm ihrer Nerven Ablenkung nach außen suchen zu müssen. Man lebe ja nur einmal, und wer alles auf eine Karte setze, brauche wenigstens nicht lange zu zappeln. Erst weit nach Mitternacht, als schon die fast volle Mondampel tief über den dämmrigen Birken am jenseitigen Rand der Waldwiese hing, hatte sie ihre Kammer aufgesucht, auf den Arm Borsdorffs gestützt, während zu ihrer Rechten Philidor Dormann, der jugendliche Held, gedankenschwer heimwandelte.

Die Probe war, obwohl allerlei übernächtige Gestalten auftauchten, doch im ganzen frisch und ohne besondern Zwischenfall verlaufen. Auch Neubauer, das ›Fleckfieber‹, wie er im engern Kreise hieß, hatte von seinem gewohnten Platze in der vordersten Reihe den Gang des Ganzen überwacht und dem gärenden Teig die tägliche Messerspitze Kritik zugesetzt. Diesmal sei es allerdings des Guten etwas zu viel geworden, meinte nachher Benvoglio zu Felix von Ketzler und fügte hinzu: »Ich hatte nicht übel Lust, dem Burschen seinen gelben Knook-about mit einem gutgezielten Fausthieb durch die Hirnschale zu jagen!«

Einerlei! Der Endspruch Neubauers lautete, daß die Frantzius sich etwa so gut für die Jo eigne, wie nach seiner Kenntnis der Igel zum Mundwischen.

Aber nicht auf die Ansicht Neubauers – man kannte sie schon – kam es in diesem Falle an. Benvoglio hatte ja Brandstädters Urteil erfahren wollen, hatte sich auch zu diesem Zweck neben ihn postiert und, da der Befragte hartnäckig schwieg, wenigstens in seiner Miene zu lesen versucht. Umsonst! Brandstädter schien seine verschlossenste Maske zu tragen. Es ließ sich nicht das geringste aus ihr herausdeuten, wenn man nicht diese Maske und das Schweigen selbst schon als Urteil nahm, wie Friedemann Schilling später mit scharfer Dialektik ausführte.

Brandstädter hatte im übrigen sehr aufmerksam zugehört. Dies konnte festgestellt werden. Offenbar war ihm kein Wort, keine Schwingung entgangen.

»Er spielt wieder die Sphinx,« dachte Benvoglio. »Gut! So sollst du mich hören, dich nächstens stärker beschwören. Unter vier Augen also! Heute abend oder morgen beim Fest.«

Brandstädter verabschiedete sich, als es zu Ende war, mit wortlosem Kopfnicken von der kleinen Gruppe der Zuschauer, zu denen sich im Laufe der Probe auch Rudolf gesellt hatte, und schlug halb wie im Traum den Weg durch die Waldschlucht hinunter zum See ein. Die Klänge des Gehörten mischten sich mit dem Wellenschlag der eigenen Seele zu einer dunklen Symphonie, In der noch kein Thema, kein Motiv zu unterscheiden, alles nur chaotische Bewegung war. Ehe er sich's versah, hatte er das Dämmer der Schlucht hinter sich und stand dort, wo die schwarze Waldmauer scharf gegen den weichen grünen Wiesenplan abschnitt und der geradeaus ziehende Parkweg das seitwärts sich hinschlängelnde Waldwässerchen verließ, wie zwei Jugend-Kameraden am Kreuzweg sich für immer trennen.

Es war zwischen zehn und elf Uhr vormittags. Der glühende Sonnenball schwamm hoch zu Häupten durch die azurne Ätherflut. Blitzende Lichtpfeile schossen von allen Seiten in Brandstädters Augen und blendeten ihn für eine Weile. Als sich seine Lider wieder öffneten, sah er zu Füßen des Wiesenhanges hingegossen die weite Wasserfläche des Sees, die heute in türkisblauer Seide schillerte. Der Farbenton tat ihm wohl. Dort war Ruhe, Klarheit, Kühlung. Dorthin wollte er.

Er ging den Wiesenhang hinunter zur Bachmulde und überschritt den polternden Holzsteg, auf dem damals Rudolf und Nina einander gegenübergestanden hatten, während er selbst unten am Bachrand die graugrünen Wellen vorüberschießen sah und den Magierstab seines Willens gegen Nina schwang. Wenige Wochen erst seitdem, und wie verändert alles! Ariel hatte seine Freiheit zurück. Prospero war seiner Gewalt, seiner Wunderkraft entkleidet. Ein Jüngerer besaß sie jetzt und zog seine Zauberkreise. Droben auf der Waldbühne. Hatte er nicht soeben ihren Hauch verspürt? Sollte das das Ende sein? Bei lebendigem Leibe gelähmt, entmannt, das Mark ausgesogen? Simson geblendet, gefesselt, in die Mühle gezwängt, und Dalila die willig hingegebene Beute des Andern, von seinem jungen Siegerarm umspannt? Dies das Ende von allem?...

Jenseits des Stegs schlug Brandstädter den links abzweigenden Pfad ein, der längs des Baches in großem Bogen um die Rückseite des Schlosses lief. Hier lagen die Stallungen, die Wirtschaftsgebäude, der Küchengarten. Freilich auch der Tennisplatz, der jedoch unter der brennenden Vormittagssonne wohl unbenutzt war. Brandstädter konnte hoffen, auf diesem Weg zum See niemandem zu begegnen. Geradeaus hätte er vielleicht Ewald oder Sophie oder womöglich Nina selbst getroffen. Das sollte nicht sein. Er wollte mit sich allein bleiben. Keiner sollte ihm jetzt in seine Seele schauen dürfen.

Er schritt rasch weiter. Über eine halbmannshohe Hagebuttenhecke sah man in den verlassenen Wirtschaftshof, über dem es wie Sonntagsfrieden lag. Eine große gelbe Dogge schlief ausgestreckt gerade in der Mitte des Hofs. Die Sprossen eines danebenstehenden Leiterwagens sprenkelten das Fell des Tieres mit ihren Schattenstrichen. Es sah aus, als lauere ein Leopard, den Kopf in die Vorderpfoten geduckt, auf den Augenblick zum Sprung. Kleine Häufchen von Tauben und Hühnern steckten eifrig die Köpfe zusammen und gurrten.

In einem Gärtchen, ein Stück unterhalb, blühten Löwenzahn und hängende Herzchen, leuchtete Phlox in buntem Gemenge, brannte das leidenschaftliche Rot der Fuchsien.

»Aus Urgroßmutters Garten!« dachte Brandstädter. Ganz ähnlich so hatte es im Pfarrgarten von Deutsch-Güldenau geleuchtet und gebrannt. Es war vierzig Jahre her und länger. Es konnte auch hundert Jahre sein. Was ging das ihn an, welcher Art Blumen vor vierzig Jahren in einem fremden, vergessenen Pfarrgarten geblüht hatten! Vielleicht blühten sie noch dort. Warum zertrat man das Unkraut nicht? Wurden nicht auch Menschen immerfort zertreten und mußten es dulden, ganz gleich, ob ihre Zeit um war oder nicht, nur weil neues Unkraut ans Licht wollte, dem zuliebe man das alte ausriß und fortwarf? Aber es gab auch Brennnesseln und Disteln darunter. Hatte nicht der alte Sebastian damals von den Disteln gesprochen, die immer wieder kamen, die sich nicht unterkriegen ließen, die nicht kapitulieren wollten? Wehe der Hand, die unversehens danach griff! Brennesseln und Disteln ließen nicht mit sich spaßen.

Brandstädter lachte grimmig auf und nickte vor sich hin. Die Wirtschaftsgebäude des Schlosses und dieses selbst lagen seitwärts hinter ihm. Auf dem welligen Wiesengrund, der sich vor seinen Schritten zum See hinabsenkte, standen einzelne Silberpappeln und Buchen in Gruppen zu zweien oder dreien. Ihr Ast- und Laubwerk bauschte sich von oben nach unten rund um den Stamm weit auf, so daß es aussah, als hätten sie Krinolinen an oder als hackten Hennen dort und brüteten. Die grüngrauen Wasser des breiten Baches, an dem er entlang ging, glucksten hohl und schienen rascher als oberhalb dahinzuziehen, wie wenn sie die Nähe des Sees, in dem sie ihr Grab finden sollten, bereits ahnten und nicht schnell genug in dem großen Ganzen vergehen könnten. Brandstädter wunderte sich, daß er dies alles sah und hörte. Er kam sich vor wie eine photographische Platte, die jeden Lichtstrahl aufsaugt, aber selbst kalt und ohne Anteil bleibt.

Der Weg teilte sich abermals. Links ging es am Bach weiter, der etwa hundert Schritte unterhalb sich in den See ergoß. Hier stand, nahe der Bachmündung, die Schloßruine der Serbelloni, hoch hinauf bis zu Turm und Zinnen von Efeu umsponnen.

Brandstädter schlug den Pfad ein, der geradeaus zum See und zum Badestrand hinabführte. Wie vertraut ihm hier alles war! Er erkannte den Gittersteg, der ein Stück in den See hinausgebaut war und an dessen Ende die schindelgedeckte Badehütte sich aus dem Wasser erhob. Schon von weitem leuchtete ihm das Feuer der Geranien entgegen, die sich längs des Stegs und rings um das Badehaus rankten. Es war etwas Heiteres, Festliches in ihrem glühenden Rot. Er wußte selbst nicht warum. Aber er erinnerte sich, daß er es schon damals gefunden hatte.

Ja, hier war die Stätte seines Abschieds von Nina, am Abend vor ihrer Hochzeit mit Ewald. Hier und drüben in der Ruine hatte man sich Lebewohl gesagt, während draußen im Mondlicht der Septembernacht der alte Sebastian auf und ab gewandert war wie eine Schildwache aus den Tagen der Serbelloni, die der Tod abzulösen vergessen hatte und die nun ruhelos immer weiter das alte Gemäuer umkreiste.

Wie vertraut alle diese Plätze, obwohl er sie doch kaum mehr als einmal gesehen hatte! Nur eben in jener silberdurchflossenen Herbstnacht, die so ganz verschieden war von dem brennenden Julivormittag heute. Aber er ging seinen Weg hier mit der Sicherheit eines Traumwandlers. Gleich links am Anfang des Stegs das vordere Blockhaus, durch eine Seitengalerie mit dem Steg verbunden, das mußte die Schiffshütte sein. Von dort hatten sie eines der Boote hervorgezogen und waren in die bleiche schwimmende Dämmerung hinausgerudert.

Brandstädter trat auf den Steg und überzeugte sich, daß er recht hatte. Zwar war die Tür des Blockhauses verschlossen, aber man hörte das Klatschen des Wassers drinnen gegen die Bootswände. Er ging langsam, den Kopf auf der Brust, bis zum Ende des Stegs. Ihm war, als wandle er, ein anderer Messias, aber unverstanden und zum Kreuze bestimmt wie jener, über den Wassern und als müßten sie ihn auch über den Steg hinaus bis zum jenseitigen Ufer zu tragen vermögen. Aber hart am Rande des Stegs, dicht über der türkisblauen Flut, die ihn mit einem grünlichen Schimmer etwas tückisch anlächelte, prallte er doch zurück. Es war nichts mit dem Messiastum. Noch haftete das Zentnergewicht der Erdenschwere an ihm. Er erinnerte sich, daß er als Junge so auf eine zu dünne Eisfläche hinausgetreten und bis zum Halse eingebrochen war.

»Ein Prophet, von dem seine Jünger verlangen, daß er zum Beweis der Echtheit auf dem Wasser wandle, und der bei dem Versuch dazu ertrinkt. Welch ein Stoff für eine tragische Groteske!« dachte er. »Es wäre etwas für dich. Nur müßte eine Magdalena dabei sein, die dennoch an den Propheten glaubte. Aber wo findet man sie?« Die Badehütte war ein hübsches quadratisches Blockhaus neben dem Stegende, ähnlich wie die Schiffshütte vorn. Auch hier trat man über eine kleine Seitengalerie, aus der allenthalben die blutenden Geranien quollen, vor die Eingangstür des Baderaums. Seine zwei niedern Fenster, von innen halb mit weißen Gardinen verhängt, gingen seitwärts auf den Steg. Brandstädter drückte aus irgendeinem dummen Gefühl der Neugier, über das er sofort selbst sich ärgerte, von außen den Kopf an die Scheiben, konnte aber in dem grünlichen Dämmerlicht nichts unterscheiden.

Plötzlich hörte er drinnen ein verdächtiges Plätschern und gleich darauf ein leises Lachen. Er fuhr zurück und überlegte, ob er kehrtmachen und seines Weges gehen solle. Aber ehe er sich noch entschieden hatte, rauschte drinnen das Wasser auf, der Leinwandvorhang der Badehütte gegen den See teilte sich und eine anmutige weibliche Gestalt schwamm mit ein paar raschen Stößen zum Steg.

Es war Nina. Brandstädter erkannte sie auf den ersten Blick in ihrem knappen schwarzen Badekostüm mit der kecken kleinen Kappe auf dem blonden Haar, das in dem grellen Sonnenlicht wie ein Gespinst von Gold- und Silberfäden schimmerte. Jetzt hatte sie den Steg erreicht und griff mit beiden Händen nach dem Geländer, um sich hinaufzuziehen. Aber der Versuch mißlang. Sie rutschte an dem glitschigen Holz aus und stürzte mit erhobenen Armen, deren kühles Weiß in der Sonne leuchtete, in die grünblaue Flut zurück. Es war, als kehre eine Seejungfer heim in ihr mütterliches Element.

Brandstädter stand, ohne sich zu rühren, am Absprung des Stegs und starrte auf die Stelle, wo grünliche Schaumwirbel sich über der Untergetauchten kräuselten. Vor seinen Augen schimmerten noch der weiße Nacken mit dem blonden Haargeflimmer und die emporgeworfenen schlanken Arme, die ihm plötzlich die Erinnerung an bacchantische Stunden zurückriefen. Er fühlte sein Blut gären und aufschäumen, wie die smaragdene Flut dort gärte und schäumte, als sie das junge Weib von Kopf bis zu Fuß umschlossen hatte. War es nicht, als sei plötzlich ein Tropfen eines feinen tödlichen Gifts ihm in die Adern geträufelt und dieser eine winzige Tropfen, wie es in den alten Sagen zu gehen pflegt, breite sich mit rasender Schnelligkeit als fressender Brand durch den ganzen Menschen aus?

Nina hatte sich der Umarmung der grünen Tiefe entwunden. Nacken und Arme und das blonde feuchte Haar unter der triefenden kleinen Kappe wurden von neuem sichtbar, während sie näher schwamm und die blitzenden Tropfen mit einer ungestümen Gebärde von sich abschüttelte. »Reiche mir doch die Hand!« rief sie Brandstädter ein Stück weit über das blaugrün schillernde Wasser zu und stieß sich mit den ausgestreckten Beinen ganz nahe heran. »Warum reichst du mir nicht die Hand?«

Brandstädter biß die Lippen zusammen und beugte sich vor. Ninas nasse Hände griffen nach den seinen. Mit einem Ruck hatte er die triefende Last zu sich auf den Steg gezogen. Nina warf sich, klatschnaß wie sie war, der Länge nach auf die sonnenglühende Holzplanke und sah, die Arme unter dem Kopf gekreuzt, mit jenem Gemisch von Ärger und Spott, das er so wohl kannte, zu ihm auf.

»Ich sollte wohl ertrinken? Wasser habe ich schon genug geschluckt! ... Warum sprichst du nicht?«

Brandstädter starrte noch immer wortlos und finster auf sie hinunter. Ihm war, als tanze es ihm vor den Augen. Es mochte ein leiser Schwindel oder so etwas sein. Unwillkürlich griff er mit der Hand nach der Stirn.

»Warum sprichst du nicht?« wiederholte Nina ungeduldig und zappelte mit ihren nackten Beinen, die ein Stückchen über das Stegende hinaushingen, in der Luft herum, wie ein Fisch, der aufs Trockene geraten ist, mit dem Schwanz um sich schlägt.

»Fehlt dir etwas?« fuhr sie nach einem Augenblick fort, indem sie den Schweigenden näher ins Auge faßte. »Du siehst schlecht aus. Ich glaube gar, du wolltest weglaufen? ... Was habe ich dir getan?«

»Daß du da bist ... daß du existierst ... das hast du mir getan!« stieß Brandstädter mit einem heiseren Gurgeln heraus. »Und daß das alles, was da vor mir liegt ... was da atmet und gleißt und lockt ... daß das einmal mir gehört hat ...«

»Weißt du das so gewiß?« warf Nina mit einem unsichern Lächeln ein. »Es ist ja doch schon so lange her. Kann es nicht eine Täuschung sein?«

»Daß das alles einmal mir gehört hat!« gurgelte Brandstädter mit einem Gefühl, als quölle Schlamm und Feuer aus seinem Munde. »Und daß es jetzt einem andern gehört! Nein! Nicht einem! Allen andern! Warum nicht auch mir, du ... du Dirne?!« »Das sind Worte. Ich lache über deine ohnmächtige Wut. Du vergißt deine eigene Lehre. Es gibt keine Dirnen. Es gibt keine Sünde. Es gibt nur Menschen und Menschliches.«

»Doch! Doch! Du bist eine! Wenn je eine war ... Du bist's... Weshalb können dich alle besitzen und ich allein nicht?«

»Warum gabst du mich fort damals? Wenn man etwas fortschenkt, weshalb wundert man sich da, daß man's nicht mehr hat? Vielleicht wollte ich gar nicht fortgeschenkt sein. Vielleicht wäre ich viel lieber geblieben, was ich war. Jetzt ist es zu spät.«

»Ich stoße dich in den See hinunter! Sprich kein Wort mehr!«

»Versuch' es doch! Ich komme immer wieder. Wasser ist mein Element.«

Sie lachte und ließ ihre nackten Füße miteinander spielen. Vor Brandstädters Augen begann es von neuem zu wirbeln. Er sah die wohlgebildeten Waden, die vollen Brüste, den atmenden Leib wie durch einen Nebel.

»Kein Wort weiter!« schrie er. »Ich stürze mich auf dich! Ich vernichte dich!«

Er war einen Schritt näher getreten und schüttelte die geballten Fäuste über ihr, wie wenn er wahrmachen wolle, was er gesagt hatte.

Nina lächelte noch immer ein wenig. Ihre roten Lippen waren leicht geöffnet. Ihre weißen Zähne schimmerten.

»Nun?« sagte sie nach einem Augenblick und erhob ihren Kopf von dem rechten Arm, auf dem er so lange geruht hatte. »Ich warte!«

Brandstädter würgte es an der Kehle, als hätte ihn der plötzliche Griff einer Faust gepackt, um ihn hinabzuzwingen auf dieses blühende Fleisch und es in seinen Armen, unter seinen Küssen zu ersticken. Aber ein letzter Rest von Besinnung, von Stolz – oder war es die alte dumme Scheu des Vernünftlings, des Schulmeisters? – riß ihn zurück. Seine Fäuste entkrampften sich. Der Taumel seiner Sinne wich. Er strich sich langsam, wie erwachend, über die Stirn. Der starke, fast schmerzhafte Druck seiner Finger auf die Stirnhaut tat ihm wohl. Er war wieder er selbst.

»Bleib', die du bist!« sagte er kurz. »Jede Flamme verbrennt nach ihrem Gesetz. Sprenggas ist kein Heizmittel für den Familienbedarf.«

Er wandte den Kopf ab und schritt, ohne sich umzuschauen, langsam über den Steg von dannen.

»Er geht!« dachte Nina. »Soll das ein Abschied sein? Sein Eigensinn übertrifft noch seine Leidenschaft. Ich habe ihn zu schlecht behandelt. Er sieht angegriffen aus. Die Leidenschaft zerfrißt ihn. Er darf nicht so weiterleiden.«

Eine warme Welle des Anteils, des Mitleids für den Führer ihrer Jugend, für den einstigen Meister, für den Mann ihrer holdesten, berauschendsten Zeit durchrieselte sie. Sie sprang mit beiden Füßen zugleich auf und spähte mit vorgehaltenen Händen nach Brandstädter aus. Aber er war fort. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, daß die letzten Tropfen aus ihrem feuchten Haar spritzten, und lief eilends über die kleine Seitengalerie zwischen den rotglühenden Geranien zur Eingangstür der Badehütte.

»Wenn er geahnt hätte, daß die Tür nicht abgeschlossen war!« dachte sie. »Ob er sich wohl hineingetraut hätte? Wer weiß, was geschehen wäre! Ein Glück, daß er es nicht gewußt hat!«

Sie klinkte die Tür auf und schlüpfte hinein. Die kleinen Butzenscheiben der Seitenfenster und der Widerschein des Wassers, das in ruhigen Atemzügen gegen die Badetreppe klatschte, erfüllten den Raum mit einer kühlen, grünlichen Dämmerung. Wie wohltuend das war nach der grellen Juliglut draußen auf dem Steg! Sie streifte das dünne nasse Gewebe ab und stand nackt da. Das aschblonde Haar floß weich und feucht um ihre runden Schultern. Ein paar vorwitzige Sonnenkringel, die sich durch irgendeine Ritze hindurchgezwängt hatten, irrten über ihren Leib, wie zwei neugierige Augen, suchten sich, vermählten sich, trennten sich wieder und vollführten ein anzügliches Treiben. Ninas Blicke glitten an ihrer kühlen glatten Haut herunter und folgten ein Weilchen dem Spiel der beiden sich neckenden Lichter.

Was war das nun, das den Männern so ins Blut ging und sie um den Verstand brachte? Denn das tat es. Sie wußte Bescheid darum seit ihrem achtzehnten Jahr. War es nicht im Grunde bei jeder ihres Geschlechts das gleiche, hier vielleicht eine vollere Brust, dort ein schlankeres Bein, zahllose kleine Unterschiede wohl, aber im Wesen, in dem worauf es ankam, überall das gleiche? Und dennoch siegten die einen wie sie wollten, ohne nur den Finger zu rühren, einfach dadurch, daß sie da waren, daß sie lebten, atmeten, daß so etwas wie ein Strom, wie ein Duft, eine Kraft von ihnen ausging, und die andern ließen gleichgültig und kalt, trotz aller Liebe, aller Glut, aller Sehnsucht, die sie vielleicht im Herzen trugen ... Wohl ihr, daß sie zu den einen und nicht zu den andern gehörte! Aber dennoch ... Woran lag das? War es nicht eine Ungerechtigkeit wie keine andere auf dieser Welt? Und wenn nun diese Ungerechtigkeit sie selbst getroffen hätte?

Noch einmal glitten ihre Blicke an sich selbst, an dieser glatten, kühlen, grünumdämmerten Haut herunter, mit einem merkwürdigen Gemisch von Stolz und Zweifel: Stolz auf sich selbst, auf das was ihr eigen war – Zweifel, warum es gerade ihr und nicht einer andern gehörte, die vielleicht mit viel weniger zufrieden gewesen wäre.

Aber dies war, wie es war. Wie hatte Brandstädter es genannt? Jede Flamme verbrennt nach ihrem eigenen Gesetz.

Sie begann rasch sich anzukleiden. Wieder fiel ihr Brandstädter ein. Es lag so viel Dunkles, Unausgesprochenes zwischen ihnen. Man mußte sich befreien davon. Das ungelebte Leben wollte gelebt sein, wie die ungebornen Kinder ans Licht wollen. Ah! Nur nicht daran denken ...! Es war ein Tag der Entscheidungen heute, am Vorabend ihres Wiegenfestes.

Sie hatte sich nach dem Bade mit Ewald aussprechen wollen. Nun hatte Brandstädter den Vortritt. Das andere danach! Jede Flamme verbrennt nach ihrem Gesetz.

Es fröstelte sie plötzlich. Sie schüttelte es unwillig ab, nestelte vor dem halbblinden Spiegel schnell noch an ihrem Haar, ordnete ein letztesmal die Spitzen des blauen Morgenkleides, und begab sich auf den Weg.


Brandstädter stand auf dem obersten Turmabsatz der Ruine, als er Nina vom Badesteg her sich nähern sah. Er hatte gewußt, daß sie kommen werde. Diesmal war es kein Trugschluß einer fiebernden Phantasie, der die Kraft der Verwirklichung mangelte. Er fühlte, daß er heute stark genug sei, mit dem leisesten Atemzug seines Willens jede Ferne zu durchdringen. Schon als er durch den Tau des jungen Sommermorgens zur Probe von Rudolfs »Jo« wanderte, war dieses Bewußtsein steigender Flut in ihm. Dei Eindruck der Bühnengesichte hatte wie ein Sturm auf See wohl die Wogen aufgewühlt, aber es kam kein Nachlassen hinterher, kein neuerliches Abebben und Verzichten. Gewiß! Alle diese Töne, diese Bilder waren für den ersten Augenblick von einem fremdartigen, aufpeitschenden Reiz. Ein neues, so viel jüngeres Geschlecht kündete auf seine Weise, mit einer bisher nicht gekannten Bildpracht, von seinen Finsternissen, seinen Erschütterungen, seinen Räuschen, ober letzten Endes war es doch nur wieder eine neue Mode, etwas Äußerliches, Angeschminktes, Aufgepfropftes, was da über den wandelbaren Geschmack der Menschheit siegte. Das Wort, der Klang, der äußere Schein wollten wieder einmal für eine Weile herrschen, bis eines Tages auch dies sich überlebt hatte, veraltet schien und dahinsank, um etwas Neuerem Platz zu machen. Dann, aber auch erst dann, mochte ein weiserer Richter, als heute einer lebte, entscheiden, wer dauernder geblieben, Bartholdy oder Brandstädter? Form oder Inhalt? Das Wort oder der Geist? Wer in die Zukunft zu blicken verstand, wußte ihren Spruch voraus.

Brandstädter richtete sich aus seinem inneren Schauen auf. Ein jugendliches Gefühl des Triumphes im Untergehen, sieghaften Weiterdauerns noch über Ruinen, straffte ihm die Sehnen. Er sah mit Traumaugen um sich. War dies nicht wie ein Sinnbild rings um ihn herum? Er stand zwischen den bröckligen Zinnen des morschen, brandgeschwärzten Turms der einstigen Ritterburg: Zermürbtheit, Zeitenfraß, nahender Einsturz, wohin sein Auge blickte, sein Fuß trat, der Ziegelboden ausgehöhlt, durchlöchert, herausgebrochene Zinnen, als ob Zähne eingeschlagen wären, abgewetzte Steinstufen, über die man sich aus dem Zerborstenen Rittersaal herauftasten mußte, leise rieselnder Kalk, ein verdächtiges Wispern und Knistern im Gemäuer, das hungrige Nagen der Vergänglichkeit überall... Und doch! Stand nicht der Turm noch immer unerschüttert in seinen Grundfesten da, trotz Sturm und Regen und Brand, wie zur Zeit der Serbelloni und jener Früheren, lange vorher, von denen kaum eine Kunde mehr sprach? Trotzte er nicht dem allmächtigen Tod und lieh sich Jugend und Hoffnung von dem grünen Efeu, dessen rankende Arme ihn rings umspannen, während er selbst mit wettergefurchter Stirn hinwegsah über die Lande?

Verse von Conrad Ferdinand Meyer fielen dem Sinnenden ein.

Jüngst verlockt es mich im Abendglimmen
Zum Lombardenturm emporzuklimmen ...

Er summte die Worte nach irgendeiner selbsterfundenen Melodie vor sich hin. Ja! Es war wie ein Gleichnis seiner selbst. Auch er solch ein »verschollener Herrscher hier im Gaue«, der die »Ferne noch beherrschte, die blaue!« Seine Blicke gingen über die Turmzinnen fort ins Weite. Dort das samtene Grün des sonnigen Landes, die dunkeln wie hingetuschten Schatten der Wälder, ferne Dörfer, hochgelegene Kirchen, gleich Pünktchen auf der Landkarte, hier zu Füßen das langgestreckte Becken des Sees voll funkelndem Blau, mit den weißen Tupfen der Landhäuser ringsherum, ein Saphir in einer Perlenfassung, drüben am Horizont Zacken, Schroffen, Spitzen, Zinnen, ganz fern und dunstig heute, beinahe eine Fata Morgana, vom aufsteigenden Mittagsgewölk wie in Watte gehüllt...

Dies alles war sein. Alle diese Nähen und Fernen gehörten ihm, sowie der morsche brandzerfressene und dennoch sicher in seinen Quadern ruhende Turm über sie alle hinwegschaute. Ein leiser Schwindel faßte ihn, wie schon vorhin auf dem Badesteg. Er griff nach einem Mauervorsprung, um sich zu halten. Sonderbar daß ihn dies gerade jetzt befiel, wo die Welt und ihre Herrlichkeit ihm zu Füßen lag! Welch ein blutiger Hohn des Objekts! Mit einer Art von Trotz gegen sich selbst, als müsse er sich nun erst recht seine Stärke beweisen, trat er bis dicht an die nächste Zinne und spähte über sie hinweg in die Tiefe. Wo war denn Nina hin verschwunden? Man sah nichts mehr von ihr. Sollte auch hier wieder Einbildung, Blendwerk ihn getäuscht haben?

Plötzlich hörte er ein Geräusch hinter sich und wandte sich um. Nina stand auf der obersten Stufe der im Innern des Turms heranführenden Treppe, gerade im Begriff, durch die offene Luke auf den schmalen Zinnenrundgang hinauszutreten. Ihre Brust ging vom schnellen Steigen in raschen Stößen.

»Ich möchte wissen, wohin man dir noch überall nachlaufen soll!« sagte sie keuchend und holte tief Atem.

»Bist du da?« erwiderte er mit dunkler Stimme.

»Du winktest mir doch heraufzukommen, und da ich mal nett gegen dich sein wollte...«

Sie raffte ihr Kleid über den Knien zusammen und trat vollends auf die Brüstung hinaus, neben Brandstädter hin. Dieser schüttelte den Kopf.

»Ich habe dir nicht gewinkt. Ich stand hier und genoß die Aussicht. Warum kommst du mich stören?«

»Was ist das für ein Unsinn? Ich habe ganz deutlich dein Winken gesehen. Ich glaube, du hattest sogar ein Taschentuch, mit dem du winktest.«

»Die Leitung funktioniert also wieder! Ewald würde sagen, der Funkeninduktor sei eingeschaltet.«

»Laß bitte Hans Lebrecht jetzt aus dem Spiel! Im übrigen gibst du also zu, daß du mir mit dem Taschentuch gewinkt hast? Ich habe doch noch meine fünf Sinne.«

»Ich habe dir mit dem Taschentuch gewinkt. Unsichtbar! Aber geborne Odalisken gehorchen auch dem unsichtbaren Taschentuch.«

Nina starrte ihm halb ärgerlich, halb unsicher ins Gesicht.

»Du scheinst mir gänzlich verrückt!«

Er nickte bestätigend und lachte in seiner kurzen grimmigen Art.

»Vom Mutterleibe an! Und bis in den Sarg!«

Nina war zusammengezuckt.

»Hör auf von Särgen! Ich kann keinen Sarg sehen!« »Den eigenen sieht man ja auch nicht!... Aber irgendwo wächst schon der Baum.«

»Hör auf! Hör auf!« rief Nina und hielt sich die Ohren zu.

Brandstädter faßte ihre Handgelenke.

»Fürchte nichts!« sagte er dicht in sie hinein. »Die Ariels und die Galatheen sterben nicht. Sie kehren höchstens in die Elemente zurück. Es ist ein schmerzloses Vergehen. Nicht so bitter wie bei uns Menschen.«

»Bin ich wieder Galathea?«

»Ariel! Galathea! Nenn' es, wie du willst!«

»Ist meine Zeit nicht vorbei?«

»Prospero ruft sie zurück.«

»Wer das könnte!«

»Ich kann, was ich will! Aber um zu wollen, hab' ich eins nötig.«

»Was?«

»Dich!«

Nina fühlte, wie es ihren Leib überlief. Sie stand dicht vor Brandstädter, der noch immer ihre Handgelenke festhielt.

»Kannst du nicht ohne mich sein?« flüsterte sie mit halb geschlossenen Lidern und lehnte ihren Kopf ein wenig zurück.

»Ich habe es versucht. Drei Jahre habe ich gegen dich gekämpft. Wohin ich griff, griff ich deinen Schatten. Wo ich stand, sahst du mir über die Schulter. Du gingst mit mir des Tags, du schliefst mit mir des Nachts. Dein Schatten trank sich an meinem Blut voll. Jetzt ist es genug!« »Was willst du tun?«

»Was tut man mit seinem Geschöpf? Mit seiner Sache?«

»Und mehr bin ich nicht?«

»Es ist das Höchste, was Galathea sein kann. Unser Rausch! Unser Überfluß! Der Blitz zu unserm Donner?«

Nina richtete sich ein wenig auf und lächelte.

»Aber der Blitz trifft,« sagte sie. »Und der Donner tut nur so.«

Brandstädter durchzuckte es.

»Du... Du... Du Kanaille!« gurgelte er und riß ihren nahen warmen Leib an sich. Sie wehrte sich nicht. Ihre Arme waren heruntergesunken, ihr Kopf zurückgebogen, ihr Mund halb geöffnet. Seine durstigen Lippen suchten wie im Fieber nach diesem Mund, diesen vollen roten Lippen, von denen er so lange nicht mehr getrunken hatte. Nina taumelte in seinen Armen einen Schritt nach rückwärts gegen das Turmgemäuer, aus dessen dichtem Efeugerank der morsche Kalk rieselte und ein paar Dohlen kreischend in die Luft stiegen. Brandstädter achtete es nicht. Er drückte die Hingegebene nur fester gegen die knackende Efeuwand, so daß das grüne Laubgespinst wie ein Bacchantinnenkranz sich um Ninas blonden Scheitel wand, und seine Lippen tranken und tranken.

»Gnade!« stammelte sie nach einer Weile. »Du machst mich ja tot!«

Er preßte sie noch einmal an sich und ließ sie los. Seine Augen versenkten sich in die Linien des schmalen, feinen Gesichts, dessen Blässe jetzt wie von einem warmen innern Lichtschein durchleuchtet schien.

»Wie habe ich auf diesen Augenblick gewartet!« murmelte er.

»Warst du so sicher, daß er kommen würde?« fragte Nina mit einem sonderbaren Lächeln.

»Unbedingt! Ich wußte so gewiß wie mein Leben, daß du einmal zu mir zurückfinden würdest. Wir beide sind wahlverwandt. Solche Stoffe müssen immer wieder zueinander hin.«

Nina neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite und sah zu ihm auf.

»Vielleicht hast du mich nur deshalb fortgegeben? Ich sollte mich nach dir sehnen lernen!«

Brandstädter nickte mit einem kurzen anerkennenden Lachen.

»Du bist nicht umsonst bei mir in die Schule gegangen!«

Nina schwieg, als ob sie über etwas nachsinne. Dann sagte sie, indem sie den Kopf erhob und Brandstädter fest ins Auge faßte:

»Glaube nicht, daß ich dich noch liebe.« »Hast du mich denn jemals geliebt?«

»So anspruchslos?«

»Muß eine Sache den, der sie besitzt, lieben?... Es genügt, daß er sie hat!«

»Du willst mich also durchaus zu deinem Eigentum, zu deiner Sklavin machen?... Darüber lache ich!«

»Lache und gehorche!«

Er faßte von neuem ihr Handgelenk und zog sie bis dicht an den Rand der Turmbrüstung. Sie runzelte die Stirn und folgte widerstrebend. »Ich bin nicht mehr das kleine naive Mädel von einst. Du dichtest dir ein ganz falsches Bild von mir.«

»Der Schleier der Maja! So wie jeder die Welt dichtet, so ist sie.«

»Ich bin sehr ernst geworden in diesen Jahren hier. Unter diesen Bäumen. Ich lasse nicht mehr so einfach über mich verfügen, wie damals im Atelier von Sorgius.«

Brandstädters ein wenig verfallene Gestalt richtete sich auf. Seine schwarzen Augen, die immer etwas von verglimmenden Kohlen hatten, schienen stärker zu brennen.

»Nina!« sagte er. »Der Augenblick ist entscheidend wie wenige im Leben. Blicke da hinaus nach Norden! Von dorther kam ich. Aus den Niederungen, den Nebeln, aus Armut und Dürftigkeit. Was ich bin, verdanke ich mir allein. Der Kraft meines Willens. Meinem heiligen Glauben an mich selbst. Niemand hat mir geholfen. Fast alle sind gegen mich gewesen. Und dennoch stehe ich und sehe das Leben zu meinen Füßen, wie den blauen See hier unter uns, wie die Dörfer, die Landhäuser, die weißen Segelboote. Und jetzt wende deine Augen nach Süden, nach den Bergen hin. Man erkennt nur schwache Umrisse heute, aber sie sind da. Dorthin führt mein Weg. Zu den Höhen, den großen Gipfeln, zu den letzten Einsamkeiten. Ich weiß nicht, ob ich noch stark genug bin, ihn zu gehen. Aber wenn es geschehen soll... ein Geschöpf, ein einziges Wesen brauche ich dazu!«

Er hatte mit dunkler, manchmal stockender Stimme, wie es seine Art war, gesprochen. Jetzt hielt er inne, Ninas Antwort erwartend. Sie hatte aufmerksam zugehört.

»Das bin ich?« fragte sie nach einem Augenblick des Schweigens.

»Das bist du!« erwiderte er und nickte vor sich hin.

»Und daß ich Hans Lebrechts Frau bin und nicht mehr Nina Wagner vom Walhalla-Theater, das vergißt du wohl ganz? Ist das deine Freundschaft für ihn?«

»Wo war denn seine Freundschaft für mich, als er dich mir wegnahm? Er ist kalt wie ein Gletscher und ebenso klug wie kalt. Zwischen uns beiden herrscht das Recht des Stärkeren. Zwischen Freunden herrscht nie ein anderes Recht. Er prahlte gestern, daß er mit dir umgehe, wie mit seinen elektrischen Apparaten, die er ein- und ausschalten kann wie er will.«

Nina war blaß geworden.

»Ihr könnt euch alle in mir täuschen!« rief sie und stampfte mit dem Fuß auf.

»Entscheide dich zwischen uns!« erwiderte Brandstädter.

»Für den einen seine Sache, seine Sklavin!... Für den andern seine Elektrisiermaschine!«

»Besser ein lebendiges begehrtes Weib als eine blinde Naturkraft!«

»Glaube nicht, daß ich dich liebe!«

»Du bist kein Laboratoriumsobjekt. Leben und Tod sind größer als die verstiegensten Experimente.«

Über Ninas bleiche Wangen glitt ein fremdes Lächeln.

»Weißt du, wie mir das vorkommt?« fragte sie.

»? ? ?«

»Als ob das gar nicht wir wären, die hier stehen und das erleben, sondern ganz wer anders.«

Brandstädter nickte.

»Es sind Nachklänge aus früheren Formen unseres Ichs, vielleicht auch Vorahnungen von kommenden.«

»Und soll ich dir sagen, woran es mich erinnert?« rief Nina. »An den Schluß eines Romans, den ich gerade gelesen habe. Da stehen auch zwei so wie wir in einer Entscheidungsstunde hoch oben, nur daß es kein alter Turm ist, sondern eine Dünenklippe steil über dem Meer...«

»Und wie enden die zwei?«

»Er stürzt sie ins Meer hinunter!«

»Sie betrog ihn?«

»Auch das. Und überhaupt aus lauter verrückter Leidenschaft!«

Brandstädter schüttelte den Kopf.

»Ich würde dich nie von diesem Turm oder von einer Meeresklippe hinabstürzen...«

»Wer weiß! Ich wäre nicht die erste, die durch dich zugrundeginge.«

Brandstädters Gesicht verfinsterte sich.

»Wer war es, um deretwillen Gerda starb?«

»Hör auf!« rief Nina, noch um einen Ton bleicher, mit einer abwehrenden Bewegung. »Es ist furchtbar, durch was man alles hindurchgegangen ist, was alles hinter uns liegt! Ich begreife oft gar nicht, wie ich es habe überstehen können, und immer noch lebe und manchmal sogar fröhlich bin.«

Brandstädter faßte mit festem Druck ihre beiden Hände. »Ich würde dich niemals von diesem Turm oder von sonstwo hinunterstürzen. Ich würde immer gemeinsam mit dir gehen.«

Ninas Blicke waren unruhig hin und her gewandert und hafteten jetzt über die Turmzinnen hinweg auf einem Punkt im Park.

»Laß meine Hände los!« sagte sie. »Dort kommt Neubauer. Ich möchte nicht, daß er uns beide hier entdeckt.«

Brandstädter trat einen Schritt zurück.

»Der Weg ist frei. Entscheide dich zwischen Ewald und mir!«

»Aber nicht jetzt!« erwiderte Nina ungeduldig. »Es hat ja doch Zeit.«

»Ich gebe dir bis heute abend Frist.«

»Gut! Erwarte mich um Zehn hier in der Ruine.«

Sie winkte ihm hastig zu und entschlüpfte durch die Treppenluke. Nach ein paar Minuten sah Brandstädter die geliebte Gestalt im hellblauen Morgenkleid unten wieder auftauchen und zwischen den grünen Parkbüschen verschwinden.


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